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Zur These von der sozialen Schieflage

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung

2. Zum empirischen Befund

3. Absoluter versus relativer Maßstab

4. Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens bei Egalität

5. Gründe für Vermögensdifferenzierung

 

 

1. Einführung

 

Seit einiger Zeit mehren sich die Berichte, dass in der BRD auf der einen Seite die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich gerade in den letzten Jahren beängstigend vergrößert habe und dass diese soziale Schieflage nur behoben werden könnte, wenn auf der einen Seite ein für die gesamte BRD und in allen Branchen geltender gleicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werde und wenn auf der anderen Seite die Vermögenssteuer wiedereingeführt und der Spitzensteuersatz in der Einkommenssteuer drastisch erhöht werden würde.

 

Besonders deutlich habe sich diese Schieflage beim Nettovermögen der Deutschen, das sich insgesamt auf mehr als zehn Billionen Euro beläuft, entwickelt. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung teilten sich in der Zwischenzeit ein Prozent des gesamten Vermögens, während die oberen zehn Prozent mehr als die Hälfte des Nettovermögens aller Deutschen besäßen.

 

So erhebt z. B. die Nationale Armutskonferenz an  die Regierung gerichtet den Vorwurf, dass Armut in der BRD nicht entschieden genug bekämpft werde. 14 bis 16 Prozent der Bevölkerung hätten als arm zu gelten, das heißt  etwa 11,5 und 13 Millionen Personen. Es wird von einem Skandal gesprochen, da sich die Zahl der Armen auf einem so hohen Niveau eingependelt habe. Diese Schieflage sei dadurch möglich geworden, dass Niedriglöhne erlaubt seien und dass der Hartz-IV-Regelsatz die Mindesteinkünfte auf sehr niedrigem Niveau festlege. Es wird auch davon gesprochen, dass diese Armut politisch gewollt sei.

 

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, möchte ich zu Beginn meiner kritischen Anmerkungen zu diesen Feststellungen betonen, dass auch ich die Bekämpfung von Armut zwar nicht als das einzige, aber doch als eines der wichtigsten Ziele jeder Sozial- und Gesellschaftspolitik halte. Diese Überzeugung sollte uns jedoch nicht davon abhalten, bei der politischen Bekämpfung der Armut zunächst nach den Ursachen der Armut zu fragen, denn nur in diesem Falle sind wir in der Lage, Armut wirksam zu bekämpfen. Soziale Missstände lassen sich immer nur wirksam beseitigen, wenn man die Ursachen des Übels kennt und Maßnahmen ergreift, welche auch im Hinblick auf diese Ziele wirksam sind. Auch muss stets wie bei jeder politischen Maßnahme überprüft werden, inwieweit durch bestimmte politische Maßnahmen andere genauso wichtige Ziele der Gesellschaftspolitik verletzt werden. Guter Wille im Sinne einer Gesinnungsethik reicht in unserer globalen und komplexen Gesellschaft nicht aus, es bedarf stets im Sinne einer Verantwortungsethik der Suche nach den geeigneten Mitteln.

 

Bei der Diskussion über politische Ziele gilt es zwischen der Ebene der Ziele und der Realisierung dieser Ziele durch politische Mittel zu unterscheiden. Bezogen auf das Ziel der Armutsbekämpfung dürfte ohnehin zwischen den großen Parteien in der BRD keine gravierenden Unterschiede bestehen. Unser Grundgesetz garantiert das Recht auf Menschenwürde und die Menschenwürde setzt unter anderem auch voraus, dass jeder Bürger über ein Minimum an Einkünften verfügt, die zum Überleben unerlässlich sind. Das Grundgesetz legt auch fest, dass die Menschenwürde unantastbar ist und dies bedeutet, dass dieses Recht auch dann nicht zugunsten anderer Rechte beschnitten werden darf, wenn es zu einem realen Konflikt zu anderen Grundrechten unserer Verfassung kommt.

 

Es ist wenig hilfreich, dem jeweiligen politischen Gegner zu unterstellen, dass er gar nicht bereit sei, das Ziel der Armutsbekämpfung anzustreben. Auf der einen Seite ist es gar nicht möglich, die wahren Absichten der einzelnen Politiker zu enthüllen, wir können nicht in die Seele eines Menschen schauen, auf der anderen Seite kommt es in unseren modernen komplexen Gesellschaftssystem auch gar nicht primär auf die letztlichen Motive an, welche die einzelnen Politiker bewegen. Wir müssen damit rechnen, dass jemand im Streben nach politischen Zielen  nicht erfolgreich ist, auch dann nicht, wenn er guten Willens ist und umgekehrt kann eine Person, auch dann, wenn sie sich primär vom Eigenwohl leiten lässt, trotzdem wesentlich mehr zum Allgemeinwohl beitragen als derjenige, welcher sich primär von altruistischen Zielsetzungen leiten lässt. Entscheidend ist allein, ob bestimmte politische Aktivitäten tatsächlich zum Erfolg führen, dies ist jedoch in erster Linie eine Frage der geeigneten Maßnahmen und nicht der moralischen Einstellung, mit der ein Politiker seine Ziele verfolgt.

