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Vom Wandel der Parteienstruktur

und ihrer Bedeutung

für die Wohlfahrt der Bevölkerung

(Fortsetzung 1)

 

 

Gliederung:

 

  1. Einführung

  2. Der Wohlfahrtsmaßstab

  3. Mögliche Unterscheidungskriterien der Parteien

  4. Ein Modell der Parteienstärke

  5. Parteienstruktur und Wahlrechtsysteme

  6. Die Bedeutung der Selbstbindung

  7. Schlussfolgerungen

 

 

4. Ein Modell der Parteienstärke

Wir wollen uns in diesem Abschnitt mit der Frage befassen, auf welche Bestimmungsgründe der Wandel in der Stärke einer Partei zurückgeführt werden kann. Wir wollen hierbei davon ausgehen, dass eine Partei das vorrangige Ziel verfolgt, an die Macht zu kommen und dies bedeutet in einer repräsentativen Demokratie, bei den allgemeinen Wahlen zum Parlament die Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinigen und damit das Recht zu erhalten, eine Regierung zu bilden.

Da jedoch im Allgemeinen keine Partei trotz Meinungsumfragen im voraus genau wissen kann, wie viel Wähler sie erreichen kann, sind die Parteien bestrebt, möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen, sie verhalten sich – wie man im Rahmen der ökonomischen Theorie der Demokratie  sagt – als Stimmenmaximierer.

Allerdings hängt die Zielsetzung einer Partei immer auch davon ab, welches Wahlsystem verwirklicht ist. Wir werden weiter unten noch sehen, dass man im Allgemeinen zwischen einem Mehrheits- und einem Proporzwahlrecht unterscheidet. Beim Mehrheitswahlrecht erlangen nur die Kandidaten einen Parlamentssitz, welche in ihrem Wahlbezirk die Mehrheit der Stimmen erreicht haben, während bei einem Proporzwahlrecht jede Partei genau soviel Prozent der Parlamentssitze erreicht, wie sie Stimmenanteile bei der Wahl insgesamt gewonnen hat.

Während das Mehrheitswahlrecht vor allem in Großbritannien und den USA verwirklicht ist, finden wir Proporzsysteme in kontinentaleuropäischen Staaten. In der BRD ist ein Mischsystem realisiert. Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Die erste Stimme fällt wie beim Mehrheitswahlrecht auf den Kandidaten, der in seinem Wahlbezirk die Mehrheit erlangt hat, während die Zweitstimmen wie beim Proporzwahlrecht entsprechend den Stimmenanteilen bei der gesamten Wahl auf die einzelnen Parteien verteilt werden.

Die These, dass nur diejenige Partei die Regierung bilden kann, welche über die Mehrheit der Parlamentssitze verfügt, gilt zunächst nur für das Mehrheitswahlrecht. Das Mehrheitswahlrecht zeichnet sich dadurch aus, dass nur wenige, im Extremfall zwei Parteien um die Macht kämpfen, die eine Partei erringt die Mehrheit und kann eine Regierung bilden, die andere Partei stellt die Opposition im Parlament. Die Regierungen bestehen deshalb auch nur aus einer Partei. Die Folge hiervon ist es, dass eine Partei nur dann die Regierung bilden kann, wenn sich auch die Mehrheit der Wähler für diese Partei entschieden hat. Das System zwingt die Parteien, die Mehrheit bei den Wahlen anzustreben.

Die Situation stellt sich für die Parteien in einem Proporzwahlsystem anders dar. Hier konkurrieren in der Regel sehr viel mehr Parteien um die Wählergunst. Es gibt zwar im Allgemeinen auch eine große Partei oder zwei größere Parteien und zumeist mehrere kleinere Parteien. Es kann jedoch nicht damit gerechnet werden, dass eine Partei bei den Wahlen die Mehrheit der Parlamentssitze erringen kann. Die Partei mit den meisten Wählerstimmen kann deshalb nur dadurch eine Regierung bilden, dass sie mit einer oder auch mehreren kleinen Parteien eine Koalitionsregierung bildet.

Diese Notwendigkeit zur Koalitionsregierung hat jedoch zur Folge, dass eine Partei nicht unbedingt die Mehrheit der Wählerstimmen gewinnen muss, um an der Regierung beteiligt zu werden. Dies bedeutet jedoch, dass eine Partei auch nicht um jede einzelne Wählerstimme kämpfen muss, um an die Macht zu kommen. Natürlich wäre es immer noch für eine Partei am besten, wenn sie als stärkste Partei ins Parlament einzöge und deshalb eine Koalitionsregierung zumindest anführen könnte. Wenn jedoch die Aussicht auf dieses Ziel ohnehin sehr gering ist, ändert sich auch das Kalkül der Parteien.

Stimmenmaximierung bedeutet nämlich in der Regel gleichzeitig, dass man mehrere Bevölkerungsgruppen ansprechen muss, um die Mehrheit der Wählerstimmen zu gewinnen. Keine Bevölkerungsgruppe ist so groß, dass sich eine Partei nur auf eine einzige Bevölkerungsgruppe stützen und fest damit rechnen kann, bei den Wahlen die absolute Mehrheit der Stimmen zu erlangen. Für eine kleinere Partei kann es nun von Vorteil sein, von vornherein lediglich die Interessen einer einzigen, kleinen Bevölkerungsgruppe anzusprechen. Wer mehrere Bevölkerungsgruppen ansprechen will, muss Kompromisse schließen und wer Kompromisse schließt, kann auch nicht die Interessen einer Bevölkerungsgruppe vollständig vertreten.

In diesem Falle muss sich jedoch eine Partei folgendes überlegen. Versucht sie neben der Stammwählerschaft, die aus einer einzigen Bevölkerungsgruppe bestehen kann, weitere Bevölkerungsgruppen anzusprechen, so gewinnt sie zwar in diesen anderen Bevölkerungsgruppen unter Umständen neue Wähler, verliert jedoch gleichzeitig bei der Stammwählerschaft an Stimmen, da annahmegemäß die Interessen dieser Wähler weniger als bisher bedient werden können. Es sind also stets zwei Wanderungen in den Wählerstimmen zu berücksichtigen, wenn eine Partei ihre Strategie verändert, es gibt Wählergewinne außerhalb der Stammwählerschaft und Wählerverluste innerhalb der bisherigen Stammwählerschaft.

Es muss nun im Einzelfall durchaus damit gerechnet werden, dass bei Ansprache weiterer Bevölkerungsgruppen die Wählerverluste größer ausfallen als die möglichen Wählergewinne und es kann deshalb vorteilhaft sein, seine Wahlprogramme möglichst extrem und radikal zu formulieren, um auf diesem Wege möglichst viele der Stammwählerschaft für sich zu gewinnen. Die kleineren Parteien gewinnen so den Charakter einer Interessengruppe, die gar nicht die Absicht hat, die Mehrheit der Wählerstimmen zu gewinnen. Viel wichtiger ist es ihr, an der Regierung beteiligt zu werden und auf diesem Wege die Interessen der vertretenen Bevölkerungsgruppe so weit wie immer möglich zu vertreten. Hierzu bedarf sie jedoch nicht der Mehrheit der Wählerstimmen.

Das Ziel einer kleineren Partei im Rahmen eines Proporzwahlsystems besteht somit nicht so sehr in einer Maximierung der Wählerstimmen der gesamten Bevölkerung. Maximiert werden soll hier vielmehr der Stimmenanteil innerhalb einer klar umgrenzten Interessengruppe.

Wahlen finden in einer repräsentativen Demokratie immer nur im Abstand einiger (4-7) Jahren statt. Wollten die Parteien ihre Machtposition nur am Ausgang der Wahlen messen, könnten sie sich auch nur ein sehr unklares Bild davon machen, wie sich die Wählergunst im Verlaufe einer Regierungsperiode verändert hat, sie wären deshalb auch gar nicht in der Lage, Veränderungen in den Vorstellungen der Wähler so rechtzeitig zu registrieren, um trotz Veränderungen im Wahlverhalten ihre Ziele, die Wahlen zu gewinnen, zu realisieren.

