Armut: Ursachen, Folgen und Bekämpfung

 

Fortsetzung 2

 

 

Gliederung:

 

1. Teil: Historische Einführung

     1. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Armut

     2. Ursachen der Verarmung im historischen Wandel

     3. Die wichtigsten Folgen der Armut

     4. Vom Wandel der Bewertung der Armut

     5. Die geschichtliche Entwicklung der Armutspolitik

 

2. Teil: Die Theorie der Verursachung von Armut

    1. Ein Modell zur Erklärung allgemeiner Armut

         1a. Zur Definition von Armut

         1b. Armut durch Naturereignisse ausgelöst

         1c. Armut durch Mängel der Arbeitskraft ausgelöst

         1d. Armut in Folge einer Mechanisierung der Produktion

         1e. Armut als Folge eines Technischen Fortschritts

         1f. Armut aufgrund einer Sättigung?

         1g. Armut und Wirtschaftssystem

 

     2. Ein Modell zur Erklärung von Armut inmitten von Reichtum

         2a. Einleitung

         2b. Der Vermögensstatus

         2c. Die Qualifizierung der Arbeitskraft

         2d. Zusätzlicher Bedarf aufgrund der Familiengröße

         2e. Das unterschiedliche Auftreten sozialer Risiken

   

3. Teil: Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut

     1. Vorbemerkung

    2. Kurieren am Symptom versus Ursachenbekämpfung

    3. Bekämpfung allgemeiner Armut versus Armut inmitten von Reichtum

 

 

 

2. Teil: Die Theorie der Verursachung von Armut

 

    2. Ein Modell zur Erklärung von Armut inmitten von Reichtum

 

         2a. Einleitung

 

Wenden wir uns nun in einem zweiten Modell der Frage zu, welche Bestimmungsgründe dafür verantwortlich sein können, dass auch in Volkswirtschaften mit einem hohen Pro-Kopf-Einkommen trotzdem immer wieder einzelne Personen und Personengruppen in Armut verfallen. Hierbei können wir davon ausgehen, dass im Grunde die gleichen Bestimmungsfaktoren Armut verursachen wie im ersten Modell, schließlich sind es immer einzelne Individuen, welche arm werden, unabhängig davon, ob nur einige oder der größte Teil der Bevölkerung von Armut betroffen sind. Es gilt auch in diesem Modell, dass Arbeitslosigkeit, nicht ausreichende Bildung, Naturkatastrophen, Krankheiten usw. letztendlich für Armut verantwortlich sind.

 

Der größte Unterschied zwischen beiden Modellen liegt darin, dass im ersten Modell die Ursachen der Armut relativ gleichmäßig auf die gesamte Bevölkerung verteilt sind, auch wenn natürlich wohl in jeder Gesellschaft einzelne Personen reich sind. Wesentlich ist hierbei, dass das Pro-Kopf-Einkommen im ersten Modell so gering ist, sodass schon aus diesen Gründen die Mehrheit der Bevölkerung nicht reich sein kann, während im zweiten Modell ja durchaus das Pro-Kopf-Einkommen der gesamten Bevölkerung über der Armutsgrenze liegt, sodass der Umstand, dass einzelne trotzdem arm sind, letztlich an der Verteilung der Ressourcen auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen und an strukturellen Mängeln liegen muss.

 

Ausgangspunkt in diesem zweiten Modell ist wiederum die Definition der Armut, wonach jemand als arm zu gelten hat, wenn sein Einkommen netto und real eine bestimmte, mehr oder weniger willkürlich festgesetzte Einkommensgrenze (die Armutsgrenze) unterschreitet.

 

Ein zu geringes Einkommen kann erstens daran liegen, dass ein Individuum nicht über genügende Ressourcen verfügt, aufgrund derer ein ausreichendes Einkommen erzielt werden könnte oder aber zweitens diese Ressourcen nicht so einsetzt, dass es über ein ausreichendes Einkommen verfügen kann, obwohl es aufgrund seines Bestandes an Produktionsfaktoren eigentlich in der Lage sein sollte, ein ausreichendes Einkommen zu erhalten.

 

Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass die tatsächliche Armut vermieden werden kann, wenn zwar einzelne nicht in der Lage sind, aus eigenen Kräften ein Einkommen über der Armutsgrenze zu erzielen, wenn jedoch der Staat, caritative Einrichtungen oder aber auch einzelne Wohltäter durch Spenden und Zuwendungen verhindern, dass diese Personen tatsächlich in Armut versinken. Wenn wir beide Quellen ­– sowohl den Bestand an Produktionsfaktoren, über den die einzelnen Betroffenen verfügen, sowie die Zuwendungen Dritter – zusammenfassen, wollen wir vom privatverfügbaren Einkommen der Betroffenen sprechen.

 

Allerdings spielen die dem einzelnen zur Verfügung stehenden Ressourcen insofern bei der Entstehung von Armut die entscheidende Rolle, da es das Ziel jeder Volksgemeinschaft sein muss, die Weichen so zu stellen, dass nur wenige und diese nur in Ausnahmefällen Hilfe von anderen annehmen müssen. Die Selbstbestimmung des einzelnen ist oberstes Ziel, die Hilfe der andern sollte immer nur den Charakter einer Hilfe zur Selbsthilfe haben und immer nur für eine begrenzte Zeit notwendig sein.

 

Neben der Höhe der Einkünfte wird jedoch immer auch der individuelle Bedarf darüber entscheiden, ob im Einzelfall die Armutsgrenze bereits unterschritten wird. Hierbei geht es natürlich nicht um die subjektiven Bedarfsäußerungen der Betroffenen. Für die Feststellung, ob im Einzelfall Armut vorliegt oder nicht, ist nicht entscheidend, ob sich der einzelne arm fühlt oder sich als arm erklärt, sondern allein das Vorliegen objektiv überprüfbarer Kriterien. Es gibt viele Personen, die nach objektiven Kriterien gemessen als arm einzustufen sind, aber aus falsch verstandener Scham dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen versuchen, während andere hinwiederum objektiv betrachtet ein Einkommen über der Armutsgrenze erhalten, sich aber subjektiv als arm betrachten.

 

Es ist nun erstens davon auszugehen, dass einzelne eine Familie bilden und dass die Eltern in unserer Gesellschaft die Verantwortung für ihre Kinder übernommen haben, sie sind für das materielle wie immaterielle Wohl ihrer Kinder verantwortlich. Dies bedeutet, dass neben der Einkommenshöhe auch die Zahl der Personen, welche mit ernährt werden müssen, darüber entscheidet, wie hoch die Einkünfte sein müssen, damit die Betroffenen über der Armutsgrenze liegen.