 

Dem politischen Gegner, der andere Maßnahmen zur Lösung politischer Probleme vorschlägt, böse Absichten zu unterstellen, ist auch deshalb unerwünscht, da es nun einmal unser Wahlrecht in aller Regel notwendig macht, dass Parteien sich zu einer Koalition zusammenschließen. Bei wechselnden Mehrheiten wird diese notwendige Zusammenarbeit erheblich erschwert, wenn man die Politiker in gute und böse Menschen einteilt, wobei selbstverständlich die eigene Partei zu den Guten und der politische Gegner zu den Bösen gezählt wird. Alles spricht jedoch dafür, dass es in jeder größeren Gruppe stets moralisch verantwortungsvolle Personen gibt, dass aber auch in jeder größeren sozialen Gruppe Personen mit fragwürdigen moralischen Standards agieren. Diese Feststellung ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass aufgrund der Komplexität unserer Gesellschaftssysteme die Auswahl der Führungskräfte nach Kompetenz und eben nicht nach deren moralische Haltung, also nach der Fähigkeit erfolgt, bestimmte Aufgaben erfolgreich durchführen zu können. Die Kompetenz eines Politikers besteht dann darin, Kompromisslösungen zu finden und durchzusetzen, welche mehrheitsfähig sind und zu Erfolgen bei den Wahlen führen.

 

Im Kampf um die beste Methode zur Lösung eines politischen Problems reicht es vollkommen aus, dass man von den Zielsetzungen ausgeht, welche die politischen Parteien formulieren, um ihre Politik zu verteidigen und dass man aufzuzeigen versucht, ob die vorgeschlagenen oder durchgeführten Maßnahmen wirklich geeignet sind, das genannte Ziel zu realisieren. Es ist für die Realisierung des Gemeinwohls gar nicht notwendig, auf die letztlichen Motive der Politiker einzugehen und diese gegebenenfalls zu brandmarken.

 

 

2. Zum empirischen Befund

 

Es scheint mir auch nicht eindeutig, ob der empirische Befund tatsächlich belegt, dass sich der Differenzierungsgrad der Erwerbsvermögen auf lange Sicht entscheidend vergrößert hat. Im Jahre 1968 veröffentlichten Wilhelm Krelle, Johannes Schunck und Jürgen Siebke die wohl erste größere empirische Untersuchung über die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland. Danach waren 1,7 Prozent der Bevölkerung in Besitz von mehr als 70 Prozent des Produktivvermögens. Damals wurde ebenfalls schon in diesem Zusammenhang von einem sozialen Skandal gesprochen.

 

Wir müssen uns darüber klar werden, dass die Verteilung der Erwerbsvermögen ähnlich wie die Verteilung der Einkommens auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen konjunkturellen Schwankungen unterliegt, wobei nicht nur die mittelfristigen, von Juglar entdeckten Konjunkturschwankungen von etwa 8 bis 10 Jahren, sondern auch die langfristigen, von Kondratief beschriebenen konjunkturellen Schwankungen mit einer Dauer von 40 bis 50 Jahren angesprochen sind. Die Ersparnis aus dem laufenden Einkommen ist jedoch die wichtigste Quelle für einen Zuwachs im Erwerbsvermögen.

 

Hierbei gilt, dass sich die konjunkturellen Schwankungen der Einkommensquoten unmittelbar auch in Schwankungen der Anteile am Erwerbsvermögen niederschlagen. Wenn sich die Gewinnquote konjunkturell bedingt erhöht, erhalten die Gewinnempfänger automatisch die Möglichkeit, mehr zu sparen und damit Vermögen anzulegen, der Anstieg der Sparsummen dieser Bevölkerungsgruppe wird sogar überproportional ansteigen, da ja der Konsumstandard bereits so hoch ist, dass durch Ausweitung der Konsumnachfrage kaum mehr nennenswerte Nutzensteigerungen erzielt werden können.

 

Umgekehrt gilt für die Arbeitnehmer in den mittleren und unteren Einkommensklassen, dass dann, wenn die Einkommen konjunkturbedingt sinken, die Ersparnisse überproportional zurückgehen. Man ist nicht bereit, bei einem Absinken des Einkommens auf einen bisher erreichten Konsumstandard zu verzichten, reduziert deshalb die Ersparnisse überproportional. Oftmals ist es kurzfristig auch gar nicht möglich, die Raten zur Zurückzahlung früher aufgenommener Kredite zu reduzieren, wenn das Einkommen konjunkturell bedingt sinkt.

 

Aus der Sicht einer Einzelperson kann das Vermögen natürlich auch aufgrund einer Erbschaft steigen und der Einzelne kann deshalb auch aufgrund einer Vererbung in der Hierarchie der Vermögensklassen aufsteigen. Dies gilt jedoch nicht mehr unbedingt, wenn wir die Verteilung der Vermögen auf die Familien bzw. auf größere soziale Gruppen analysieren. Hier ändert die Vererbung unmittelbar nach dem Übergang des Vermögens auf die Erben nichts an der Verteilung der Vermögen. Die elterlichen Vermögen werden zumeist auf ihre Kinder weitervererbt, die Vermögensmasse bleibt in der Familie und erst recht in der Gruppe der besonders Reichen. Wir werden allerdings weiter unten noch sehen, dass die Vererbung auf indirekte Weise sehr wohl den Differenzierungsgrad der Vermögen auf lange Sicht erhöhen kann.

 

Nun gibt es im Zusammenhang mit der Vererbung zwei grundverschiedene Prinzipien. In dem einen Fall wird das elterliche Vermögen weitgehend an einen einzigen Erbberechtigten weitergegeben, z. B. auf den ältesten Sohn oder auch die älteste Tochter, während entsprechend einem zweiten Prinzip die elterliche Vermögensmasse möglichst gleichberechtigt auf alle Nachkommen aufgeteilt wird.

 

Bleibt das Vermögen bei einer Person, wird sich auch die Verteilung der Vermögen aufgrund der Vererbung zunächst nicht entscheidend verändern, es verbleibt ja als Gesamtmasse in der Familie, nur dass nun an die Stelle des Vaters (der Mutter) der Haupterbe getreten ist. Wird jedoch dem zweiten Prinzip gefolgt, wird die Vermögensmasse gestückelt und dies bedeutet, dass in begrenztem Masse der Differenzierungsgrad der Vermögen sogar etwas verringert wird.