Nun mag dieser Wandel teilweise dadurch verringert werden, dass wir in einem föderativ gegliederten Staat leben, in dem es nicht nur Wahlen zum Gesamtgebilde eines Staates – in Deutschland also auf Bundesebene –, sondern auch Wahlen zu Länderparlamenten, zu Volksvertretungen in Kreisen und Gemeinden gibt und in denen in der Regel die einzelnen Wahlen zu unterschiedlichen Stichtagen stattfinden. Dies hat unter anderem zur Folge, dass die Parteien durch die unterschiedlichsten Wahlen darüber unterrichtet werden, wie sich die Wählergunst während einer Legislaturperiode gewandelt hat. Dieser Wandel hätte zwar keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Regierungstätigkeit, nach wie vor hätte die Regierung eine Mehrheit im Parlament, sie könnte sich aber für die nächsten Wahlen auf die Änderungen im Wahlverhalten besser einstellen und die Gefahr einer Abwahl bei der nächsten Wahl dadurch reduzieren, dass sie ihr Wahlprogramm rechtzeitig abändert.

Nun hat natürlich der Umstand, dass sehr häufig Wahlen stattfinden, auch für die Regierungsfähigkeit negative Folgen. Man findet sich in einem permanenten Wahlkampf und ist deshalb auch nicht in der Lage, unpopuläre, aber durchaus notwendige Maßnahmen sachgerecht durchzuführen. Diese Gefahr ist vor allem bei Koalitionsregierungen besonders groß, da jede Koalitionspartei den Versuch machen wird, ihre Position möglichst klar vom jeweiligen Koalitionspartner abzugrenzen und es deshalb an Kompromissbereitschaft vermissen lässt. Es gibt deshalb auch Vorschläge, die Wahltermine der einzelnen öffentlichen Körperschaften zusammenzulegen.

Es gibt aber weitere Instrumente, durch welche die Parteien über den Wandel in der Wählergunst unterrichtet werden. In den meisten modernen Demokratien finden regelmäßig Meinungsumfragen statt, welche die Parteien und die Öffentlichkeit über den Wandel in den Vorstellungen der Wähler unterrichten. Die einzelnen Parteien erfahren also auch dann, wenn der Abstand zwischen den einzelnen Wahlen recht groß ist, sehr schnell über mögliche Änderungen im Verhalten der Wähler.

Allerdings muss man berücksichtigen, dass Meinungsumfragen kein korrektes Bild über den Wandel im Wählerverhalten zeichnen können. Wiederholt unterschieden sich die Wahlergebnisse gravierend von den vorhergehenden Meinungsumfragen. Mehrere Gründe dürften für diese Unterschiede verantwortlich sein.

Als erstes muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass sich die Wähler erst unmittelbar vor oder sogar bei der Wahl dafür entscheiden, ganz bestimmte Parteien zu wählen. Hier würde der Unterschied damit erklärt werden müssen, dass sich das Wählerverhalten zwischen dem Zeitpunkt, in dem die letzte Meinungsumfrage vor der Wahl durchgeführt wurde und dem Zeitpunkt der Wahl selbst verändert hat. Die Meinungsumfragen vermittelten also hier im Zeitpunkt der Umfrage ein durchaus korrektes Bild über das Wählerverhalten.

Zweitens muss man sich darüber im Klaren sein, dass aus der Sicht des Befragten ein großer Unterschied zwischen der Antwort bei einer Umfrage und dem tatsächlichen Verhalten bei der Wahl besteht. Bei der Wahl entscheidet der Wähler letztendlich darüber, ob die bisherige Regierungspartei nach wie vor an der Regierung bleibt oder ob die bisherige Opposition die Regierung übernehmen kann. Diese Folgen sind bei einer Meinungsumfrage nicht zu erwarten. Wenn ein Befragter sich bei einer Meinungsumfrage gegen die Partei ausspricht, die er im Allgemeinen wählt, so hat dies keine unmittelbaren Folgen für die Machtposition dieser Partei. Aber die negativen Äußerungen des Befragten können als Denkzettel verstanden werden, um die Politiker dazu zu bewegen, Änderungen in ihren Programmen vorzunehmen.

Der bei einer Meinungsumfrage Befragte gibt der Partei seiner Wahl kund, dass er nur dann bei der nächsten Wahl seiner Partei treu bleibt, wenn sie besser als bisher seinen Interessen entspricht. In diesem Falle kann der Unterschied zwischen Meinungsumfragen und Wahlausgängen nicht darauf zurückgeführt werden, dass sich das Wahlverhalten zuletzt noch verändert hat oder dass die Umfrage ein falsches Bild vermittelt hat. Der Befragte will mit seinen Äußerungen bei der Umfrage im Grunde nicht die bisherigen regierenden Politiker abwählen, sondern sie nur zu einer Änderung ihrer Politik veranlassen.

Drittens schließlich kann unter gewissen Umständen die Meinungsumfrage tatsächlich ein falsches Bild über die Verteilung der Wählergunst auf die einzelnen Parteien vermitteln. Um dies zu verstehen, muss man sich darüber klar werden, auf welchem Wege die Institute, welche eine Umfrage durchführen, zu ihren Ergebnissen kommen. Bei einer Meinungsumfrage können niemals alle Wähler befragt werden, schon aus Kostengründen muss unter den Wahlberechtigten eine Auswahl von einigen wenigen Prozenten vorgenommen werden. Diese Auswahl kann jedoch nur dann repräsentativ sein, also ein Abbild der tatsächlichen Stimmenverteilung abgeben, wenn entweder – bei einer sehr großen Stichprobe – die Auswahl vollkommen willkürlich erfolgt oder wenn jedes Merkmal, aufgrund dessen die Wähler ihre Entscheidungen treffen, mit dem gleichen Prozentsatz wie bei der tatsächlichen Wahl in der Stichprobe vertreten ist.

Wenn nun die Umfragen diesem zweiten Schema folgen, muss von einer vorgegebenen, bisher gültigen Merkmalsverteilung ausgegangen werden. Man berücksichtigt hierbei z. B., dass sich Frauen anders als Männer, ältere Wähler anders als jüngere Wähler, Arbeiter anders als Angestellte oder Beamte usw. verhalten. Nun können sich jedoch aufgrund demographischen Wandels diese Strukturen verändern, so kann z. B. der Anteil der älteren Wähler ansteigen oder aber das Wahlverhalten einer Bevölkerungsgruppe wie z. B. der Arbeiter kann sich grundsätzlich verändert haben. Solange diese Veränderungen in der Struktur der Merkmale bei den Umfragen nicht registriert und damit berücksichtigt wurden, müssen notwendigerweise die Ergebnisse der Meinungsumfragen ein falsches Bild vom tatsächlichen Wählerverhalten übermitteln.

Unsere bisherigen Überlegungen bezogen sich auf den Erfolg der Parteien bei den Wahlen sowie bei der Regierungsbildung. Wir wollen hierbei vom Output sprechen und diesen den Input-Faktoren gegenüberstellen, welche letztlich für diesen Erfolg verantwortlich sind. Wir interessieren uns hierbei vor allem an dem Zusammenhang, der zwischen Output und Input besteht.

Wenn wir einen Vergleich mit wirtschaftlichen Problemen heranziehen, können wir diese Beziehungen mit einer Produktionsfunktion vergleichen, welche aufzeigt, wie der unternehmerische Ertrag vom Einsatz der Produktionsfaktoren: Arbeit, Kapital und Produktionstechnik abhängt. Auch für den Erfolg einer Partei bedarf diese sowohl ihrer Mitglieder als auch der Verfügung über Geldmittel. Die Stärke einer Partei lässt sich somit auch an den Inputfaktoren messen, also daran, über wie viel Mitglieder und über wie viel Geldmittel eine Partei verfügt.

Befassen wir uns zunächst mit dem Beitrag der Mitglieder zum Erfolg einer Partei. Eine Aufgabe der Mitglieder einer Partei besteht erstens darin, Spitzenpolitiker zu den anstehenden politischen Wahlen zu nominieren. Der demokratische Charakter einer Partei kann nun daran gemessen werden, inwieweit mehrere Kandidaten für diese Parteiämter zur Wahl stehen oder ob bei der Nominierung immer nur ein Kandidat zur Wahl aufgestellt wird.