 

Auch unabhängig von der Zahl der zu versorgenden Personen muss zweitens berücksichtigt werden, dass auch dann, wenn wir nur objektive Merkmale berücksichtigen, der Bedarf des einzelnen recht unterschiedlich hoch sein kann. So kann der einzelne z. B. aufgrund von Krankheiten während der Zeit der Krankheit aber auch danach aufgrund von Folgeerscheinungen einen überdurchschnittlich hohen Bedarf haben. Entscheidend ist, dass jeder einzelne ein Recht besitzt, letztendlich ein Minimum an Wohlfahrt zu erzielen und dieses Minimum an Wohlfahrt kann für jemanden, der z. B. von überdurchschnittlich hoher Krankheit betroffen ist, durchaus ein überdurchschnittlich hohes Einkommen voraussetzen.

 

 

2b. Der Vermögensstatus

 

Das Einkommen, über das ein Individuum verfügt, kann entweder aus Kapital- oder aus Arbeitsquellen entstammen. Aus einem erwerbswirtschaftlich angelegten Vermögen erzielt eine Person Zinserträge, zur Not können vorübergehend die Einkünfte aus Vermögen auch dadurch aufgestockt werden, dass Teile dieses Vermögens aufgelöst und verbraucht werden. Der zukünftige Zinsertrag wird zwar auf diese Weise reduziert, es kann jedoch unter Umständen auf diese Weise ein vorübergehender Engpass in der Gegenwart überbrückt werden. Es ist sogar denkbar, dass ein Vermögender, welcher seinen Besitz fest angelegt hat und erst in Zukunft regelmäßige Zinserträge erwartet, Kredite aufnimmt, um einen in der Gegenwart nicht gedeckten Bedarf vorübergehend zu überbrücken.

 

Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass ein Vermögender im Hinblick auf seine Einkommensverhältnisse weniger Gefahr läuft, arm zu werden als jemand, der über kein Vermögen verfügt, schließlich kommt zum Arbeitseinkommen zusätzlich ein Kapitaleinkommen hinzu, sodass die Gefahr, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, für einen Vermögenden insgesamt geringer ist.

 

Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch ein Vermögender in Armut sinken kann. Wer über Vermögen größeren Umfangs verfügt, ist im Allgemeinen als Selbständiger tätig und setzt sein Vermögen als Risikokapital in einem eigenen Unternehmen ein. Als Selbständiger haftet er mit seinem vollen Besitz. Es besteht jederzeit die Gefahr, dass er die eingegangenen Risiken unterschätzt hat, dass sich die einzelnen Investitionen nicht lohnen und dass ein Unternehmer schließlich Konkurs anmelden muss, hierbei nahezu sein gesamtes Vermögen verliert und gerade auf diese Weise in Armut fällt.

 

Die Situation eines solchen Selbständigen kann nach dem Konkurs sogar noch schlechter ausfallen als die Situation eines Arbeitslosen. Wenn wir nämlich eine einigermaßen funktionierende Marktwirtschaft unterstellen, dann hat der Arbeitslose im Allgemeinen gute Chancen, über kurz oder lang wieder einen neuen Arbeitsplatz zu erlangen. Ein während eines Konjunkturabschwungs entlassener Arbeitnehmer kann in der Regel in der nächsten Aufschwungsphase wiederum eingestellt werden; wenn die Arbeitslosigkeit aufgrund einer Strukturkrise in einer bestimmten Branche ausgelöst wurde, dann wird in der Regel der Betroffene durch Umzug in eine andere Gegend oder durch Umschulung in einem anderen Wirtschaftszweig wiederum Arbeit finden.

 

Nur dann, wenn im Hinblick auf die Qualifizierung der Arbeitskraft Mängel auftreten oder wenn der Arbeitslose eine kritische Altersgrenze erreicht hat, gilt es zu befürchten, dass der einzelne Arbeitnehmer schließlich als Langzeitarbeitsloser keine Arbeit mehr findet. Wir werden auf diese Fälle im nächsten Unterabschnitt noch näher eingehen. Vermögensverlust aufgrund eines Konkurses führt in der Regel zu einer endgültigen Vernichtung des Produktionsfaktors Kapital, während Arbeitslosigkeit im Allgemeinen die Arbeitskraft als solche unbeschadet lässt, wenn auch längere Arbeitszeit dazu beiträgt, dass die Qualifikation abnimmt. Wir sprechen davon, dass das in die Arbeitskraft investierte ‚human capital‘ abgebaut wird, je länger ein Arbeitnehmer arbeitslos ist.

 

 

2c. Die Qualifizierung der Arbeitskraft

 

Nur in einer eng begrenzten Hinsicht stellen sich die arbeitenden Individuen gleich. Für jeden Menschen besteht zwar jeder Tag aus der gleichen Zahl von Stunden und jedes Jahr umfasst für jeden die gleiche Zahl von Tagen. Trotzdem unterscheidet sich die Verfügbarkeit an Arbeitskraft von Person zu Person aus einer Vielzahl von Gründen.

 

Als erstes hängt die Arbeitsfähigkeit von Erbfaktoren ab. Manche Menschen sind besonders begabt, andere haben natürlich bedingte Schwächen, sind vielleicht aufgrund besonderer Gebrechen gar nicht in der Lage, ihre Arbeitskraft voll einzusetzen. Weiterhin vermindert sich die Arbeitsfähigkeit im Verlaufe des Berufslebens aufgrund von Krankheiten und Unfällen. Diese vermindern während der Dauer der Krankheit unter Umständen die Arbeitsfähigkeit, oft hält jedoch die Behinderung als Folge der Krankheit für immer oder zumindest längere Zeit an.

 

Die Arbeitsqualifikation hängt nun zweitens entscheidend von der Ausbildung ab. Es ist zwar sicherlich nicht so, dass jeder durch Ausbildung zu einer Spitzenarbeitskraft aufrücken kann, trotzdem haben wir davon auszugehen, dass durch Ausbildung auch natürliche Benachteiligungen teilweise ausgeglichen werden können und dass auch durchschnittlich Begabte durchaus zu hochqualifizierten Arbeitskräften aufrücken können. Andererseits hat die technische Entwicklung in den Produktionsabläufen dazu geführt, dass jeder Arbeitnehmer heutzutage über eine Mindestausbildung verfügen muss, ohne jede Schulausbildung kann nur noch in wenigen Produktionsstätten Arbeit sachgerecht geleistet werden.

 

In der Anfangsphase der Industrialisierung oblag es fast nur den Eltern, ob und in welchem Umfang den Jugendlichen eine ausreichende Ausbildung zuteilwurde und da jede Ausbildung mit Kosten verbunden ist (Lernmittel und Schulgebühren, aber auch Kosten im Sinne entgangenen Einkommens während der Ausbildungszeit), konnten sich nur besonders reiche Eltern eine voll befriedigende Ausbildung für ihre Kinder leisten. Es ergab sich dann der Teufelskreis, dass derjenige, der reich war, auch dafür Sorge tragen konnte, dass auch seine Kinder die Voraussetzung erhielten, dass auch sie eines Tages reich werden können, während die bisher Armen auch keine Möglichkeit hatten, ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, welche diese in die Lage versetzten, in ihrem beruflichen Leben aufzusteigen. Armut erzeugte somit zumeist Armut auch in der nächsten Generation.