 

Das deutsche Recht sieht vor, dass der Erblasser im Prinzip frei darüber entscheiden kann, wie er sein Vermögen auf die einzelnen Nachkommen aufteilt, allerdings schreibt das Gesetz vor, dass die nächsten Verwandten (Ehegatten und Kinder) einen Pflichtanteil zu beanspruchen haben. Liegt hingegen kein gültiges Testament des Erblassers vor, so wird das elterliche Vermögen weitgehend gleichmäßig auf die unmittelbaren Erben aufgeteilt. Wir können also festhalten, dass die Verteilung der Erwerbsvermögen durch die Möglichkeit der Vererbung nicht unmittelbar entscheidend beeinflusst wird und dass sie eher zu einer geringfügigen Nivellierung als zu einer weiteren Differenzierung führt. Eine gewisse Nivellierung wird auch dadurch verursacht, dass der Gesetzgeber einen Teil des vererbten Vermögens mit einer relativ hohen Steuer belegt (siehe aber auch die Ausführungen im nächsten Abschnitt).

 

Neben dem Umstand, dass die Verteilung der Erwerbsvermögen konjunkturellen Schwankungen ausgesetzt ist, dürften aber auch einige politische Fehlentscheidungen der Vergangenheit dazugeführt haben, dass das Erwerbsvermögen heute eine extreme Differenzierung aufweist. Ich möchte an dieser Stelle lediglich auf einige Fehlentwicklungen näher eingehen, welche in besonderem Maße die Verteilung der Erwerbsvermögen in eine höchst unerwünschte Richtung verschoben haben.

 

Die Anfänge dieser Fehlentwicklungen liegen weit zurück. Entsprechend der liberalen Grundüberzeugung kann eine Marktwirtschaft nur dann zu befriedigenden Ergebnissen führen, wenn unter anderem derjenige, welcher riskante Entscheidungen trifft, bei Misserfolg auch für den Verlust mit seinem ganzen Vermögen haftet. Für Walter Eucken, dem Begründer des Ordoliberalismus zählt das Haftungsprinzip zu den konstituierenden, also unverzichtbaren Prinzipien einer Marktwirtschaft.

 

Wer dadurch, dass er Risikokapital zur Verfügung stellt, eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt ermöglicht, hat danach auch das Recht, einen Teil des hierdurch ermöglichten Wohlfahrtszuwachses als Gewinn vorübergehend zu beanspruchen; einen Teil des Wohlfahrtszuwachses und auch nur vorübergehend deshalb, weil in einer funktionierenden Marktwirtschaft aufgrund des Wettbewerbs der Unternehmer untereinander Produktivitätssteigerungen Preissenkungen herbeiführen, welche die Konsumenten an diesem Wohlfahrtszuwachs teilnehmen lassen. 

 

Wenn jedoch nun dieses Haftungsprinzip verlassen wird und es möglich wird, dass die Unternehmer zwar bei Erfolg die Gewinne einstreichen, bei Misserfolg aber die Verluste an den Staat abwälzen können und der Steuerzahler letztendlich die Zeche zu zahlen hat, entsteht in mehrerer Hinsicht eine soziale Schieflage. Erstens entfällt die Rechtfertigung, bei Erfolg die Gewinne einzubehalten, zweitens entfällt jeglicher Anreiz, allzu riskante Investitionen zu vermeiden und drittens steigt natürlich der Einkommens- und Vermögensanteil dieser Gruppe, da nun die Gewinne aus riskanten Geschäften nicht mehr durch die Verluste bei riskanten Entscheidungen ausgeglichen werden. Der Einkommens- und Vermögensanteil steigt somit in diesem Falle erheblich an.

 

Eine solche Aushöhlung des Haftungsprinzips erfolgte nun bereits bei der Entstehung der Kapitalgesellschaften. Die Haftung der Eigentümer von Anteilen an dem Vermögen der Kapitalgesellschaften ist nämlich auf die Kapitaleinlage begrenzt. Während also ein persönlich haftender Unternehmer mit seinem gesamten Vermögen bei Misserfolg haftet, kann der Besitzer von Wertpapieren seine Haftung auf die Wertsumme der Wertpapiere beschränken.

 

Die Rechtfertigung für diese Beschränkung in der Haftung lag darin, dass man auf diese Weise auch Personen aus der Arbeitnehmerschaft und aus dem Mittelstand an dem Erwerbsvermögen beteiligen wollte und dass man es für diese Bevölkerungsgruppe als nicht berechtigt ansah, dass sie im Falle des Misserfolges mit ihrem sonstigen Vermögen mithaften sollten. Auf der einen Seite ist auch in der Tat nur derjenige, der über ein sehr großes Vermögen verfügt, überhaupt in der Lage, Misserfolge mit seinem gesamten Vermögen zu tragen, ohne hierdurch seine wirtschaftliche Existenz zu gefährden, auf der anderen Seite hat die Masse der kleinen Anteilseigner auch gar nicht die Möglichkeit, an dem Geschehen der Unternehmung so teilzunehmen, dass sie auch den Umfang der Risiken abschätzen und gegebenenfalls auch beeinflussen können.