Gerade in dieser Frage mangelt es zahlreichen Parteien, die ansonsten sehr wohl bei ihren politischen Außenaktivitäten demokratische Spielregeln beachten. Es besteht vor allem bei größeren Parteien eine bürokratische Organisation, welche nicht nur die Beschlüsse der Parteigremien in die Tat umsetzt, sondern gleichzeitig Einfluss auf das Geschehen der Parteien nimmt und vorschlägt, welcher Politiker als einziger nominiert werden soll.

Gerechtfertigt wird ein solches Verhalten zumeist mit dem Hinweis, dass die Partei bei den anstehenden Wahlen zu den Parlamenten nur dann Erfolg haben wird, wenn sie sich den Wählern als geschlossene Organisation präsentiere und jede Uneinigkeit vermeide. Es schade der Partei, wenn sich mehrere Kandidaten bei der Nominierung aufstellen.

Diese Argumente überzeugen nicht. Dieses Argument ließe sich ja auch auf den Wahlprozess übertragen und in der Tat versuchen Diktatoren genau mit diesem Argument die Abschaffung demokratischer Spielregeln und eines Wettbewerbes der Politiker zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil zu diesen antidemokratischen Auffassungen haben wir davon auszugehen, dass sich das Gemeinwohl gerade dadurch durchsetzt, dass ein Wettbewerb zwischen den einzelnen Politikern um die Wählergunst stattfindet. Dies gilt auch auf Parteiebene.

Politische Ämter verleihen stets Macht und überall dort, wo Macht entsteht, besteht auch die Gefahr des Machtmissbrauches. Dieser Machtmissbrauch kann am ehesten dann verhindert oder zumindest reduziert werden, wenn die Politiker nur dann an die Macht kommen, wenn sie bereit sind, solche Maßnahmen durchzuführen, die der Mehrheit der Wähler zugutekommen.

Eine solche Kanalisation zwischen den Eigeninteressen der Politiker und dem Gemeinwohl ist jedoch am ehesten garantiert, wenn zwischen den Politikern ein starker Wettbewerb um die höchsten politischen Ämter besteht. Diese Überlegungen gelten natürlich nicht nur für die Wahlen zum Parlament, sondern sind genau so gültig für den Nominierungsprozess innerhalb der Parteien. Auch hier gilt: Die Chance, dass die Führungskräfte einer Partei auch wirklich die Meinung ihrer Mitglieder repräsentieren, ist dann am größten, wenn sie aus einem vor der Nominierung stattfindenden Wettbewerbsprozess hervorgegangen sind.

Der Nominierungsprozess bedarf genauso wie der Wahlprozess zum Parlament der Einhaltung bestimmter Spielregeln. Das Recht zur Teilnahme an der Nominierung der Spitzenkräfte muss z. B. für alle gleich sein.

Eine weitere zweite Aufgabe der Mitglieder einer Partei besteht in der Mitwirkung bei der Aufstellung der Partei- und Wahlprogramme. Wir hatten weiter oben bereits gesehen, dass sich eine Partei unter anderem dadurch definiert, dass sie sich von ganz bestimmten Leitbildern leiten lässt und ganz bestimmte politische Ziele verfolgt. Diese Leitbilder und Ziele gehen in die Partei- und Wahlprogramme ein, wobei sich die Parteiprogramme zumeist auf die grundsätzlichen Ziele, die Wahlprogramme hingegen auf die kurzfristig anstehenden Maßnahmen beziehen. Zu den Spielregeln einer demokratischen Partei gehört es nicht nur, dass die Mitglieder ihre Parteiführer wählen, sondern dass sie auch an der Meinungsbildung der Partei beteiligt werden.

Diese Beteiligung kann einmal darin bestehen, dass in parteiinternen Diskussionen um unterschiedliche Ziele und deren Gewichtung sowie um die geeigneten Methoden zur Umsetzung dieser Ziele gerungen wird, zum andern darin, dass die Beschlussfassung der Programme von den Mitgliederversammlungen vorgenommen wird.

Die Komplexität der anstehenden politischen Probleme bringt es natürlich mit sich, dass es insbesondere bei der Frage, mit welchen Mitteln bestimmte Grundziele angegangen werden, der Mithilfe von Sachverständigen bedarf. Der Vorstand einer Partei wird die konkreten Programme von einem Sachverständigenausschuss ausarbeiten lassen, wobei diesen Gremien von den Vorstandsmitgliedern mehr oder weniger bindende Vorgaben gemacht werden. Auf der Grundlage dieser Vorschläge der Sachverständigen wird dann der Vorstand Beschlüsse fassen, die er zur Abstimmung den Mitgliederversammlungen vorlegt.

Der konkrete Beitrag eines einfachen Parteimitgliedes kann sich dann in der Tat oftmals darauf beschränken, dass es dieser Diskussion beiwohnt, ohne aktiv in die Diskussion einzugreifen und schließlich an der Abstimmung zum Abschluss der Diskussion teilnimmt. Wichtig für den demokratischen Charakter einer Partei ist nicht so sehr die Frage, ob sich auch fast alle Mitglieder an dieser Diskussion aktiv beteiligen und eigene Beiträge beisteuern, sondern allein, dass sie das Recht und die Möglichkeit haben, in diese Diskussionen einzugreifen, falls sie mit bestimmten vorgetragenen Auffassungen nicht übereinstimmen.

Natürlich bedarf es auch bei der Erfüllung dieser zweiten Aufgabe der Einhaltung gewisser Spielregeln. Im Allgemeinen gilt es zwar als Recht eines jeden Parteimitgliedes, an der Willensbildung teilzunehmen und durchaus auch andere Meinungen zu vertreten als die Mehrheit der Mitglieder, vor allem der Meinung des Parteivorstandes zu widersprechen. Wenn jedoch einmal auf demokratische Weise über die anstehenden Fragen in einer Abstimmung entschieden wurde, habe der einzelne auch die Pflicht, die Beschlüsse zu akzeptieren, auch dann, wenn einzelne Mitglieder vor der Abstimmung andere Auffassungen vertreten hatten.

Eine solche Vorgehensweise ist einmal aus Gerechtigkeitsgründen geboten. Die Gleichheit aller Parteimitglieder ist nur garantiert, wenn jedes einzelne Mitglied das Recht hat, sich entsprechend seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten am Willensbildungsprozess zu beteiligen. Gleichzeitig würde es aber dem Ansehen und den Erfolgsaussichten der Partei nach außen zuwiderlaufen, wenn auch nach einer demokratisch erfolgten Abstimmung unterschiedliche Auffassungen in den anstehenden und beschlossenen Fragen nach wie vor vertreten würden und wenn einzelne Teilgruppen um eine andere Lösung weiterkämpfen würden.

Dass innerhalb einer Partei vor der Beschlussfassung unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, schadet hingegen im Allgemeinen dem Wohl der Partei nicht. Ganz im Gegenteil wird man sogar davon ausgehen können, dass lebhafte Diskussionen vor einer Abstimmung einer Partei nützen. Man kann nämlich nicht davon ausgehen, dass es von vornherein auf der Hand liegt, wie ein neu entstandenes Problem am sachgerechtesten zu lösen ist. Stets sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Es bieten sich zumeist mehrere Alternativen zur Lösung eines Problems an. Es gibt kaum eine Lösung, die im Hinblick auf alle angestrebten Ziele einer Partei als förderlich angesehen werden kann.

Ganz im Gegenteil wird man erwarten müssen, dass nahezu jede zur Diskussion stehende Alternative im Hinblick auf bestimmte Zielsetzungen hinderlich ist. Es gilt also im Rahmen einer offenen Diskussion alle möglichen Auswirkungen der anstehenden Alternativen aufzudecken und diese Aufgabe gelingt in der Regel um so besser, je lebhafter eine Diskussion geführt wird und je mehr zu Beginn der Diskussion unterschiedliche Positionen vertreten werden.

Eine dritte Aufgabe der Parteimitglieder besteht darin, die Beschlüsse der Partei nach außen zu tragen und dazu Sorge zu tragen, dass möglichst viele Wähler von den beschlossenen Lösungen überzeugt werden. Eine Aufgabe eines Parteimitgliedes besteht also auch darin, für die Partei und für die angestrebten Maßnahmen in der Bevölkerung zu werben. Hierbei geht es einmal darum, bei den Diskussionen außerhalb der Partei an einem Strang zu ziehen und die offiziellen Lösungsvorschläge der Partei zu unterstützen, auch dann, wenn der eine oder andere vor der Abstimmung anderer Meinung war. Zum andern sollte durch aktive Teilnahme am Willensbildungsprozess in der Bevölkerung dazu beigetragen werden, dass auf Bedenken der Wähler eingegangen wird und dass auf diese Weise ein Abwandern von bisherigen Wählern zu anderen Parteien verhindert wird bzw., dass auch neue Wähler erschlossen werden.