 

In dieser Hinsicht haben sich die Verhältnisse gegenüber früher entscheidend gewandelt. Es besteht Schulpflicht, sodass fast jeder eine Mindestausbildung erfahren kann. Weiterhin wird zumindest für begabte Schüler ein großer Teil der während der Ausbildung entstehenden Kosten (durch Schulgeldfreiheit, Stipendien etc.) vom Staat übernommen.

 

Die heutige Gefahr besteht vielmehr darin, dass die Grundlagen für eine zufrieden-stellende Ausbildung nicht erst in der Schule gelegt werden. Ob ein Schüler lernfähig ist, hängt entscheidend davon ab, dass schon in frühen Jahren, etwa ab dem 3. oder 4. Lebensjahr die Weichen für die Lernbereitschaft und Lernfähigkeit gelegt werden. In diesem Alter beginnen die Kinder nach dem ‚Wie‘ und dem ‚Warum‘ aller Ereignisse um sie herum zu fragen.

 

Eine Lernbereitschaft und Lernfähigkeit kann sich nur herausbilden, wenn die Eltern auf diese Fragen eingehen und sie nicht abblocken. Erhalten die heranwachsenden Kinder sie zufriedenstellende Antworten, so gewinnen sie Freude am Lernen, sie erhalten Anreize weiter zu fragen, während dann, wenn ihre Fragen nur als lästig empfunden werden, Anreize gesetzt werden, das Fragen aufzugeben. Diese Kinder verlieren zumeist das spätere Interesse am ernsthaften Lernen.

 

Hier bestehen Gefahren, dass auch dann, wenn die materiellen Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass alle Kinder die Möglichkeit erhalten, sich einer Schul- und Berufsausbildung zu unterziehen, die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft an einer unzureichenden Mitwirkung in der Familie scheitern. Und gerade in diesen Faktoren liegt es dann oftmals begründet, dass Armut bei ganz bestimmten familiären Verhältnisse immer wieder von neuem entsteht.

 

Dies gilt auch insbesondere für zahlreiche eingewanderte Familien, bei denen die Eltern die deutsche Sprache nicht beherrschen und deshalb auch nicht in der Lage sind, ihre Kinder, die in den Schulen in deutscher Sprache unterrichtet werden, zu unterstützen. Die Kinder dieser Eltern geraten dann gegenüber den Kindern deutscher Familien sehr schnell ins Hintertreffen, sie erfahren in ihrer eigenen Familie sowohl beim Erlernen der deutschen Sprache wie auch beim Erlernen des in deutscher Sprache umschriebenen Lernstoffes keinerlei Hilfe vom Elternhaus.

 

Ein Kind, das sich auch im Elternhaus permanent in Deutsch unterhält, lernt die deutsche Sprache zu beherrschen natürlich sehr viel schneller und besser als Kinder, welche nur in der Schule Gelegenheit haben, die deutsche Sprache einzuüben. Wir hatten bereits gesehen, dass ohne Sprachkenntnisse in Deutsch kaum noch Arbeitsplätze angeboten werden, sodass diese Jugendlichen oft ohne Arbeit bleiben und  aus diesen Gründen schließlich arbeitslos und damit arm werden.

 

Ist ein Arbeitnehmer einmal für längere Zeit (für mehrere Jahre) arbeitslos, so ist hier bereits die Wurzel für eine weitere spezifische Art der Verarmung gelegt. Wir haben nicht nur davon auszugehen, dass ein Arbeitnehmer, welcher für längere Zeit arbeitslos geworden ist, immer größere Schwierigkeiten haben wird, einen neuen Arbeitsplatz zu erhalten, die Fähigkeiten, die der einzelne während seines Berufslebens erlernt (sein human capital) werden immer mehr verlernt, auch werden sie aufgrund der technischen Weiterentwicklung immer mehr veraltet.

 

Es kommt nun hinzu, dass gerade aus diesen Gründen Armut im Alter entsteht. Mit dem Alter wird die Arbeitsfähigkeit abgebaut, auch die Bereitschaft der Unternehmungen, ältere Arbeitnehmer einzustellen, ist äußerst gering, gerade weil befürchtet wird, dass mit dem Alter die beruflichen Fähigkeiten zurückgehen. Wir wollen an dieser Stelle die Frage unbeantwortet lassen, ob diese Befürchtungen zu recht bestehen, da mit dem Alter zwar die physischen Fähigkeiten in der Regel zurückgehen, gleichzeitig aber der berufliche Erfahrungsschatz und auch oft die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ansteigt. Wichtig ist in unserem Zusammenhang allein, dass diese vielleicht falschen Vorstellungen in Unternehmerkreisen weit verbreitet sind.

 

Bleibt ein Arbeitnehmer längere Zeit arbeitslos, so vermindert sich nicht nur sein Einkommen, sondern auch die Beiträge zur Rentenversicherung gehen automatisch zurück, da sie als Prozentsatz des jeweiligen Einkommens erhoben werden. Die Rentenhöhe im Alter berechnet sich aber danach, wie viel Einkommen der einzelne während der Erwerbsarbeit erzielt hat und wie viel Jahre er erwerbstätig war. Lange Arbeitslosigkeit führt also automatisch zu geringeren Renten. Und da die Renten ohnehin so berechnet sind, dass die Arbeitnehmer im Ruhestand einen deutlichen Wohlfahrtsverlust gegenüber der Zeit der Erwerbstätigkeit erfahren, ist die Gefahr groß, dass ein beachtlicher Teil der Arbeitnehmer wegen ihrer längeren Arbeitslosigkeit auch im Alter wegen zu geringer Rente in Armut versinkt.

 

Nun gehen wir heute davon aus, dass die Rente aus der gesetzlichen Altersversicherung nicht mehr ausreicht, den im bisherigen Berufsleben erreichten Wohlstand zu halten, dass zusätzliche Leistungen durch eine Betriebsrente sowie durch eigene Vorsorge (Ersparnisse, Wohneigentum oder zusätzliche Lebensversicherung) hinzukommen sollten. Aber gerade diese zusätzlichen Leistungen fehlen beim Langzeitarbeitslosen. Da er weniger Jahre beschäftigt war, wird auch eine eventuelle Betriebsrente geringer ausfallen und da schon im Berufsleben die Einkünfte kaum ausreichen, um das Leben während dieser Zeit zu fristen, bleibt natürlich für Ersparnisse und Altersvorsorge ebenfalls kaum etwas übrig.