 

Wenn man auch dieser Argumentation weitgehend zustimmen kann, so führte diese Regelung doch zu einer weitgehenden Aufweichung des Haftungsprinzips. Eine Beschränkung der Haftung erfahren ja nicht nur die Kleinaktionäre mit einem geringen Bestand an Aktien und mit einem eher durchschnittlichen Einkommen, vielmehr kann auch ein Milliardär seine Haftung dadurch beschränken, dass er seine Unternehmung in eine Kapitalgesellschaft überführt, aber dafür Sorge trägt, die Aktienmehrheit oder vielleicht auch nur eine Sperrminorität zu behalten und auf diese Weise, genauso wie ein Unternehmer einer vollhaftenden Personengesellschaft seine Geschäfte betreiben kann, ohne aber wie es eigentlich für eine befriedigende Marktwirtschaft erforderlich wäre, für seine riskanten Entscheidungen voll haften zu müssen. Die Möglichkeiten, risikoreiche Entscheidungen durchzuführen, vergrößern sich sogar auf diesem Wege, da ja nun die Kapitalmasse durch Beteiligung vieler Kleinaktionäre vergrößert wurde.

 

Diese Aufweichung des Haftungsprinzips wurde nun dadurch noch verschärft, dass es der Staat zugelassen hat, dass Unternehmungen einen monopolistischen oder oligopolistischen Marktanteil erwerben konnten. Walter Eucken sprach davon, dass für das Funktionieren einer Marktwirtschaft nicht nur die konstituierenden Prinzipien wie z. B. das Haftungsprinzip unerlässlich sind, dass der Staat vielmehr auch über regulierende Prinzipien, zu denen auch eine effektive Monopolkontrolle zählt, Einfluss auf das Marktgeschehen nehmen muss.

 

Lässt der Staat nämlich zu, dass einige wenige Großkonzerne einen oligopolistischen oder monopolistischen Marktanteil erhalten, so verringert sich die Haftung für riskante Entscheidungen dieser Unternehmungen um ein weiteres. Dass Unternehmungen mit einem zweistelligen Marktanteil in Konkurs gehen, kann der Staat gar nicht mehr zulassen, da sonst die Gefahr besteht, dass der gesamte Markt zusammenbricht. Dies bedeutet aber, dass nun der Staat und damit auch die Steuerzahler die Haftung übernehmen, die Unternehmungen müssen nun nicht mehr befürchten, dass sie aufgrund zu riskanter Geschäfte Konkurs gehen. Der Fehler liegt hier nicht darin, dass der Staat in Krisenzeiten diese Unternehmungen zu erhalten versucht, zu einer Unterstützung bedrohter Unternehmungen gibt es keine brauchbare Alternative, der Fehler liegt vielmehr darin, dass es der Staat entgegen den Vorstellungen Walter Euckens zugelassen hat, dass diese Machtstrukturen überhaupt entstanden sind.

 

In eine ähnliche negative Richtung weist auch die Einführung des gesetzlichen Patentschutzes hin. Auch hier stand zunächst ein richtiger Gedanke Pate. Bei der Einführung neuer technischer Verfahren und Produkte entstehen hohe Entwicklungskosten. Es besteht nun die Gefahr, dass nach Beendigung der technischen Erprobung andere Unternehmungen (sogenannte Imitatoren) auftreten, diese Verfahren übernehmen, ohne sich jedoch an den Entwicklungskosten zu beteiligen und gerade deshalb in der Lage sind, die eigentlichen innovativen Unternehmer aus dem Markt zu drängen. Bei einer solchen Gefahr muss befürchtet werden, dass die Bereitschaft zu Erneuerungen insgesamt zurückgeht, weil die Früchte dieser Aktivitäten nicht den Erfindern und den Innovatoren zufallen und dass deshalb ein anhaltendes wirtschaftliches Wachstum verhindert wird.

 

Leider hat jedoch die Art und Weise, wie diese richtige Erkenntnis umgesetzt wurde, dazu geführt, dass der technische Fortschritt trotzdem behindert wurde und dass vor allem der Wettbewerb in einer Weise eingeschränkt wurde, wie es zur Sicherung des technischen Fortschritts nicht notwendig gewesen wäre.

 

Auch trotz gesetzlichem Patentschutz kann der technische Fortschritt beeinträchtigt werden, da der Patentschutz auch dann noch gilt, wenn Patente von Unternehmungen aufgekauft werden, aber in einer Schublade verschwinden, um so nur zu verhindern, dass potenzielle Konkurrenten diese Verfahren anwenden.

 

Nach geltendem Gesetz können Inhaber von Patenten für eine sehr lange Zeit von zumeist 20 Jahren eine Monopolstellung einnehmen. Diese Wettbewerbsbeschränkung verhindert aber, dass Kostensenkungen an die Endverbraucher weitergegeben werden. Der Gewinn dieser Monopolisten steigt über Gebühr an, da ein Monopolist in der Lage ist, sowohl die Preise der angebotenen Güter anzuheben als auch die Entlohnungssätze der Arbeitnehmer zu senken. Wiederum steigt automatisch der Anteil einiger weniger Großunternehmer am Einkommen und am Vermögen unberechtigter Weise an.

 

Ein Patentschutz wäre auch garantiert, wenn der Patentschutz verbunden würde mit der Verpflichtung, mehreren Unternehmungen Lizenzen zur Benutzung dieser Patente zu gewähren. In diesem Falle wäre garantiert, dass jeder Produzent angemessen an den Entwicklungskosten beteiligt wird, die Fehlanreize wären also wirksam unterbunden, ohne dass aber die negativen Folgen einer zeitweisen Monopolisierung der Märkte zu befürchten wären. Eine solche Lizenzvergabe ist zwar nach geltendem Recht  möglich, aber nicht zwingend. Es wird sogar vorgeschrieben, dass der Weg einer Lizenzvergabe beschritten werden muss, wenn dies aus Gemeinwohlgründen notwendig erscheint. Der Fehler liegt darin, dass der Gesetzgeber sowie die Gerichte offensichtlich eine so massive Einschränkung des Wettbewerbes als nicht Gemeinwohl schädigend ansehen, obwohl wichtige Voraussetzungen für eine marktwirtschaftliche Ordnung hier außer Kraft gesetzt werden.