Welches Verhalten wird nun von denjenigen Parteimitgliedern erwartet, welche sich bei den Abstimmungen nicht mit ihren eigenen Auffassungen durchgesetzt haben. Sollen auch sie sich hinter die Beschlüsse der Partei stellen und diese unter Umständen gegen eigene Bedenken befürworten? Ist es erlaubt, dass sie ihre eigenen Einwendungen bei den Wählern kundtun, dürfen sie sogar offen gegen die Parteibeschlüsse opponieren?

Es dürfte sicherlich nicht zu bestreiten sein, dass einer Partei nicht mehr schadet als Uneinigkeit. Wiederholt wurden Wahlniederlagen in der Vergangenheit damit erklärt, dass viele Wähler darüber unklar waren, ob eine Partei in der Lage sei, geschlossen bestimmte Änderungen durchzuführen. Andererseits lässt sich jedoch auch beobachten, dass Wähler Kandidaten abwählen, wenn sie keine klare Auffassung zeigen, wenn sie heute das und morgen jenes vertreten. Wähler honorieren vielmehr ein durchgehend konsequentes und in sich schlüssiges Verhalten. Sie sind von jenen Kandidaten, welche in der Vergangenheit bestimmte Konkurrenten um die Macht als vollkommen ungeeignet erklärt haben, nun aber plötzlich nach der Nominierung ihres parteiinternen Gegners diesen mit den höchsten Worten loben, nicht überzeugt.

Ähnliches gilt mutatis mutandis für einen Meinungswandel in Sachfragen. Wenn sich  ein Parteimitglied vor einer Abstimmung vehement gegen bestimmte Lösungen ausspricht und überzeugende Argumente vorgetragen hat und nun nach einer Abstimmung in der Partei genauso energisch für die bisher bekämpfte Alternative eintritt, so bleibt er gegenüber den meisten Wählern unglaubhaft, wenn es ihm nicht gelingt, überzeugend aufzuzeigen, warum er nun die bisher angelehnten Lösungen für richtig hält.

In diesem Zusammenhang wäre es für den Wahlerfolg einer Partei sicherlich sehr viel nützlicher, wenn das überstimmte Parteimitglied zwar nicht offen gegen die Parteibeschlüsse opponiert, trotzdem aber seine Haltung gegenüber den Wählern kundtut und klar macht, dass es in keiner Partei Lösungen geben kann, die von allen Parteimitgliedern 100%ig für richtig angesehen werden, dass die Realität immer Kompromisse notwendig macht.

Parteischädlich ist in diesem Falle nicht etwa die Offenheit und Ehrlichkeit des überstimmten Parteimitgliedes als vielmehr die offensichtliche Unfähigkeit der Mehrheit und des Parteivorstandes, ihre Position so zu vertreten, dass auch die bisherigen Gegner dieser Lösung innerhalb der Partei von der Richtigkeit dieser Alternative und von der Unterlegenheit der überstimmten Lösungen überzeugt wurden.

Nun müssen wir natürlich bedenken, dass immer mit der Möglichkeit gerechnet werden muss, dass Lösungen, welche im Zeitpunkt der Abstimmung von der Mehrheit der abstimmenden Parteimitglieder als bestgeeignete Alternative gehalten wurde, sich aufgrund gewisser Änderungen als ungeeignet erweisen und dass deshalb auch eine Korrektur der Beschlüsse notwendig erscheint.

Solche Änderungen können sich erstens darauf beziehen, dass sich die Gesellschaft, in der wir leben, selbst verändert hat. Nehmen wir einmal an, dass ein bestimmter Parteibeschluss darin bestand, ein Beschäftigungsprogramm aufzulegen, mit dessen Hilfe die Arbeitslosigkeit vermindert werden kann. Wir wollen nun unterstellen, dass aus welchen Gründen auch immer ein beachtlicher Aufschwung der Konjunktur eingetreten sei und dass deshalb die Arbeitslosigkeit stark zurückgegangen sei. Es sollte klar sein, dass es in einer solchen Situation auch keines staatlichen Beschäftigungsprogrammes bedarf, dass also auch ein neuer Parteibeschluss notwendig wird.

Wir wollen zweitens unterstellen, dass sich zwar die Konjunkturlage nicht verändert hat, dass aber von Seiten eines dieser Partei nahestehenden Wissenschaftlers eine neue Alternative entwickelt wurde, mit deren Hilfe man die Arbeitslosigkeit sehr viel effizienter als mit den bisher in Aussicht genommenen Beschäftigungsprogrammen bekämpfen könnte. So könnte die Partei bisher von keynesianischen Modellen ausgegangen sein und die neu diskutierte Alternative bestünde darin, dass man über Einführung einer allgemeinen Gewinnbeteiligung den Beschäftigungsgrad sehr viel effizienter als mit den traditionellen Beschäftigungsprogrammen bekämpfen könnte. Bekanntlich hatte Martin Weitzman in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts nachzuweisen versucht, dass über eine Gewinnbeteiligung die Nachfrage der Unternehmungen nach Arbeitskräften entscheidend erhöht werden könnte.

Bringen wir ein weiteres Beispiel aus der allgemeinen Politik. Vor der letzten Hessenwahl legten sich die meisten Parteien fest, mit welchen anderen Parteien sie eine Koalition eingehen möchten und mit welchen anderen Parteien sie auf keinen Fall koalieren werden. Nun hatten die Wahlergebnisse eine Situation herbeigeführt, aufgrund derer die in Aussicht gestellten Koalitionen unmöglich wurden. Es wurde deshalb notwendig, die Beschlüsse über die möglichen Koalitionsbildungen, die vor der Wahl gefasst worden waren, zu überdenken und zu korrigieren.

Es ist allerdings etwas anderes, ob man nach der Wahl mit einer Partei zusammengeht, welche nicht die erste Wahl darstellt oder ob man mit einer Partei eine Koalition eingeht, von der man vor der Wahl eine Koalition vollkommen ausgeschlossen hatte. Eine Koalitionsbildung, die vor der Wahl ausgeschlossen wurde, wäre ein Vertrauensbruch gegenüber den Wählern, während eine nicht ausgeschlossene, aber auch nicht angekündigte Koalition im Grunde genommen nur den Wählerwillen ausführt, der durch sein Verhalten eben die in Aussicht genommenen Koalitionen unmöglich machte.

Drittens muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass die Beschlüsse einer Partei auf fehlerhaften Annahmen beruhten und dass diese fehlerhaften Annahmen in der Zwischenzeit offengelegt werden konnten. Nehmen wir an, dass die Partei bei ihren Beschlüssen von der Annahme ausging, dass die Arbeitslosigkeit vorwiegend auf konjunkturelle Gründe zurückzuführen sei, dass aber im Nachhinein eindeutig von unabhängigen Wissenschaftlern nachgewiesen worden sei, dass die augenblickliche Arbeitslosigkeit auf vorwiegend strukturelle und nicht konjunkturelle Ursachen zurückgeführt werden müsse.

Die Volkswirtschaft habe z. B. geboomt, auf den Gütermärkten hätten sich durchgehend Nachfrageüberhänge eingestellt und der Aufschwung auf den Gütermärkten habe sich jedoch nicht auf die Arbeitsmärkte ausgebreitet. Nach allgemeinem Verständnis bedarf es aber anderer Maßnahmen, wenn die Arbeitslosigkeit struktureller und nicht konjunktureller Natur ist. In der Tat wird diese These von der strukturellen Verursachung der Massenarbeitslosigkeit seit etwa den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Rahmen der Hysterese-These vertreten.