 

 

2d.  Zusätzlicher Bedarf aufgrund der Familiengröße

 

Für die Frage, bei welcher Höhe des Einkommens die Armutsgrenze liegt und ob ein einzelner diese Grenze unterschreitet, ist nicht nur die Höhe des Arbeits- wie Kapitaleinkommens maßgeblich, es kommt vielmehr – wie bereits angedeutet – auch darauf an, wie viel Personen mit diesem Einkommen ernährt werden müssen. Selbstverständlich liegt die Armutsgrenze für einen Alleinstehenden bei einem geringeren Einkommen als der Bedarf einer mehrköpfigen Familie. Man könnte fürs erste von einem Pro-Kopf-Einkommen ausgehen und unterstellen, dass jedes Mitglied einer Familie in etwa einen gleichhohen Mindestbedarf aufweist.

 

Diese Feststellung gilt allerdings nur als eine erste, grobe Annäherung an das Problem. Wie wir weiter unten sehen werden, kann der existentielle Bedarf einzelner Individuen durchaus von Person zu Person variieren, so haben Kleinkinder einen anderen Mindestbedarf als heranwachsende Jugendliche, diese wiederum einen anderen als berufstätige Erwachsene oder ältere sich im Ruhestand befindenden Menschen. Auch wird z. B. der Kalorienbedarf oder der Bedarf an Kleidung von klimatischen Bedingungen und von der individuellen Konstitution bestimmt.

 

Auf der anderen Seite hängt der Pro-Kopf-Bedarf einer Familie auch von der jeweiligen Familiengröße ab. Kommen zu einer Familie weitere Personen hinzu, so steigt zwar der Gesamtbedarf der Familie, jedoch kann man davon ausgehen, dass der Zuwachs an benötigtem Einkommen (der sogenannte Grenzbedarf) mit jedem weiteren Familienmitglied leicht sinkt.

 

Der Grund hierfür liegt darin, dass auch innerhalb der Familie zwischen fixen und variablen Kosten unterschieden werden kann, es gibt Ausgaben, welche nur einmal gemacht werden müssen und andere die pro Kopf einer Familie anfallen. So bedarf auch ein Ein-Personen-Haushalt z. B. gewisser Einrichtungen wie Toilette, Bad, Küche, Fernsehen etc., welche unabhängig von der Familiengröße benötigt werden, die also auch von weiteren Familienmitgliedern mitbenutzt werden können. Auch ist davon auszugehen, dass in dem Maße, in dem bestimmte Aufgaben für mehrere Personen anfallen, durchaus gewisse Ersparniseffekte auftreten, die Pro-Kopf-Ausgaben für das Essen werden im Allgemeinen mit der Familiengröße leicht sinken.

 

 

 2e. Das unterschiedliche Auftreten sozialer Risiken

 

Aber nicht nur die Familiengröße entscheidet darüber, bei welchem Familieneinkommen die Armutsgrenze liegt. Auch der individuelle Mindestbedarf variiert, einzelne Beispiele eines unterschiedlichen Bedarfs haben wir bereits kennen gelernt. Wir müssen vor allem davon ausgehen, dass im Zusammenhang mit dem Auftreten der sozialen Risiken von Krankheit und Unfall Armut nicht nur deshalb entstehen kann, weil die Erwerbsfähigkeit der von diesen Risiken betroffenen Personen beeinträchtigt wird, sondern dass zur Behandlung dieser Risikotatbestände zusätzliche materielle Ressourcen benötigt werden und dass aus diesen Gründen auch der Pro-Kopf-Bedarf der einzelnen Individuen unterschiedlich hoch ausfällt.

 

Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Existenzminimum besitzt, so bezieht sich diese Forderung also nur vordergründig auf die Höhe des Mindesteinkommens. Mit Hilfe dieses Einkommens sollen bestimmte Grundbedürfnisse befriedigt werden und wir können nicht davon ausgehen, dass diese Grundbedürfnisse bei allen Menschen ein gleichhohes Einkommen erfordern. Es kommt primär nicht darauf an, dass jeder einzelne über ein bestimmtes Realeinkommen verfügt, sondern dass jeder einen bestimmten Mindestbedarf realisieren kann, wobei der gleiche Mindestbedarf bei unterschiedlichen Menschen (z. B. Kranke und Gesunde) eine unterschiedliche Einkommenshöhe verlangt.

 

 

3. Teil: Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut

 

1. Vorbemerkung

 

Im ersten Teil dieses Artikels haben wir gezeigt, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut im Wandel der Menschheitsgeschichte ergriffen wurden. In diesem dritten Teil geht es weniger um konkrete Einzelmaßnahmen, die eingeführt oder diskutiert wurden, sondern wir wollen uns hier darauf beschränken, die Frage zu klären, welche Arten der Armutsbekämpfung bekannt sind und nach welchen Kriterien die Überlegenheit dieser Maßnahmenkomplexe beurteilt werden kann.

 

Ein erster Unterschied in der Vielzahl der zur Diskussion stehenden Maßnahmen besteht darin, dass ein Teil dieser Instrumente am Symptom ansetzt, dass ähnlich wie die Feuerwehr erst anrückt, wenn das Feuer bereits ausgelöst wurde, auch hier Maßnahmen ergriffen werden, welche die Notlage der bereits in Armut lebenden Menschen einigermaßen zu lindern versuchen. Es ist dies der Weg, der im Rahmen der Fürsorge- bzw. Sozialhilfeeinrichtungen beschritten wird. Wie wir im ersten Teil dieses Artikels bereits gesehen haben, wurde vor dem 20. Jahrhundert fast nur dieser Weg beschritten.

 

Einem ganz anderen Weg zur Bekämpfung von Armut begegnen wir dort, wo man die Ursachen der Armut zu bekämpfen versucht und damit dazu beiträgt, dass Armut überhaupt nicht entsteht oder – da diese Hoffnung natürlich utopisch wäre – dass das Auftreten der Armut stark reduziert wird. Dieser Weg wurde erst im letzten Jahrhundert beschritten, ja man kann sogar sagen, dass eine systematische Bekämpfung der Armut bis heute allenfalls in ersten Ansätzen beschritten wird.

 

Natürlich ist es richtig, dass einzelne Bestimmungsgründe für das Entstehen von Armut auch schon längere Zeit bekämpft werden, denken wir an die Bemühungen zur Erreichung von Vollbeschäftigung im Rahmen der keynesianischen Konjunkturpolitik, die bereits in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeleitet wurden oder – um ein zweites Beispiel zu erwähnen – denken wir an die Ansätze, jedem Bürger eine schulische Mindestausbildung und allen Jugendlichen eine Lehrstelle zu vermitteln.

 

Wir haben im zweiten Teil dieses Artikels, der sich mit den Ursachen der Verarmung auseinandergesetzt hat, gesehen, dass Arbeitslosigkeit und fehlende Ausbildung in der Tat zwar nicht zu den einzigen, aber doch wichtigsten Bestimmungsgründen der Verarmung gezählt werden können. In diesem Sinne kann man sicherlich davon sprechen, dass hier gezielt versucht wird, wichtige Ursachen der Armut zu beseitigen bzw. zu vermindern.