 

Zu einer sozialen Schieflage hat schließlich auch die unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder eingeführte Abgeltungssteuer für Kapitalerträge geführt. Auch hier ging die Regierung von der richtigen Erkenntnis aus, dass ein Wettbewerb der Staaten besteht, durch besonders niedrige Besteuerung der Kapitalerträge ausländisches Kapital ins Land zu ziehen. Es wurde die Gefahr gesehen, dass Kapital ins Ausland abfließt und auch keine Möglichkeit besteht, ausländisches Kapital in großem Maße zu importieren, wenn Deutschland die Steuersätze für den Kapitalertrag nicht an die international geltenden zumeist  niedrigeren Steuersätze angepasst hätte.

 

Vor Einführung der Abgeltungssteuer galt der Grundsatz, dass der Steuersatz für Einkommen allein von der Einkommenshöhe und nicht von der Einkommensquelle abhängt. Für ein gleichhohes Einkommen musste der Arbeitnehmer für sein Lohneinkommen den gleichen Steuersatz entrichten wie derjenige, welcher über Kapitaleinkommen verfügt. Da gleichzeitig für Einkommen eine Steuerprogression vorgesehen ist, war sichergestellt, dass die einzelnen Bürger um so mehr zum Steueraufkommen beitragen mussten, je größer ihr Einkommen war.

 

Diese soziale Ausgeglichenheit (bei gleichem Einkommen auch ein gleicher Steuersatz, bei höherem Einkommen jedoch eine proportional steigende Steuerlast) wurde nun durch Einführung der Abgeltungssteuer verletzt. Auf der einen Seite werden nun Kapitaleinkommen bei den höheren Einkommensklassen grundsätzlich mit einem geringeren Steuersatz besteuert als gleichgroße Arbeitseinkommen. Auf der anderen Seite sind nun gerade die hohen Kapitaleinkommen von der Steuerprogression befreit.

 

Man hätte sicherlich das Problem des Wettbewerbs um die nationalen Steuersätze und ihre Folgen auch auf andere Weise lösen können. Knut Wicksell hatte den Steuersatz in erster Linie als Preis angesehen, den die Bürger für die Inanspruchnahme staatlicher Kollektivgüter zu zahlen haben. Es gibt zwar gute Gründe dafür, dass private Unternehmungen nicht mit staatlichen Behörden in Konkurrenz treten, da die politischen und wirtschaftlichen Anreizsysteme unterschiedlich funktionieren.

 

Aber warum sollten nicht Staaten untereinander in Wettbewerb treten, wobei derjenige Staat, welcher die bessere Leistung erbringt, als Gewinner hervorgeht? Schließlich stehen alle Staaten vor den gleichen politischen Aufgaben. So könnte ein Staat ausländische Unternehmungen und Kapitalgeber dadurch ins Land locken, dass er öffentliche Infrastrukturen anbietet und für diese Leistungen eine kostendeckende Steuer verlangt. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass das Kapital jeweils in den Volkswirtschaften und in den Bereichen eingesetzt wird, wo es die höchsten Erträge bringt. Ein Staat würde sich nur dann darum bemühen, ausländisches Kapital hereinzuholen, wenn die hierbei entstehenden Kosten im Zusammenhang mit der Zurverfügungstellung von Infrastrukturen durch zusätzliche Erträge (Steuern und Produktivitätssteigerungen) ausgeglichen würden, umgekehrt wären auch die Unternehmungen bemüht, das Kapital jeweils in den Volkswirtschaften und Branchen einzusetzen, in welchen die jeweils höchstmögliche Produktivität (Rentabilität)  und nicht unbedingt der geringste Steuersatz erwartet werden kann.

 

 

3. Absoluter versus relativer Maßstab

 

Entsprechend der Vorgehensweise der statischen Ämter innerhalb der europäischen Union wird Armut in Relation zu dem durchschnittlichen Einkommen aller Bürger definiert. Danach liegt die Armutsgrenze, ab dem ein Individuum als arm eingestuft wird, bei 60% des Pro-Kopf-Einkommens. Dies bedeutet, dass also jeder als arm bezeichnet wird, dem es nicht gelingt, ohne staatliche Sozialhilfe über Einkünfte zu verfügen, welche über 60% des Pro-Kopf-Einkommens liegen.

 

In ähnlicher Weise gab es schon immer Versuche, auch die Frage danach, wie gerecht denn die Verteilung der materiellen Güter auf die einzelnen Individuen oder Familien ist, vom Differenzierungsgrad der Einkommen, also von der personellen Einkommensverteilung abhängig zu machen. Danach ist eine Einkommensverteilung um so ungerechter, je größer der Differenzierungsgrad der Einkommen ist, bzw. um so gerechter je größer der Nivellierungsgrad der Einkommen ausfällt. Das Ideal einer vollkommenen Verteilungsgerechtigkeit liegt danach bei der Egalität, also bei einem Zustand, bei dem jeder einzelne Bürger das gleiche Einkommen erhält, unabhängig davon, welche Leistung der Einzelne zur gesamten wirtschaftlichen Wohlfahrt einer Bevölkerung beigetragen hat und auch unabhängig davon, welches Alter oder Geschlecht er aufweist und wie unterschiedlich der Bedarf der Einzelnen – an objektiven Kriterien gemessen – tatsächlich ist.