Sowohl im Hinblick auf die Teilnahme am Nominierungsprozess wie vor allem an der Diskussion über Sachfragen ist der Anteil eines jeden einzelnen Parteimitgliedes vor allem von der Größe einer Partei – gemessen an der Mitgliederstärke – abhängig. Eine volle Teilnahme an den Abstimmungen kann eigentlich nur in sehr kleinen Parteien mit einigen wenigen Mitgliedern erfolgen. Übersteigt die Mitgliederzahl eine kritische Größe, muss die Parteiorganisation in regionale Untergliederungen (Gemeinde, Länder, Bund) unterteilt werden, an den Beratungen in den regional höchsten Gremien können nur noch Delegierte teilnehmen, während sich die aktive Teilnahme der einfachen Parteimitglieder ohne eigenes Amt innerhalb der Partei dann darauf beschränkt, in personeller Hinsicht die Delegierten zu wählen und in sachlicher Hinsicht an vorbereitenden Diskussion im regionalen Verband teilzunehmen, wobei diese Gespräche vor allem dazu dienen, den Delegierten und dem Parteivorstand die Auffassungen an der Basis zu vermitteln.

Eine vierte Aufgabe eines Parteimitgliedes besteht darin, dass es über Mitgliedsbeiträge zur Finanzierung der Ausgaben einer Partei beiträgt. Da die Mitgliedsbeiträge nicht die einzige Finanzierungsquelle darstellen, wollen wir nun im Folgenden die möglichen Finanzierungsquellen einer Partei gesondert diskutieren.

Eine Partei kann die Finanzierung ihrer Ausgaben grundsätzlich auf dreierlei Weise vornehmen. Neben den bereits genannten Mitgliedsbeiträgen kann eine Partei zweitens über Spenden ihre Finanzierungsmittel aufstocken. Drittens schließlich erhalten die Parteien, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, vom Staat pro – bei der vorhergehenden Wahl erreichten – Wählerstimme einen bestimmten Geldbetrag zur Bestreitung der notwendigen Ausgaben im Zusammenhang mit den allgemeinen Wahlen zu den Parlamenten.

Ausgaben entstehen den Parteien in vielfältiger Weise. Sowohl der Nominierungsprozess als auch das Aufstellen von Parteiprogrammen sowie die vor einer Wahl notwendige Propaganda in der Bevölkerung sind mit Kosten verbunden. Vor allem dann, wenn eine Partei eine Mindestgröße erreicht hat, bedarf es einer bürokratischen Organisation, um die einzelnen anstehenden Aufgaben vorzubereiten, sowie die Beschlüsse der Parteigremien auszuführen. Es müssen die Delegierten und Mitglieder vor einer Versammlung angeschrieben werden, die Delegierten benötigen für die Teilnahme an diesen Beschlüssen aufklärendes Material, das ihnen die Teilnahme an diesen Versammlungen ermöglicht, es müssen Versammlungsräume angemietet werden. Weiterhin wird Geld benötigt, um die Bevölkerung von den Zielen und Aktivitäten der Parteien zu unterrichten und um die öffentlichen Medien (Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen) auf die Partei aufmerksam zu machen.

Der Anteil dieser drei Finanzierungsquellen an den Gesamtausgaben ist von Partei zu Partei unterschiedlich. Es gibt Parteien, welche sich vorwiegend über Mitgliedsbeiträge finanzieren und andere, welche ihre Ausgaben vor allem durch Spenden abdecken. Parteien, welche ihre Stammwähler bei den Arbeitnehmern und den Empfängern geringeren Einkommens haben, finanzieren sich zumeist vorwiegend aus Mitgliedsbeiträgen, sie haben geringere Aussichten auf größere Spenden, da ihre politischen Leitbilder eher darauf abzielen, Umverteilungen zu Lasten der Unternehmungen und der Empfänger höherer Einkommen zu verfolgen. Die Arbeiterparteien hatten deshalb in der Vergangenheit zumeist auch sehr viel mehr Mitgliede als die anderen Parteien.

Umgekehrt gilt, dass Parteien, welche Selbständige (den Mittelstand) als Stammwähler haben, zumeist über weniger Mitglieder verfügen. Damit ist auch der Anteil der Mitgliedsbeiträge an den Gesamtausgaben sehr viel geringer. Aber gerade deshalb, weil sie die Interessen auch der Empfänger höheren Einkommens vertreten, sind die Aussichten, einen großen Teil der Ausgaben über Spenden zu finanzieren, auch dementsprechend groß.

Nun entspricht es den Grundzielen einer Demokratie, dass alle Parteien, sofern sie Ziele verfolgen, welche mit der Idee einer Demokratie vereinbar sind, auch möglichst gleiche Wahlchancen aufweisen sollten, es widerspricht demokratischer Zielsetzung, dass die Chancen, bei den Wahlen zu gewinnen, um so geringer sind, je mehr diejenigen Bürger angesprochen werden, welche die Interessen der geringsten Einkommensklassen vertreten.

Gerade aus dieser Überlegung heraus wurde schon recht bald nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein Gesetz verabschiedet, das im Grundsatz jeder Partei aus Steuermitteln eine Wahlkampfkostenerstattung gewährt, um eine gewisse Startchancengleichheit aller Parteien zu gewährleisten und um gleichzeitig die Abhängigkeit der Parteien von den potentiellen Spendern zu reduzieren.

Abgeordnete sollten auf der einen Seite in einer Demokratie nur ihrem Gewissen und nicht den Interessen einzelner Spender verantwortlich sein. Auf der anderen Seite sind im Allgemeinen Interessengruppen nur dann zu großzügigen Spenden bereit, wenn sie auch erwarten können, dass die Parteien auch den Interessen dieser Gruppen nicht zu widerhandeln. Es ist klar, dass beide Grundsätze in einem Widerspruch stehen, der zumindest bei einer staatlichen Ausgabenpauschale vermindert wird.

Nun würde es allerdings dem Prinzip der Chancengleichheit auch wiederum widersprechen, wenn jede Partei unabhängig von ihrer Größe einen gleichhohen Geldbetrag zur Finanzierung der bei der Wahl entstehenden Kosten erhalten würde. Es ist klar, dass die großen Parteien auch sehr viel höhere Ausgaben im Zusammenhang mit den Wahlen haben werden als kleine Parteien. Aus diesem Grunde koppelt man den Umfang dieser Pauschale daran, wie viel Wählerstimmen eine Partei bei der letzten Wahl erreichen konnte. Pro erzielte Stimme bei der letzten Wahl wird einer Partei ein Geldbetrag zur Verfügung gestellt.

Auch diese Regelung entspricht nicht unbedingt allen Gerechtigkeitsvorstellungen. Es wird hier ja nach der Maxime gehandelt, wer bisher erfolgreich war, dem wird auch die Möglichkeit eingeräumt, in Zukunft erfolgreicher zu sein. Dies bedeutet, dass vor allem neue Parteien, welche bisher noch an keiner Wahl beteiligt waren, leer ausgehen und somit benachteiligt werden. Man mag in einer solchen Regelung die Gefahr sehen, dass eine schnelle Anpassung an politischen Datenänderungen behindert wird.

Der eigentliche Grund für diese Regelung lag jedoch darin, dass kleinere Parteien eher zu radikalen Aktivitäten neigen und dass man auf diese Weise (wie auch mit der Bestimmung der Sperrklausel) verhindern wollte, dass die demokratische Ordnung durch Aufkommen radikaler Parteien in ihrer Stabilität bedroht wird.

Wenden wir uns nun der Frage zu, auf welchem Wege die Parteien ihr Ziel, bei den Wahlen zu gewinnen und die Regierung zu bilden, zu erreichen versuchen. Zwei Fälle lassen sich hierbei unterscheiden. Eine Partei kann bisher dieses Ziel bereits erreicht haben und deshalb die bisherige Regierung gebildet haben. Trotzdem kann diese Partei in aller Regel die Hände nicht in den Schoß legen und die nächsten Wahlen ohne weitere Anstrengungen abwarten, es besteht zumeist ein harter Wettbewerb der Parteien um die Wählerstimmen.

Die bisherige Regierungspartei muss immer befürchten, dass aus den unterschiedlichsten Gründen Wähler zu den Oppositionsparteienabwandern, sei es dass die Wähler mit der vergangenen Tätigkeit der Regierung unzufrieden war, sei es dass sich die politischen und gesellschaftlichen Daten so gewandelt haben, dass alle Parteien auf diese Änderungen reagieren müssen, sei es schließlich dass neue Parteien ihnen die Vormachtstellung streitig machen bzw. die bisherigen Konkurrenten aufgrund größerer Anstrengungen in der Wählergunst gewonnen haben.