 

Diese Maßnahmen wurden jedoch nicht primär eingeführt, um auf diese Weise Armut zu bekämpfen – natürlich war man sich immer schon darüber klar, dass Arbeitslosigkeit dann in die Armut führen kann, wenn sie für den einzelnen längere Zeit andauert. Trotzdem ging es im Rahmen der keynesianischen Beschäftigungspolitik primär darum, den Konjunkturabschwung zu überwinden und Arbeitslosigkeit galt vor allem deshalb als zu bekämpfendes Übel, weil man von der Zielvorstellung ausging, dass jeder Arbeitnehmer ein Recht auf Arbeit habe.

 

Ähnliches kann auch für die Bildungspolitik gesagt werden. Auch hier war man sich natürlich schon immer darüber im Klaren, dass mangelnde Ausbildung Armut verursachen kann, aber auch hier stand im Vordergrund der bisherigen Bildungspolitik die Zielsetzung, allen Bürgern möglichst gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, also das sogenannte Bildungsmonopol abzuschaffen, bei dem die Ausbildung, vor allem die weiterführende Ausbildung an den Gymnasien und Hochschulen nur einem kleinen Kreis privilegierter Bürger – zwar zumeist nicht im rechtlichen, aber doch faktischen Sinne – vorbehalten war.

 

Darüber hinaus kann man natürlich in gewissem Sinne auch bei den Fürsorgeeinrichtungen davon sprechen, dass hier nur vordergründig Armut abgebaut wird. Erhalten alle Bürger, die kein Erwerbseinkommen in Höhe des Existenzminimum erzielen, Sozialhilfe, und wird diese so bemessen, dass die den Armen gewährten Transfereinkommen in der Summe zusammen mit den Erwerbseinkommen der Armutsgrenze entsprechen, sind diese Bürger nach der offiziellen Definition der Armut eben gerade nicht mehr als arm zu bezeichnen.

 

Dies wäre jedoch nur eine sehr vordergründige Sicht. Das Ziel einer Armutspolitik muss immer darin bestehen, dass jeder Bürger aus eigenen Anstrengungen, also durch erwerbswirtschaftliche Arbeit Einkünfte erzielt, welche zumindest dem kulturellen Existenzminim entsprechen. Die im Grundgesetz geschützte Menschenwürde verlangt nicht nur, dass jeder Bürger über ein Mindesteinkommen in Höhe des kulturellen Existenzminimum verfügt, sondern darüber hinaus, dass auch jeder Bürger in die Lage versetzt werden sollte, ein Einkommen in dieser Höhe aus eigenen Kräften zu erlangen. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip soll sich soziale Hilfe vorwiegend auf Hilfe zur Selbsthilfe beschränken.

 

Es kann also kein Zweifel bestehen, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der Ursachen der Armut eindeutig allen Fürsorgeeinrichtungen überlegen sind, – da wie gezeigt – mit Fürsorgemaßnahmen allein niemals das Grundziel, allen Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, erfüllt werden kann. In diesem Sinne hat eine Politik zur Bekämpfung von Ursachen immer den Vorrang vor Sozialhilfemaßnahmen.

 

Es wäre jedoch falsch, wollte man sich nur auf eine Politik der Bekämpfung von Ursachen beschränken und auf jegliche Sozialhilfeeinrichtungen verzichten. Erstens können wir nicht davon ausgehen, dass es uns je gelingen wird, Armut vollkommen zu beseitigen, in dem Sinne, dass alle – und zwar restlos alle – Bürger aus eigenen Anstrengungen ein Einkommen mindestens in Höhe des kulturellen Existenzminimums erlangen können. Noch so vorbildliche Maßnahmen zur Beseitigung aller Bestimmungsgründe für Armut können nicht verhindern, dass trotzdem – aufgrund persönlicher Schicksalsschläge – Armut immer wieder vereinzelt auftritt.

 

Zu zahlreich sind die persönlichen Schicksalsschläge, welche zu Armut führen können, seien es Unfälle, schwere Krankheiten mit Arbeitsbehinderungen, sei es ein Konkurs eines Selbständigen oder eine Missernte oder auch Naturkatastrophen, welche selbständige Landwirte in Armut stürzen können. Weder ist es möglich, einen Zustand zu erreichen, bei dem alle diese Auslösungsfaktoren vermieden werden, noch können Vorkehrungen getroffen werden, welche verhindern, dass diejenigen, welche von derartigen Schicksalsschlägen betroffen werden, soweit Vorsorge getroffen haben, dass sie trotzdem nicht in Armut versinken und deshalb nicht auf die Hilfe der Gesellschaft angewiesen sind.

 

Unsere Gesellschaft hat einen so hohen Komplexitätsgrad erreicht, dass es ganz unmöglich ist, alle Ursachen von Geschehnissen, also auch von der Entstehung von Armut zu kennen. Selbst dann, wenn man durch intensive Forschung, ein vollständiges Bild aller bisher auftretenden Ursachen für Missstände erreicht hätte – was wohlbemerkt nicht möglich ist – müsste trotzdem damit gerechnet werden, dass immer wieder neue, bisher nicht aufgetretene und deshalb nicht bekannte Ursachen für Katastrophen entstehen.

 

Auf der einen Seite entwickeln sich unsere Erde und unser Planetensystem weiter und hieraus entsteht immer wiederum die Notwendigkeit, sich an diese Veränderungen in der Natur anzupassen, auf der anderen Seite wissen wir seit einiger Zeit, dass die durch den Menschen durchgeführten Veränderungen in der Produktionstechnik selbst zu einigen Naturkatastrophen beigetragen haben, denken wir z. B. an die Erwärmung der Erde und die Zerstörung der Atmosphäre durch Ausstoß von Kohlendioxid und Schwefel und anderen Umweltgiften.

 

Aber selbst dann, wenn wir diesen Prozess soweit in Griff bekämen, dass wir in Zukunft alle wesentlichen Ursachen der Armutsentstehung beseitigen könnten, so würde dieser Prozess doch Zeit benötigen, in welcher Armut – wenn auch nur vorübergehend – entstehen würde. Und da diese natürlichen Veränderungen immer wiederum aufgrund der oben aufgezeigten Zusammenhänge auftreten werden, wäre die Entstehung von Armut auch nicht nur ein einmaliges und vorübergehendes Ereignis. Wir haben vielmehr davon auszugehen, dass uns Armut immer begleiten wird, stets wird es zumindest vereinzelte Bürger geben, die in Armut fallen.

 

Dies bedeutet, dass wir uns nicht auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Ursachen für Armut beschränken können, Ursachenbekämpfung ist zwar notwendig und sogar vorrangig, aber stets bedarf es auch einiger Sozialhilfeeinrichtungen, um die Armut, die trotz dieser Bekämpfung entsteht, abzumildern.