 

Ich möchte dieses Verteilungsziel einer vollständigen Egalität als sozialistisch bezeichnen, wobei allerdings sofort darauf hingewiesen werden muss, dass die bisher existierenden realen sozialistischen Regierungen ein solches Leitbild auch nicht annähernd verwirklicht haben, im realen Sozialismus wurden sehr wohl zur Leistungssteigerung begrenzte Unterschiede zwischen der Einkommenshöhe akzeptiert und ermöglicht. Eine vollständige Egalität wurde – abgesehen von einzelnen Autoren – nur von den französischen Frühsozialisten während der französischen Revolution von 1789 angestrebt, eine Gruppe, welche von Karl Marx als utopisch verachtet wurde. Aber wohl alle sozialistischen Parteien gingen davon aus, dass der in Marktwirtschaften realisierte Differenzierungsgrad zu hoch und ungerecht sei und deshalb durch politische Maßnahmen wie etwa Besteuerung reduziert werden müsse.

 

Diesem sozialistischen Verteilungsideal lassen sich zwei andere Verteilungsideale gegenüberstellen. Als gerecht wird vor allem von Anhängern des Liberalismus eine Verteilung angesehen, bei welcher die unterschiedliche Leistung des einzelnen auch die Unterschiede in der Einkommenshöhe bestimmen.

 

Wir sprechen hierbei vom Leistungsprinzip, das in einer funktionierenden Marktwirtschaft weitgehend realisiert wird. Nun hatten wir gerade gesehen, dass auch die sozialistischen Parteien sehr wohl die Leistung des Einzelnen bei der Einkommensverteilung berücksichtigt haben. Der Unterschied zwischen beiden Leitbildern liegt dann darin, dass der Sozialismus nur die von Arbeitnehmern erbrachte Arbeit als Leistung akzeptiert, während der Liberalismus die Leistung danach misst, inwieweit bestimmte Aktivitäten den Nutzen (die Wohlfahrt) der Bevölkerung vergrößert haben. Wenn z. B. ein Individuum bereit ist, für risikobehaftete Investitionen Kapital zur Verfügung zu stellen, so trägt diese Bereitschaft zum wirtschaftlichen Wachstum bei, auch dann, wenn der Kapitalgeber hierzu keinerlei physische Anstrengungen benötigte.

 

John Rawls hat ein drittes Kriterium vorgeschlagen: das Maximinprinzip. Danach gilt eine politische Maßnahme, welche das absolute und reale Einkommen der ärmsten Gruppe vergrößert, für gerechtfertigt auch dann, wenn gleichzeitig das Einkommen der Reichen steigt, ja unter Umständen sogar stärker als das der Armen steigt, sodass durch diese Maßnahmen keine Nivellierung der Einkommensverteilung, vielleicht sogar eine weitere Differenzierung in den Einkommen hervorgerufen wird. Hier wird also ex pressis verbis die Gerechtigkeit allein an den realen Verhältnissen der einzelnen Bevölkerungsgruppen gemessen und nicht daran, in welchem Verhältnis die einzelnen Einkommen zueinander stehen.

 

Wir können nun diese Unterscheidung auch auf den Begriff der Armut übertragen. In Analogie zu John Rawls kann nun auch vorgeschlagen werden, Armut nicht daran zu messen – wie dies die offizielle Statistik in den europäischen Staaten tut, in welchem Verhältnis die einzelnen Einkommen zueinander stehen, sondern einzig und allein daran, über welches absolute (reale) Einkommen die einzelnen Individuen verfügen.

 

Diese Vorgehensweise entspricht zunächst dem allgemeinen Verständnis von Armut. Als arm gilt normaler Weise jemand, welcher nicht über die materiellen Ressourcen verfügt, welche für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Als menschwürdig kann ein menschliches Leben nur dann bezeichnet werden, wenn der einzelne weder Hunger noch Durst erleidet, wenn er über ausreichende Kleidung verfügt, dass er nicht frieren muss, wenn er eine Wohngelegenheit mit einem Mindeststandard an hygienischen Verhältnissen hat, wenn er auch bei Krankheit die Medikamente und Heilmittel verwenden kann, welche zur Gesundung unerlässlich sind.

 

Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, spricht man vom Existenzminimum, das alle materiellen Ressourcen umfasst, welche für das Überleben unerlässlich sind. Man unterscheidet hierbei zwischen einem physischen und kulturellen Existenzminimum. Zum physischen Existenzminimum zählen hierbei all die Güter, welche zum physischen Überleben notwendig sind, während das kulturelle Existenzminimum zusätzlich berücksichtigt, dass zu einem menschenwürdigen Leben auch die Ermöglichung gewisser kultureller Werte gehört.

 

Das physische Existenzminimum lässt sich relativ einfach exakt bestimmen, die medizinische Wissenschaft kann z. B. feststellen, wie viel Kohlenhydrate, Eiweißstoffe und Fette, weiterhin wie viel Mineralien, Vitamine und Spurenelemente der Mensch zum Überleben benötigt. Für die Festlegung eines kulturellen Existenzminimums lässt sich kein wertfreier wissenschaftlicher Maßstab festlegen, es ist vielmehr die politische Überzeugung einer Gesellschaft, welche durch Festlegung der Sozialhilfesätze bestimmt, welche zusätzlichen Güter dem Existenzminimum zugerechnet werden sollen.

 

Bei dieser Art der Bestimmung der Armutsgrenze wird auf das Einkommen der übrigen Bevölkerung kein Bezug genommen. Die Frage, wie viel Eiweiß ein Individuum zum Überleben benötigt, ist vollkommen unabhängig davon, wie hoch das Einkommen all der anderen Bürger ist, welche nicht als arm zu gelten haben.