Der zweite Fall, den es zu untersuchen gilt und der sich vom ersten unterscheidet, besteht darin, dass eine Partei bisher in der Opposition war, vielleicht an der 5%-Klausel gescheitert war und deshalb dem bisherigen Parlament noch gar nicht angehörte oder schließlich zum ersten Mal bei den Wahlen antritt. In all diesen Fällen sind die Parteien bestrebt, ihren Stimmenanteil zu vergrößern, da sie nur auf diese Weise gewählt werden, ins Parlament einziehen können und die Regierungsgeschäfte übernehmen können.

In dem ersten Fall geht es also primär darum, den bisher erreichten Wähleranteil zu halten, im zweiten Fall soll jedoch der Wähleranteil erhöht werden. In gewisser Weise können natürlich für eine Partei auch beide Fälle relevant sein. Es ist durchaus möglich, dass eine Partei bei den bisherigen Wahlen die Mehrheit der Stimmen erreicht hat und Regierungspartei war, trotzdem aber einen Zuwachs der Wählerstimmen anstrebt.

So besaß die Regierungspartei vielleicht bisher nur die einfache Mehrheit, sie benötigt jedoch zur Realisierung ihrer Ziele eine Zweidrittelmehrheit, weil zur Lösung der anstehenden Probleme eine Änderung der Verfassung (des Grundgesetzes) notwendig ist. Oder aber die Mehrheit im Parlament war hauch dünn und die Regierungsparteien mussten in permanenter Furcht leben, wegen Zufälligkeiten – wie z. B. Krankheit einiger Abgeordneter – die Abstimmungen im Parlament zu verlieren.

Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass eine Partei bisher zwar der Regierung angehörte, aber als Juniorpartner agierte und deshalb die Regierung nicht anführte; hier kann das Bestreben dieser Partei darin liegen, stärkste Regierungspartei zu werden. Oder aber schließlich besteht die Möglichkeit, dass eine Partei zwar bisher stärkste Regierungspartei war und somit den Ministerpräsidenten (Bundeskanzler) stellte, aber nun das Bestreben hat, als einzige Partei zu regieren, um die eigenen Parteiprogramme in Reinheit durchsetzen zu können und um damit keine Kompromisse mit anderen Parteien eingehen zu müssen, welche ihre zukünftige Position bei den Wählern schwächen können.

Es gibt also zahlreiche Gründe, weshalb alle Parteien, Regierungs- wie Oppositionsparteien, weiterhin bisher bestehende und neu entstandene Parteien Anstrengungen unternehmen, um Wähler hinzugewinnen. Gleichzeitig steht auch jede Partei vor der Notwendigkeit, auf Änderungen in den politischen Daten zu reagieren und damit zu verhindern, dass der Stimmenanteil bei den Wählern sogar sinkt.

Wenn wir auch weiter unten sehen werden, dass in beiden Fällen (im Bestreben nach Stimmenzuwachs sowie nach Vermeidung von Stimmenverlusten) ähnliche Aktionen notwendig werden, so bestehen doch zwischen beiden Zielsetzungen beachtliche Unterschiede. Der wichtigste Unterschied besteht in der Motivation zur Aktion. Für eine Partei, welche bisher die Wahlen verloren hat, vielleicht sogar an der 5%-Klausel gescheitert und deshalb im Parlament gar nicht vertreten war, ist es eine Frage des politischen Überlebens, neue Wähler hinzuzugewinnen.

Eine Partei, die es auch nach mehrfachen Anläufen nicht schafft, ins Parlament zu kommen, wird nicht mehr ernst genommen und läuft gerade deshalb Gefahr, von der politischen Bildfläche ganz zu verschwinden. Auch Parteien, die über längere Perioden hinweg nur eine Oppositionsrolle erfüllen, werden für die Wähler uninteressant, da sie nicht damit rechnen können, dass diese Parteien irgendetwas bewegen werden. Politischer Misserfolg erzeugt weiteren Misserfolg.

Befassen wir uns im weiteren Verlauf dieser Abhandlung etwas ausführlicher mit den möglichen Reaktionsweisen auf politische Datenänderungen. Wir können hierbei vor allem zwischen drei unterschiedlichen Datenänderungen unterscheiden. Eine erste Möglichkeit einer Datenänderung, auf die eine Partei reagieren muss, besteht darin, dass aus demographischen oder anderen Gründen, die Stammwählerschaft zurückgeht und die Partei deshalb unter dem Zwang steht, diesen drohenden Stimmenverlust dadurch wettzumachen, dass sie neue Wählergruppen an­spricht.

So rekrutierte sich z. B. die sozialdemokratische Partei lange Zeit vor allem aus Industriearbeitern. Durch den Wandel von einer Industriegesellschaft zu einer Dienstgesellschaft sinkt der Anteil der Industriearbeiter, der Anteil der im Dienstleistungssektor beschäftigten Arbeitnehmer steigt an. Diese Arbeitnehmergruppe hat jedoch ganz andere Probleme als die Industriearbeiter, auch sprechen die Rituale, welche die Industriearbeiter an eine Arbeiterpartei gebunden haben, die Arbeitnehmer aus dem Dienstleistungssektor bei weitem nicht mehr an.

Eine zweite politische Datenänderung kann darin bestehen, dass sich die Probleme, welche es politisch zu lösen gilt, grundlegend gewandelt haben und dass aus diesen Gründen die Parteiprogramme an diese veränderte Situation angepasst werden müssen. Gerade die Naturkatastrophen der letzten Jahre haben z. B. darauf aufmerksam gemacht, dass gewaltige politische Anstrengungen gemacht werden müssen, um die Voraussetzungen für ein Überleben unserer gesellschaftlichen Ordnung zu ermöglichen.

Man hatte erkennen müssen, dass die bisherige industrielle Produktionsweise den Bestand unserer marktwirtschaftlichen Ordnung bedroht, einmal deshalb, weil sie in der Vergangenheit einen Raubbau mit den knappen Rohstoffen betrieben hat und sich nicht rechtzeitig für die nachhaltige Entwicklung neuer Rohstoffquellen bemüht hat, zum andern deshalb, weil die mit der industriellen Produktionsweise verbundene Vergiftung der Umwelt die Atmosphäre zerstört hat und damit ein Überleben unserer Gesellschaft in Frage stellt.

Die Wirtschaftswissenschaft hat schon sehr früh (Pigou 1912) auf diese Problematik aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass wir nur dann von einer befriedigenden Lösung der wirtschaftlichen Probleme sprechen können, wenn bei der Produktion alle Kosten, welche der Volkswirtschaft entstehen, auch von den Produzenten getragen werden, wenn deshalb auch alle diese Kosten in den Güterpreis Eingang finden und die Konsumenten deshalb in der Lage sind, sich für die Güter zu entscheiden, bei denen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ein Optimum erzielt wird.

In Wirklichkeit ist jedoch davon auszugehen, dass vor allem wegen einer unbefriedigenden Eigentumsordnung nicht alle einer Volkswirtschaft entstehenden Kosten in die Güterpreise eingehen, also den Charakter externer Kosten aufweisen und auf diese Weise eine optimale Allokation der natürlichen Ressourcen verhindern. Pigou hatte auch schon mit dem Vorschlag einer Umweltsteuer Wege aufgezeigt, wie externe Kosten internalisiert werden können und auf welchem Wege somit die Gefahren externer Kosten vermieden werden können.

Die Diskussion um diese Pigousteuer hat allerdings gezeigt, dass es bessere Wege gibt, externe Kosten zu internalisieren. Da das Auftreten externer Kosten vor allem im Zusammenhang mit der natürlichen Umwelt letztendlich darauf zurückgeführt werden muss, dass die Natur als freies Gut behandelt wird, obwohl die Benutzung der Natur zahlreiche gesamtwirtschaftliche Kosten verursacht, liegt in der Schaffung von Umweltzertifikaten der eigentliche Weg aus dem umweltpolitischen Dilemma.