 

 

2. Kurieren am Symptom versus Ursachenbekämpfung

 

Als typisches Beispiel einer Maßnahme, die an den Symptomen ansetzt und keine Bekämpfung der eigentlichen Ursachen der Armutsentstehung vorsieht, haben wir weiter oben die Sozialhilfeeinrichtungen angesehen. Diese Einrichtungen sind zwar ein sehr wichtiges Beispiel einer symptomatischen Bekämpfung von Armut, aber keinesfalls das einzige.

 

Als erstes ist darauf hinzuweisen, dass auch die gesamten Einrichtungen der sozialen Sicherheit durchaus dieser Kategorie von politischen Einrichtungen zugerechnet werden müssen. Die gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherungen haben ebenfalls vorrangig die Aufgabe, den Personen materiell zu helfen, die von Krankheit, Unfällen oder Arbeitslosigkeit heimgesucht wurden. Zwar gibt es gerade in den letzten Jahrzehnten gewisse Ansätze in diesen Einrichtungen, auch ursächlich auf die Entstehung dieser Risikotatbeständen einzuwirken, das Hauptziel dieser Einrichtungen besteht aber immer darin, denjenigen zu helfen, die bereits von diesen Risiken befallen wurden.

 

Der Unterschied zwischen den allgemeinen Einrichtungen der sozialen Sicherheit (Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung) und den Sozialhilfeinstitutionen besteht vorwiegend darin, dass die Sozialversicherungen (oder auch Versorgungswerke) nur dann tätig werden, wenn der durch soziale Risiken ausgelöste Bedarf auf ganz bestimmte Tatbestände zurückzuführen ist, die Krankenversicherung z. B. gewährt eben nur dann Hilfen, wenn der zusätzliche Bedarf durch Krankheit ausgelöst wurde.

 

Die Aufgabe der Sozialhilfeeinrichtungen besteht demgegenüber darin, in all den Fällen einzuspringen, in denen die Einrichtungen der Sozialversicherung keinen Schutz gewähren, die Sozialhilfe stellt also gewissermaßen das soziale Netz dar, in das die in Not geratenen Bürger fallen, wenn keine der sonstigen Einrichtungen der Sozialversicherung zuständig ist, sei es, dass die Not gar nicht durch diese spezifischen Risikotatbestände wie Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit ausgelöst wurde, sei es, dass zwar der zusätzliche Bedarf auf eines dieser Risiken zurückgeführt werden kann, einzelne Betroffene jedoch – aus welchen Gründen auch immer – keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung haben.

 

Zumindest solange, wie die Fürsorgeeinrichtungen noch nicht durch die Sozialhilfe abgelöst worden sind, lag ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen Fürsorge und Sozialversicherung darin, dass auf die Leistungen der Sozialversicherung ein Rechtsanspruch bestand, dass darüber hinaus die Höhe und zeitliche Länge dieser Leistungen davon abhängig gemacht werden, wie viel der Betroffene in der Vergangenheit in diese Einrichtung in Form von Beiträgen eingezahlt hat, schließlich bestand das Ziel der Sozialversicherung nicht nur darin, ein Existenzminimum zu sichern, sondern dafür Sorge zu tragen, dass das Wohlfahrtsniveau der von den sozialen Risikotatbeständen Betroffenen nicht zu stark absinkt.

 

In den Fürsorgeeinrichtungen hingegen bestand bis zum Übergang zur Sozialhilfe kein Rechtsanspruch auf Hilfe, die Hilfe richtete sich allein am Bedarf des jeweiligen aus und es geht nur darum, ein Existenzminimum zu sichern. Für den einzelnen Betroffenen wurde der Tatbestand, dass er auf die Fürsorge angewiesen war, als ein sozialer Abstieg empfunden, der oftmals auch zu einer sozialen Diffamierung führte.

 

Gerade diese letztgenannte Gefahr war der Anlass dafür, dass man in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg (im Jahre 1962) die Fürsorge durch die Sozialhilfe ablöste, um diesen diffamierenden Charakter der Hilfe zu beseitigen und den Betroffenen sehr wohl einen Rechtsanspruch auf Hilfe zu gewähren. Aber auch nach dieser Änderung bleibt bestehen, dass die Abhängigkeit von Sozialhilfe von den Betroffenen als diskriminierend empfunden wird, weil auch die Sozialhilfe nicht mehr als das allernotwendigste gewähren kann und weil Sozialhilfe immer voraussetzt, dass die Bedürftigkeit durch oftmals sehr peinliche Befragungen und Offenlegungen der Familien- und Vermögensverhältnisse zunächst einmal nachgewiesen werden muss.

 

Zu den Maßnahmen einer symptomatischen Bekämpfung von Armut zählen allerdings nicht nur all die Einrichtungen, welche den Bürgern bei Armut und im Falle des Eintretens sozialer Risikotatbeständen Transferzahlungen leisten. In der letzten Zeit wird wiederholt vor allem von Seiten der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei die Forderung erhoben, in der gesamten Wirtschaft einen gesetzlichen Mindestlohn vorzusehen. Gerade im Zusammenhang mit der Veröffentlichung  des letzten Armutsberichts wurde diese Forderung wiederholt und die Meinung vertreten, dass auf diese Weise verhindert werden könnte, dass Arbeitnehmer mit ihrem Einkommen unter die Armutsgrenze fallen und auf diese Weise zu Sozialhilfeempfängern würden.

 

Richtig ist an diesen Überlegungen allein, dass es – wie wir auch bereits weiter oben gesehen haben – in der Tat nicht nur darauf ankommt, den von Armut Betroffenen materielle Unterstützungen zu gewähren, sondern dass wir darauf hinwirken sollten, dass jeder Bürger durch eigene Anstrengungen ein Einkommen erwerben kann, das zumindest sein Existenzminimum abdeckt. Insofern ist es richtig, eine Wirtschaftsordnung anzustreben, in der nahezu jeder Arbeitnehmer einen Lohn erhält, der diesen Ansprüchen entspricht.

 

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ein geeignetes Mittel darstellt, um diese Ziele auch zu erreichen. In einer weltweit verflochtenen Volkswirtschaft können Zielsetzungen (wie z. B. die Sicherstellung einer bestimmten Mindestlohnhöhe) eben nicht einfach dadurch erreicht werden, dass ihre Realisierung per Gesetz verordnet wird. In einer freien Marktwirtschaft kann niemand dazu gezwungen werden, das ihm zur Verfügung stehende Kapital und die Arbeitskraft als Unternehmer gerade hier in Deutschland einzusetzen. Wenn Kapital und unternehmerische Leistung in anderen Ländern einen höheren Ertrag versprechen, wird über kurz oder lang Kapital und Unternehmungsleistung in diese Länder abwandern.