 

Diese Begriffsbestimmung bedeutet allerdings nicht, dass eine Festlegung des Existenzminimums in einer grauen Vorzeit für alle Zeiten gültig ist. Natürlich kann es erwünscht oder sogar notwendig erscheinen, die Grenze dafür, wann das kulturelle Existenzminimum garantiert ist, neu festzusetzen. Wir haben nämlich davon auszugehen, dass zu Beginn des industriellen Zeitalters das Inlandsprodukt (der Gesamtwert aller produzierten Güter) so gering war, dass auch das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung nicht wesentlich über dem Existenzminimum lag.

 

Nun lässt sich die Gewährung eines Mindesteinkommens an alle diejenigen, welche es nicht erreichen, aus eigener Arbeit ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu beziehen, nur dann finanzieren, wenn diejenigen Arbeitnehmer, welche einer Erwerbsarbeit nachgehen, ein deutlich höheres Einkommen erhalten als die Arbeitslosen. Würde man nämlich auch den Erwerbstätigen das gleiche Einkommen wie den Erwerbslosen gewähren, wären die Anreize, nichts zu tun, so groß, dass auch die Arbeitslosengelder nicht finanziert werden könnten. Wenn ein Arbeitsloser das gleiche Einkommen erhält wie der Erwerbstätige, so stellt sich materiell der Arbeitslose wesentlich besser als der Erwerbstätige, da der Arbeitslose zusätzlich zu dem gleichen Einkommen noch über wesentlich mehr Freizeit verfügt.

 

Eine Differenzierung zwischen den Arbeitslosengeldern und den Erwerbseinkommen ist also notwendig, um überhaupt die materielle Unterstützung der Armen finanzieren zu können. Wenn nun aber das Pro-Kopf-Einkommen nicht wesentlich über dem Existenzminimum wie zu Beginn des Industriezeitalters liegt, können als Armenunterstützung nur Einkünfte gewährt werden, welche tatsächlich unterhalb eines Existenzminimums liegen. Selbstverständlich wird es hier notwendig, dass in dem Maße, in dem das Pro-Kopf-Einkommen einer Bevölkerung steigt, auch die materielle Unterstützung der Armen angehoben werden muss. Diese Anhebung wird aber nicht primär deshalb gerechtfertigt, weil das Einkommen der anderen gestiegen ist, sondern deshalb, weil in der Vergangenheit die tatsächlichen Unterstützungssätze unterhalb eines (kulturellen) Existenzminimums lagen.

 

In gleicher Weise kann ein Anheben der Armutsgrenze auch dann notwendig werden, wenn wir nachweisen können, dass wir bei der Bestimmung des Existenzminimums bisher von falschen Annahmen ausgingen, dass also z. B. bisher von  einem nicht ausreichenden Mindestbedarf an Eiweis ausgegangen wurde.

 

Was spricht nun für einen absoluten und was für einen relativen Armutsbegriff? Unterstellen wir als erstes eine Gesellschaft, in welcher zu Beginn der Betrachtungszeit alle Bürger, also auch die Ärmsten über Einkünfte verfügen, die zumindest dem kulturellen Existenzminimum entsprechen. In den folgenden Perioden stiege das Durchschnittseinkommen Jahr für Jahr um einen beachtlichen Prozentsatz, sagen wir von 10%, was ja in dem ersten Jahrzehnt der BRD nach Einführung der Marktwirtschaft tatsächlich der Fall war. Aufgrund der stark ansteigenden Steuereinnahmen hätte die Regierung auch die Unterstützungssätze für die Armen um jeweils 5% pro Jahr angehoben.

 

Diese Entwicklung hätte zur Folge gehabt, dass sich die realen materiellen Verhältnisse der Armen entscheidend verbessert hätten, trotzdem würde die offizielle Statistik eine Zunahme der Armut feststellen, da ja annahmegemäß die Einkünfte der Ärmeren nicht ganz so stark gestiegen waren wie die Einkünfte der gesamten Bevölkerung und da folgerichtig der Prozentsatz derjenigen, welche gerade die neue Armutsgrenze nicht mehr erreichen, angestiegen ist.

 

Nehmen wir als zweites Beispiel eine Gesellschaft, in welcher Einkommensverhältnisse wie in einigen der reichsten Golfstaaten vorliegen. Die Mehrheit der Bevölkerung erreicht ein Einkommen, das vermutlich deutlich über dem Einkommen der übrigen Industriestaaten liegt, es finden sich hier weiterhin sehr viele Millionäre und eine gewisse Zahl sehr Reicher, also Milliardäre. Bei einer solchen Situation müsste damit gerechnet werden, dass auch einige Millionäre als arm eingestuft werden, wenn die Armutsgrenze relativ (etwa bei 60% des Pro-Kopf-Einkommens) festgelegt würde. Auch hier würden die Ergebnisse der Armutsstatistik ähnlich wie im ersten Beispiel dem allgemeinen Verständnis von Armut widersprechen.

 

Als drittes Beispiel wollen wir uns umgekehrt eine Gesellschaft vorstellen, in welcher getreu den Empfehlungen linker Parteien ein allgemeiner für alle Wirtschaftszweige gleicher gesetzlicher Mindestlohn ein geführt wurde, in der weiterhin die Vermögenssteuer wiederum eingeführt worden sei, die Steuersätze für die Erbschaftssteuer und zusätzlich die Spitzensteuersätze der Einkommenssteuer drastisch erhöht worden wären. Wir wollen weiterhin annehmen, dass aufgrund dieser Maßnahmen tatsächlich der Differenzierungsgrad der Einkommen und Vermögen verringert werden konnte. Ist damit wirklich garantiert, dass sich die Lage der Ärmsten unserer Gesellschaft verbessert hat?