Obwohl also die eigentlichen Ursachen der heutigen Umweltkatastrophe von der Wirtschaftswissenschaft schon sehr früh erkannt worden waren, ist diese Gefahr erst in den letzten Jahrzehnten politisch aufgedeckt worden. So entstand zunächst einmal eine neue Partei, die Grünen, die sich das Ziel setzten, die Umwelt vor einem Kollaps zu bewahren. In der Zwischenzeit ist die umweltpolitische Bedrohung so stark in das allgemeine Bewusstsein der Bevölkerung gerückt, dass sich keine Partei mehr erlauben kann, von den umweltpolitischen Problemen keine Kenntnis zu nehmen. Jede größere Partei sieht sich veranlasst, Vorschläge zur Rettung der Umwelt zu entwickeln.

Eine dritte mögliche Datenänderung, auf die Parteien reagieren müssen, liegt darin, dass neue Parteien auftreten und damit für die bereits bestehenden Parteien die Gefahr bringen, bisherige Wähler an  diese neuen Parteien zu verlieren. Wie groß diese Gefahr für die einzelnen Parteien in Wirklichkeit ist, hängt entscheidend davon ab, welche Bevölkerungsgruppen von diesen neu entstehenden Parteien besonders angesprochen werden, ob es genau die Bevölkerungsgruppen sind, die auch bereits zur Stammwählerschaft einer anderen Partei gehören.

Befassen wir uns mit dem Ziel einer Partei, neue Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, etwas ausführlicher. Als erstes müssen wir uns – wie bereits erwähnt – darüber klar werden, dass von fast allen Maßnahmen, welche Parteien planen, nicht nur Stimmengewinne, sondern auch zumeist Stimmenverluste ausgehen können. Eine geplante Änderung im Verhalten der Parteien wird also nicht immer zu einem Anstieg in der gesamten Wählerstimmenzahl führen, auch dann nicht, wenn durch bestimmte Aktivitäten neue Wähler hinzugewonnen werden. Eine Partei muss also vor jeder grundsätzlichen Änderung ihres Partei- und Wahlprogrammes eine genaue Analyse über die möglichen Stimmengewinne, aber auch Stimmenverluste durchführen.

Natürlich kommt es in erster Linie darauf an, welche konkreten Maßnahmen geplant werden, ob es auf diesem Wege tatsächlich gelingt, die Stimmenzahl für eine einzelne Partei zu vergrößern. Betrachten wir hierzu einige mögliche Maßnahmenkomplexe. Die Parteien können die Interessen einer Bevölkerungsgruppe dadurch ansprechen, dass sie Maßnahmen der Einkommensumverteilung durchführen. Ex definitione gibt es in diesem Zusammenhange Personengruppen, die Einkommensgewinne und andere, die Einkommensverluste erleiden.

Die Wohlfahrtstheorie hat sich nun mit der Frage befasst, unter welchen Bedingungen denn Umverteilungsmaßnahmen zu einer gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtssteigerung führen. Man ging hierbei davon aus, dass der Nutzenzuwachs, die eine zusätzliche Einkommenseinheit stiftet, mit wachsendem Einkommen zurückgeht, man unterstellt also das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen des Einkommens. Diese Gesetzmäßigkeit bringt es mit sich, dass der Reiche, der im Rahmen einer Umverteilung durch Besteuerung Einkommen verliert, weniger Nutzenverluste erleidet, als derjenige, der von dieser Maßnahme profitiert und Nutzengewinne erzielt. Also wird ein Abbau in den Einkommensunterschieden zwischen Reich und Arm in der Regel zu einer Wohlfahrtssteigerung per Saldo führen.

Wir wollen nun unterstellen, diese Unterschiede in den Nutzenveränderungen bei Reich und Arm führten auch dazu, dass die Wahrscheinlichkeit eines Wählerwechsels aufgrund einer Umverteilung bei den Armen größer ist als bei den Reichen und dass deshalb Umverteilungsprozesse zugunsten ärmerer Einkommensschichten auch per Saldo zu Stimmengewinnen führen. Es kommt noch hinzu, dass eine Umverteilung von Reich zu Arm im Allgemeinen weniger Reiche belastet als sie Arme begünstigt. Mit der Besteuerung eines einzelnen Millionärs oder sogar Milliardärs lassen sich nämlich die Einkünfte mehrerer Armer erhöhen.

Wenn diese Annahme richtig ist, so müsste eigentlich eine repräsentative Demokratie zu einer Nivellierung neigen, da alle Politiker davon ausgehen könnten, dass sie über Umverteilungsprozesse von Reich zu Arm Stimmengewinne erzielen könnten. Politiker, von denen wir im Rahmen der ökonomischen Theorie der Demokratie unterstellen, dass sie ihre Wählerstimmen zu maximieren versuchen, müssten also bestrebt sein, durch Umverteilungsmaßnahmen von diesen Möglichkeiten auch Gebrauch zu machen.

Allerdings konnte diese These empirisch nicht betätigt werden. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass repräsentative Demokratien eine höhere Nivellierung aufweisen als Diktaturen. Man erklärte sich diesen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis damit, dass die politischen Entscheidungen in einer repräsentativen Demokratie nicht nur durch die Wählerstimmen, sondern auch durch die Aktivitäten der Interessengruppen beeinflusst werden, dass sich aber nicht alle Interessengruppen in gleichem Maße organisieren lassen. Trotzdem wird man nachwievor vermuten können, dass die Abwanderungen zu anderen Parteien aufgrund von Umverteilungsprozessen bei den Ärmeren häufiger erfolgt als bei den Reichen.

Wenden wir uns einem zweiten Maßnahmenkomplex zu. Man könnte von der Vorstellung ausgehen, dass dann, wenn die Politiker vorwiegend wachstumspolitische Maßnahmen planen, diese mit keinen Stimmenverlusten zu rechnen hätten. Eine genauere Analyse der wachstumspolitischen Maßnahmen zeigt jedoch, dass von diesen Maßnahmen keinesfalls alle Wähler profitieren werden, dass es immer Bevölkerungsschichten geben wird, die von einer wachstumspolitischen Maßnahme einen Schaden erleiden. So bestehen wachstumspolitische Maßnahmen oftmals darin, dass besonders wachstumsträchtigen Unternehmungen Subventionen gewährt werden. Dies führt dazu, dass sich die Wettbewerbsposition der begünstigten Unternehmungen verbessert, die der nicht begünstigten Unternehmungen jedoch gleichzeitig verschlechtert.

Allenfalls dann, wenn die wachstumspolitischen Maßnahmen in allgemeinen Steuerreduzierungen bestehen, könnte man vielleicht davon ausgehen, dass fast alle Unternehmungen und indirekt damit auch fast alle in diesen Unternehmungen beschäftigten Arbeitnehmer Nutzen aus diesen Maßnahmen ziehen könnten. Aber selbst hier ist davon auszugehen, dass eben nicht alle Bevölkerungsgruppen hiervon begünstigt werden, dass es z. B. Arbeitslose gibt, welche aufgrund von Kürzungen des Arbeitslosengeldes Verluste erleiden.

Die Änderungen, die eine Partei plant, um neue Wählerschichten anzusprechen, können natürlich auch darin bestehen, dass sie bestimmte in der Vergangenheit verfolgte Leitbilder aufgibt, da sie der Auffassung ist, dass die anzusprechenden Wählerschichten von andern Leitbildern geleitet werden. Wir erwähnten bereits weiter oben, dass sich die Arbeitnehmer in den neuen Dienstleistungsunternehmen in ihrer grundsätzlichen Einstellung von den Industriearbeitern unterscheiden.

So hat sich die SPD in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg von gewissen sozialistischen Ideen abgewandt und Gedankengänge, welche von neoliberalen Wissenschaftlern entwickelt wurden, übernommen. Auch hier wird man davon ausgehen können, dass die Erfahrungen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit den kommunistischen Staaten gemacht wurden, dazu beigetragen haben, dass auch in weiten Kreisen der Arbeitnehmer typisch sozialistische Parolen nicht mehr ziehen. Trotzdem gilt auch hier, dass die ideologischen Änderungen einer Partei nicht nur zu Stimmengewinnen, sondern immer auch zu Stimmenverlusten führen werden, da es immer Wähler geben wird, die in sozialistischen Gedankengängen erzogen wurden und nicht bereit sind, diese Vorstellungen aufzugeben.