 

Ein vom Staat verordneter Mindestlohn ist nicht in der Lage, auf lange Sicht die materielle Situation gerade der Arbeitnehmer in den untersten Einkommensklassen nachhaltig zu verbessern. Entweder wird der gesetzliche Mindestlohn so niedrig angesetzt, dass er unterhalb der Arbeitsproduktivität liegt, dann hat er keinerlei Auswirkungen, weder im positiven Sinne (in dem die materielle Lage dieser Arbeitnehmergruppe verbessert wird), noch im negativen Sinne (dass sich nämlich die Beschäftigungsmöglichkeiten dieser Arbeitnehmer sogar noch verschlechtern.)

 

Wird jedoch der gesetzliche Mindestlohn so hoch angesetzt, dass er über der Arbeitsproduktivität liegt, dann werden auf lange Sicht die Unternehmungen bestrebt sein, aufgrund des Anstiegs dieser Arbeitskosten diese Arbeit durch Kapital zu substituieren oder diese Arbeiten im Ausland, in  dem die Arbeitskosten noch geringer ausfallen, verrichten zu lassen. Es besteht in diesem Falle die Gefahr, dass diese Arbeitnehmergruppe noch größere Schwierigkeiten hat, einen Arbeitsplatz zu erlangen oder Gefahr läuft, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. In diesem Falle hat sich jedoch die Lage der Betroffenen nicht verbessert, sondern massiv verschlechtert: Sie haben nicht nur ihre Arbeit verloren, sondern erhalten als Sozialhilfeempfänger (bzw. als Hartz IV- Empfänger) weniger Einkünfte als bisher.

 

Will man die materielle Lage dieser Arbeitnehmergruppe verbessern, so kann man dies nur dadurch erreichen, dass man nach den eigentlichen Ursachen fragt, die diese Situation ausgelöst haben (dies haben wir im zweiten Teil dieses Artikels getan) und die langfristigen Ursachen der Verarmung beseitigt. Vor allem muss dafür Sorge getragen werden, dass der Ausbildungsstand der Arbeitnehmer gerade im unteren Bereich verbessert wird. Natürlich wird eine solche Politik erst auf lange Sicht Erfolge aufweisen, den Arbeitnehmern im fortgeschrittenen Alter wird dieser Maßnahmenkomplex nicht mehr zugutekommen, da die Fähigkeit zur Fortbildung mit wachsendem Alter zurückgeht.

 

Also wird auch in diesem Zusammenhang das gelten, was wir bereits weiter oben festgestellt haben, dass eine Politik der Bekämpfung der Ursachen immer auch begleitet sein muss durch Hilfen für diejenigen, welche bereits in Armut gefallen sind. Vorschläge zur Schaffung eines sekundären Arbeitsmarktes, in dem diese Gruppe beschäftigt werden kann, sind sicherlich besser geeignet, die hier anstehenden Probleme zu meistern. (Zur Vertiefung siehe mein Artikel über kritische Anmerkungen zu einigen lohnpolitischen Konzepten in dem Archiv dieser Homepage).

 

 

3. Bekämpfung allgemeiner Armut versus Armut inmitten von Reichtum

 

Neben der Unterscheidung zwischen symptomatischen und Ursachen bekämpfenden Maßnahmen haben wir weiterhin die möglichen Politikbereiche danach zu unterscheiden, ob das eigentliche Ziel dieser Politik darin besteht, eine allgemeine Verarmung der Bevölkerung zu bekämpfen oder ob es lediglich darum geht, Armut vereinzelter Bevölkerungsgruppen bei allgemeiner Wohlfahrt einer Bevölkerung zu beseitigen. Wir haben bereits im zweiten Teil dieses Artikels gesehen, dass natürlich Zusammenhänge zwischen diesen beiden Politikbereichen bestehen, als es immer einzelne Personen sind, welche als Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit befallen werden oder die als selbständiger Landwirt Opfer einer Missernte z. B. wegen Hagels oder Überschwemmung werden.

 

Mit diesem Hinweis enden jedoch bereits die Gemeinsamkeiten. Es sind immer Mängel in der Struktur einer Volkswirtschaft oder in der Verteilung der Einkommen, welche zur Folge haben, dass trotz allgemeinen Wohlstandes einzelne Bevölkerungsgruppen schließlich in Armut fallen. Deshalb bedarf es recht unterschiedlicher Maßnahmen einerseits zur Bekämpfung einer allgemeinen Verarmung der gesamten Bevölkerung und andererseits zur Reduzierung von Armut einzelner Bevölkerungsgruppen. Wir wollen im Folgenden diese Unterschiede anhand zweier Beispiele verdeutlichen.

 

Beginnen wir zunächst einmal mit der Annahme, die Verarmung entweder der gesamten Bevölkerung oder auch nur vereinzelter Bevölkerungsgruppen sei letztendlich durch Arbeitslosigkeit hervorgerufen worden. Eine Armutspolitik, welche an den Ursachen ansetzt, wird also darin bestehen, die Ursachen der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ist ein großer Teil der Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit betroffen, liegt eine konjunkturelle oder auch säkulare, also eine gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit vor, während bei Arbeitslosigkeit, welche sich auf einzelne Berufe oder Wirtschaftszweige beschränkt, eine strukturelle Arbeitslosigkeit gegeben ist.

 

Bekanntlich bedarf es nun zur Bekämpfung einer gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit ganz anderer Instrumente als zur Therapie von struktureller Arbeitslosigkeit. Folgen wir der keynesianischen Theorie, so wird das Auftreten einer gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit mit einem Rückgang in der Güternachfrage erklärt, die durch Mängel auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst werden. Die Konsumnachfrage geht aus konjunkturellen Gründen zurück, es wird mehr gespart und diese Veränderung müsste nun eigentlich zu einer Zinssenkung und diese hinwiederum zu einer Erweiterung der Investitionsnachfrage führen. Arbeitskräfte würden zwar im Konsumgüterbereich entlassen, könnten jedoch im Investitionsgüterbereich wiederum eine Beschäftigung finden, sodass bei funktionierendem Kapitalmarkt trotz eines vorübergehenden konjunkturellen Abschwungs Vollbeschäftigung erhalten werden könnte.

 

Nach Vorstellung von J. M. Keynes funktioniert jedoch der Kapitalmarkt nicht mehr reibungslos. Ein Teil der Ersparnisse werde gehortet, man gehe davon aus, dass man mit baldigen Zinssteigerungen rechne, Zinssteigerungen bedeuteten jedoch bei den festverzinslichen Wertpapieren Kursverluste und diese Erwartungen über mögliche Kursverluste halte die Anbieter von Kapital vom Kauf der Wertpapiere ab.

 

Aber selbst dann, wenn das Kapital auf den Kapitalmärkten angeboten würde und  deshalb weitere Zinssenkungen eintreten würden, würden diese nicht ausreichen, die Unternehmer zu Mehrinvestitionen anzuregen. Die Produktionskapazitäten seien aufgrund des Rückgangs im Konsum ohnehin nicht voll ausgelastet, sodass die Unternehmungen auch keine Ausweitung der Produktionskapazitäten durch Mehrinvestitionen planen würden.