 

Es wäre ja auch denkbar, dass die Reform unseres Steuersystems einfach dazugeführt hätte, dass die Superreichen zu einem großen Teil in ein Ausland mit geringeren Steuersätzen abgewandert wären, dass aber nicht etwa diejenigen Unternehmer das Land verlassen hätten, welche die geringste Leistung erbracht haben oder diejenigen, welche als Kapitalgeber bisher fragwürdige Risiken eingegangen sind. In Wirklichkeit ist vielmehr zu befürchten, dass gerade die am  meisten befähigten Manager das Land verlassen, da sie am ehesten eine für sie befriedigende Führungsposition im Ausland finden werden. Genauso ist zu befürchten, dass auch gerade solche Kapitalgeber ihr Kapital im Ausland anlegen werden, welche bisher verantwortungsvoll gehandelt haben und nur solche risikobehafteten Investitionen durchführten, bei denen ein Erfolg wahrscheinlich war.

 

In Folge dieser Abwanderung würde die gesamtwirtschaftliche Produktivität und mit ihr auch das Gesamteinkommen zurückgehen, mit der Folge, dass aufgrund sinkender Steuereinnahmen auch die Subventionen zugunsten der Armen nicht angehoben werden könnten. In diesem Falle würde jedoch entgegen dem äußeren Anschein die Lage der Armen nicht verbessert worden sein.

 

Wir müssen davon ausgehen: Das Unwohlsein eines Armen steigt bei einem relativen Maßstab an. Zusätzlich zu den Begrenzungen, welche dieser Arme dadurch erfährt, weil er nicht über ausreichend materielle Güter verfügt, wird er nun in der Öffentlichkeit als Versager hingestellt, der das Klassenziel: aus eigener Kraft ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu erzielen, verfehlt hat. Zu all den realen Entbehrungen, welche die Armut mit sich bringt, wird der Arme nun noch darauf eigens aufmerksam gemacht, dass die anderen, der größte Teil der Bevölkerung, aus eigener Kraft die Armut vermieden haben. Es besteht hier leicht die Gefahr, dass sich der Arme nun vermehrt entweder in die Isolation zurückzieht und gerade die nachbarliche Hilfe, die er eigentlich dringend benötigte, ausschlägt oder aber aus Hass gegenüber den andern, welche nicht arm sind, entweder sich verbrecherischen Handlungen wie Raub und Gewalt oder aber auch politischen Extremisten zuwendet.

 

Nun mag es zwar richtig sein, dass die Menschen ganz allgemein Vergleiche zu den anderen Individuen ziehen und sich als ungerecht behandelt ansehen, wenn sie geringere Einkünfte beziehen als andere. Aber es gibt keinen Grund dafür, dass man diese tatsächlichen Verhaltensweisen zu erwünschten Normen hochstilisiert. Neid ist keine Tugend, sondern eine der häufigsten Untugenden. Der Neid wird zu den häufigsten Todsünden gezählt.

 

Es mag sogar richtig sein, dass von dem Vergleichen der eigenen Einkommenslage zu der Einkommenslage anderer bisweilen eine positive Funktion ausgeht. Die Tatsache, dass ein einzelner feststellt, er habe ein geringeres Einkommen als einer seiner Nachbarn, kann ihn sogar beflügeln, sich stärker als bisher anzustrengen und gerade dadurch zu einer Steigerung seines eigenen Einkommens beitragen und es ist durchaus denkbar, dass gerade durch diesen Wettbewerb und dem Bemühen, etwas mehr zu erreichen als der andere, starke Leistungsanreize und damit eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt erzielt wird.

 

Diese positive Funktionen sind jedoch nicht zu erwarten, wenn dieser Einkommensvergleich auch auf die Ärmsten unserer Gesellschaft angewandt wird. Die meisten Armen sind arm aufgrund persönlicher Schicksalsschläge, aufgrund derer sie ohnehin nicht mehr über die Kraft und den Willen verfügen, an diesem Wettbewerb teilzunehmen. Was bleibt, sind dann nur noch die oben erwähnten Steigerungen im Unwohlsein der Betroffenen.

 

Darüber hinaus können auch negative Nebeneffekte dadurch auftreten, dass diejenigen, welche sich in der Einkommens- und Vermögenshierarchie im Mittelfeld befinden, also weder zu den ganz Armen noch zu den ganz Reichen zählen, die Kenntnisnahme des Auseinanderdriftens zum Anlass nehmen, entweder auf Akte der Nächstenliebe zu verzichten oder sogar geschuldete Steuern zu hinterziehen. Man rechtfertigt dann diese Handlungen damit, dass es ja an den Superreichen liege, dass es in dieser Welt Not gibt und dass deshalb nur die Superreichen die Mittel aufzubringen hätten, um die aktuelle Not der Armen zu verringern.

 

Nun mag es zwar richtig sein, dass in erster Linie die Volksgemeinschaft aufgerufen ist, um Armut nach Möglichkeit zu verhindern. Trotzdem kann kein soziales System alle Not beheben. Es wird immer Notsituationen aufgrund einer unglücklichen und unvorhersehbaren Verkettung von persönlichen Schicksalsschlägen geben, welche durch noch so perfekte soziale Systeme nicht beseitigt werden können. Selbst dann, wenn es gelungen wäre, in einem gewissen Zeitpunkt ein solches perfektes System zu errichten, müsste immer noch damit gerechnet werden, dass aufgrund der permanenten Weiterentwicklung unserer Gesellschaft sofort wiederum Fälle auftreten, welche durch das soziale System nicht erfasst werden könnten. Eine einigermaßen befriedigende Situation kann nur erreicht werden, wenn die sozialen Systeme stets durch caritative Hilfen aller Bürger, die selbst nicht zu den Ärmsten zählen, in beachtlichem Maße ergänzt werden.

 

Fortsetzung folgt!