Weiterhin gilt es zu bedenken, dass es sich bei all diesen Maßnahmen um Aktivitäten handelt, die unter Unsicherheit erfolgen. Keine Partei weiß genau, wie sich ihre geplanten Maßnahmen auf die Wähler auswirken werden. Die Parteien können zwar durch Meinungsumfragen die Vorstellungen der potentiellen Wähler erkunden. Gerade die jüngste Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass Meinungsumfragen nicht immer ein wahres Bild über die Meinung der Bevölkerung widerspiegeln, wir haben bereits weiter oben über die möglichen Ursachen dieser Abweichungen gesprochen.

Ob bestimmte Maßnahmen zu dem erhofften Stimmengewinn führen, hängt auch davon ab, inwieweit die Parteien Wählerschichten anzusprechen versuchen, welche auch von andern Parteien bereits angesprochen werden. Wir wollen hierbei zwischen drei Fällen unterscheiden. Fall 1 liege vor, wenn bei dem Versuch, neue Wähler zu gewinnen, keinerlei Konkurrenz zu anderen Parteien besteht und wenn auch nicht zu befürchten ist, dass eine neue konkurrierende Partei in naher Zukunft entstehen wird. Fall 2 sei eine Situation, in welcher zwar noch keine alternative Partei in dem anzusprechenden Spektrum besteht, in welcher jedoch durchaus die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass eine solche Partei in naher Zukunft gegründet wird. Fall 3 schließlich sei dadurch gekennzeichnet, dass in dem Spektrum, das eine Partei neu oder auch nur verstärkt anzusprechen versucht, bereits eine andere Partei agiert.

 Nehmen wir als erstes Beispiel die CDU, welche in ihren Programmen auch Wähler anspricht – so wollen wir einmal unterstellen –, welche im äußersten rechten Wählerspektrum angesiedelt sind. Die CDU ginge davon aus, dass es auch aus allgemein politischen Überlegungen heraus besser wäre, auch diese Schichten anzusprechen, um sie auf diese Weise in unsere Gesellschaft zu integrieren. Wir wollen weiterhin unterstellen, dass keine Konkurrenz zu rechtsradikalen Parteien bestehe und dass auch die Gefahr gering sei, dass solche Parteien in naher Zukunft bei Wahlen als Konkurrenten auftreten, weil sie aufgrund eines verfassungsfeindlichen Verhaltens verboten seien. Dies entspricht zwar nicht der heutigen Situation, aber vor einigen Jahrzehnten waren die damals bestehenden rechtsradikalen Parteien vom Verfassungsgericht verboten worden.

Da wir also in diesem ersten Fall unterstellen, dass die CDU bei diesen neu anzusprechenden Wählerschichten keine Konkurrenz zu befürchten habe, bestehen auch große Chancen, neue Wähler zu gewinnen, ohne dass die Partei ihre Programme so stark verändern muss, dass sie größere Verluste in der Mitte der Wählerschaft befürchten muss.

Nehmen wir als zweites Beispiel die SPD, die aufgrund ihrer vergangenen Wählerverluste bemüht ist, Wähler links von ihr verstärkt an sich zu binden. Allerdings ist die neue Partei der Linken bereits in diesem Spektrum angesiedelt. Da also zwischen beiden Parteien bereits eine Konkurrenzsituation besteht, steht die SPD vor folgendem Dilemma: Entweder macht sie einen sehr starken Ruck nach links, gewinnt hierdurch zwar einige neue Wähler, riskiert hierbei jedoch starke Wählerverluste im mittleren Bereich, in dem sie ja auch vor allem mit der CDU in Konkurrenz steht. Oder aber sie vollzieht nur einen leichten Ruck nach links, um nicht zu viele Wähler im mittleren Feld zu verärgern, hat jedoch gerade aus diesen Gründen nur eine geringe Chance, im linken Feld neue Wähler hinzuzugewinnen.

Betrachten wir diese Situation aus der Sicht dieser neu angesprochenen Wähler links von der bisherigen SPD. Wir wollen hierbei zwischen Wählern unterscheiden, welche bisher gar nicht zu den Wahlen gegangen sind und solchen Wählern, welche bisher die Partei der Linken gewählt haben.

Der Entschluss, im Gegensatz zu früher nun zur Wahl zu gehen, bedarf zwar einer gewissen Überwindung, die Kosten für diese Entscheidung sind jedoch relativ gering, da die Beteiligung bei den Wahlen einem Wähler nur sehr geringe, kaum zu berücksichtigende Wahlkosten verursacht. Spricht somit die SPD stärker als bisher diese Wählerschichten mit neuen Maßnahmen zugunsten dieser Bevölkerungsgruppe an, so liegt es durchaus im Interesse der Angesprochenen, diese Partei zu wählen, jede noch so kleine Nutzensteigerung bedeutet ja einen Nutzenzuwachs. Allerdings hängt die Frage der Wahlbeteiligung auch davon ab, ob diese Wähler der zu wählenden Partei gewisse Aussichten geben, dass diese Partei die Wahlen gewinnt oder zumindest als mögliche Oppositionspartei einen gewissen Einfluss auf die politischen Verhältnisse nehmen kann.

Ganz anders stellt sich die Situation dar bei den Wählern, die bisher die bereits bestehende Partei – in unserem Beispiel also die Partei der Linken – gewählt haben. Der Entschluss, eine Partei zu wechseln, ist mit sehr viel höheren (vor allem immateriellen) Kosten verbunden als überhaupt zu wählen, zumeist verbindet ein Wähler bestimmte innere Werte mit seiner bisherigen Partei, er ist Teil einer informellen Gemeinschaft und teilt als solcher gemeinsame Abende und Erlebnisse, die er aufgibt, wenn er die Partei wechselt. Dies gilt vor allem dann, wenn er nicht nur bei der Wahl seine bisherige Partei aufgibt, sondern auch Parteimitglied war  und aus der bisherigen Partei austritt.

Es gilt aber auch in abgeschwächter Form für Stammwähler, die keiner Partei angehören. Vor allem gilt es zu bedenken, dass der einzelne Wähler ja nicht nur der informellen Gruppe der Partei angehört hat, dass er es oftmals z. B. am Arbeitsplatz nach wie vor mit den gleichen Kollegen zu tun hat, die ihn nun unter Umständen als Verräter an der gemeinsamen Sache ansehen und ihn meiden.

Zwar wächst der Wähler durch den Eintritt in eine andere Partei auch wiederum in eine neue informelle Gemeinschaft herein, die Gefühle der Gemeinsamkeit und Geborgenheit, also der politischen Heimat wachsen jedoch erst langsam heran. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass Newcomer von einem Teil der bisherigen Parteimitglieder an der Basis argwöhnisch beäugt werden und nicht die Anerkennung finden, die sie eigentlich erhalten sollten. Die Vorgänge bei dem Versuch Metzgers, der von der Partei der Grünen zur CDU überwechselte und in einem Wahlbezirk für die CDU zu kandidieren, machen deutlich, wie stark solche Strömungen sein können.

In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Moment von Bedeutung. Parteien, welche den Versuch unternehmen, Wähler diesseits der Mitte anzusprechen, jedoch nachwievor beanspruchen eine Volkspartei zu bleiben, haben immer einen gewissen Nachteil gegenüber radikalen Parteien, welche lediglich eine eng umgrenzte Bevölkerungsschicht ansprechen. Gerade weil die Volksparteien auf die Interessen der Bevölkerungsschichten in der Mitte des Parteienspektrums Rücksicht nehmen müssen, sind sie niemals in der Lage, den Interessen und Auffassungen der Wähler an den Rändern dieses Spektrums genauso stark und pointiert zu entsprechen, wie dies die radikalen Parteien können.

Es besteht dann immer die Gefahr, dass eine solche Volkspartei aufgrund ihrer Bemühungen mehr Wähler und Parteimitglieder im mittleren Feld verliert als sie an den Rändern dieses Spektrums hinzugewinnt. Denn auch im Mittelfeld steht ja eine Volkspartei fast immer in Konkurrenz mit andern Parteien. Eine Partei ist also gut beraten, wenn sie ihre Versuche, an den Rändern des Spektrums neue Wähler zu finden und dadurch die Gesamtstimmenzahl zu erhöhen, bereits zu einer Zeit beginnt, in der sich an den jeweiligen Rändern noch keine neue Partei etabliert hat. 

 

Fortsetzung !