 

Wegen dieser Mängel auf den Kapitalmärkten haben die Keynesianer empfohlen, dass der Staat den Rückgang in der Güternachfrage über Budgetdefizite auszugleichen hätte. Vollbeschäftigung könne erreicht werden, wenn sichergestellt werde, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch Erhöhung der defizitär finanzierten Staatsausgaben auf ein Niveau angehoben werde, das dem bei Vollbeschäftigung möglichen Güterangebot entspricht.

 

Wir wollen einmal außer Acht lassen, dass man diese keynesianische Diagnose bezweifeln kann, dass Arbeitslosigkeit auch durch Mängel auf dem Arbeitsmarkt (aufgrund zu geringer Flexibilität in den Löhnen sowie zu geringer Mobilität in der Arbeitsnachfrage und im Arbeitsangebot) ausgelöst sein kann. Auf jeden Fall ist sicher, dass wir strukturelle Arbeitslosigkeit auf dem Wege einer gesamtwirtschaftlichen Nachfragesteigerung nicht beseitigen können.

 

Bei einer strukturellen Arbeitslosigkeit ist nämlich nicht die Gesamtnachfrage nach Arbeit zu gering, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kann durchaus einem Gesamtangebot, das bei Vollbeschäftigung möglich wäre, entsprechen. Arbeitslosigkeit entsteht hier dadurch, dass die nachgefragten Qualifikationen in den Arbeitskräften nicht dem Angebot entsprechen; in dem einen Wirtschaftszweig (oder auch Beruf) werden mehr Arbeitskräfte angeboten als nachgefragt, während in einem anderen Wirtschaftszweig (oder Beruf) weniger Arbeitskräfte angeboten als nachgefragt werden.

 

An dieser Situation würde sich nichts Entscheidendes ändern, wenn man nun die Gesamtnachfrage nach Gütern und damit auch die hierdurch induzierte Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhen würde. Die Knappheit auf den einen Märkten würde nur noch verschärft, ohne dass die Arbeitslosigkeit auf den anderen Märkten entscheidend verringert werden könnte.

 

Wenn es z. B. bestimmten Unternehmungen an Ingenieuren mangelt, so werden sie die Produktion nicht ausweiten können und infolgedessen führt eine Mehrnach-frage nach Produkten trotzdem nicht zu einer Mehrnachfrage nach weniger oder anders ausgebildeten Arbeitskräften. Hier würde nur ein zusätzlicher Bedarf an weniger ausgebildeten Arbeitskräften entstehen, wenn auch zusätzliche Ingenieure eingestellt werden könnten, da es jedoch annahmegemäß an diesen Fachkräften mangelt, kommt es gar nicht zur Mehrproduktion, aufgrund derer auch mehr sonstige (bisher arbeitslose) Arbeitskräfte eingestellt werden könnten.

 

Bringen wir ein zweites Beispiel dafür, dass gesamtwirtschaftliche Ursachen andere Maßnahmen notwendig machen als Ursachen, die auf kleinere Bevölkerungsgruppen beschränkt bleiben. Wir haben im zweiten Teil dieses Artikels bereits gesehen, dass eine mangelnde Ausbildung einerseits das allgemeine Wohlfahrtsniveau negativ beeinflussen und damit auch eine weitverbreitete Armut hervorrufen kann als auch andererseits dafür verantwortlich sein kann, dass einzelne Arbeitnehmer keinen Arbeitsplatz finden und wegen langanhaltender Arbeitslosigkeit schließlich verarmen.

 

Zu Beginn der Industrialisierung in Deutschland war das Bildungsniveau der Jugendlichen verheerend schlecht. Es gab noch keine allgemeine Schulpflicht, die Kinder mussten schon sehr früh erwerbswirtschaftlich arbeiten, damit die Familien zumindest ein Existenzminimum erreichten, sie konnten deshalb auch nicht regelmäßig zur Schule gehen.

 

Hier brachte die Einführung der allgemeinen Schulpflicht eine Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus unter den Arbeitnehmern. Die Voraussetzungen dafür, dass die Arbeitnehmer auch bei Einführung neuer Techniken nicht mehr arbeitslos wurden oder blieben, stiegen an. Diese bildungspolitischen Maßnahmen haben neben anderen Faktoren somit entscheidend dazu beigetragen, dass das Wohlfahrtsniveau der Bevölkerung steigen konnte und dass die Masse der Arbeitnehmer nicht mehr Gefahr lief, zu verarmen.

 

Ganz andere Maßnahmen sind notwendig, wenn heutzutage ein Teil der Arbeitnehmer aus bildungspolitischen Mängeln heraus keinen Arbeitsplatz findet und auf diese Weise schließlich verarmt. Diese Mängel liegen nicht mehr daran, dass es in gewissen Gegenden Deutschlands keine Schulen gibt oder dass die Eltern nicht verpflichtet sind, ihre Kinder auf die Schule zu schicken.

 

Der eigentliche Grund für eine mangelhafte Grundausbildung liegt vielmehr zum Teil beispielweise darin, dass in zahlreichen Familien mit einem Immigrationshintergrund zuhause nicht deutsch gesprochen wird, obwohl diese Familien teilweise schon in mehreren Generationen nach Deutschland eingewandert waren. Die Kinder lernen dann zwar – wie bereits angedeutet – in der Schule genauso wie die anderen Kinder Lesen und Schreiben; während jedoch die übrigen Kinder die Möglichkeit haben, das in der Schule gelernte Grundwissen in der Familie durch eine Unterhaltung in deutscher Sprache einzuüben, bestehen diese Möglichkeiten für Kinder aus Einwanderungsfamilien nicht, sie haben deshalb größere Schwierigkeiten, die deutsche Sprache zu erlernen und bleiben deshalb auch beim übrigen Lernstoff hinter dem Niveau der übrigen Kinder.

 

Diese Schwierigkeiten entstehen, obwohl in Deutschland schon lange Schulpflicht besteht und dafür Sorge getragen wird, dass in fast allen Gegenden allgemeine Schulen vorhanden sind, es bedarf deshalb auch ganz anderer Maßnahmen, um diese spezifischen bildungspolitischen Mängel zu beseitigen.

 

Um bei unserem Beispiel zu bleiben, es muss auf der einen Seite sichergestellt werden, dass nur solche Familien dauerhaft nach Deutschland einwandern dürfen und die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben können, wenn sie die deutsche Sprache beherrschen oder zumindest bereit sind, die deutsche Sprache zu erlernen. Auf der anderen Seite könnten z. B. Ganztagsschulen dazu beitragen, dass auch diese Kinder die Möglichkeit erhalten, sich über den ganzen Tag hinweg auf Deutsch zu unterhalten und so die deutsche Sprache genauso gut erlernen können wie die übrigen Jugendlichen.