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Ist die CDU sozialdemokratisch?

 

In den letzten Wochen wird sowohl von einzelnen CDU-Politikern wie vor allem auch in den sozialen Medien der Vorwurf erhoben, die CDU verliere immer mehr ihr eigenes Profil, sie werde immer mehr sozialdemokratisch.

 

Für diese Entwicklung wird vor allem Angela Merkel verantwortlich gemacht. Es wird ihr vorgeworfen, sie lasse die Richtlinienkompetenz vermissen, sie würde sich bei Streitigkeiten innerhalb der Großen Koalition zunächst zurückhalten und dann zugunsten sozialdemokratischer Positionen einschwenken.

 

Ich halte beide Vorwürfe, den Vorwurf sozialdemokratischer Positionen als auch den Vorwurf mangelnder Richtlinienkompetenz bereits im Ansatz für falsch. Diese Vorwürfe verraten ein falsches Verständnis von der Wirkungsweise einer freiheitlichen und repräsentativen Demokratie.

 

Eine repräsentative Demokratie basiert auf dem Grundsatz, dass die Bevölkerung in allgemeinen, freien und geheimen Wahlen darüber entscheidet, welche Partei die Regierung übernehmen soll. An und für sich lässt sich nur bei Einstimmigkeit von einem klaren Willen der Bevölkerung sprechen. De facto käme jedoch ein Volkswille nur in den wenigsten Fällen zustande, wenn man auf Einstimmigkeit beharren würde.

 

Dies gilt insbesondere für die modernen Staaten, in denen Freiheit in Glaubensfragen gewährt wird. Wenn jedoch nahezu keine Probleme politisch gelöst werden könnten, entstünde der Bevölkerung großer Schaden. Aus diesen Gründen ist man sich einig, dass bereits eine Mehrheitsentscheidung als Wille der Bevölkerung ausgelegt werden muss, da Nichtstun oftmals für die Bevölkerung einen größeren Schaden verursacht als dann, wenn gegen den Willen einer Minderheit entschieden wird.

 

Früher konnte man davon ausgehen, dass sich neben einigen kleineren Parteien zwei große Volkspartei zur Wahl stellen, wobei sich jede dieser beiden Volksparteien zwar auf eine Stammwählerschaft verlassen konnte, diese Stammwählerschaft jedoch nicht so groß war, dass mit den Stimmen dieser Stammwähler bereits bei den Wahlen eine Mehrheit erlangt werden konnte.

 

Die eine Partei, die SPD, stützte sich auf die Arbeitnehmer, vor allem auf die Industriearbeiter im engeren Sinne und war im Parteienspektrum links angesiedelt, während die andere Partei, die CDU oder eine konservative Partei, sich auf den Mittelstand als Stammwählerschaft stützte und im Parteienspektrum rechts angeordnet war.

 

Da eine Partei aber nur dann die Wahlen gewinnen kann, wenn sie über die Mehrheit der Stimmen verfügt, sind beide Volksparteien darauf angewiesen, Maßnahmen durchzuführen, aufgrund derer sie Wähler gewinnen können, welche nicht zu ihrem Stammwählern zählen, also Wechselwähler sind, welche nicht von vornherein für eine ganz bestimmte Partei festgelegt sind, Wähler, welche im Parteienspektrum der Mitte zugerechnet werden.

 

Damit konkurrieren die beiden Volksparteien um die gleiche Wählerschaft, der Bevölkerung in der Mitte des Parteispektrums, und da nur eine Partei die Wahlen gewinnen kann, welche den Grundvorstellungen der Wähler entspricht, bedeutet dies gleichzeitig, dass sich beide Parteien in ihren Parteiprogrammen notwendiger Weise einander annähern müssen.

 

An der Grenze, beim sogenannten Grenzwähler, also dem letzten Wähler, dem eine Partei noch entgegenkommen muss, um die Mehrheit zu erlangen, stimmen die Versprechungen beider Parteien sogar überein.

 

Und dies bedeutet, dass der Prozess einer repräsentativen Demokratie notwendiger Weise dazu führt, dass sich die Wahlprogramme der beiden großen Volksparteien notwendigerweise einander annähern. Und deshalb geht ein Vorwurf, eine Partei, in unserem Beispiel die CDU, übernehme die Position der Gegenpartei und könne gerade deshalb die Wahlen nicht mehr gewinnen, an dieser Grundproblematik vorbei. Es ist erwünscht und notwendig, dass sich die Parteien in ihren Zielen annähern.

 

Trotzdem bestehen beachtliche Unterschiede zwischen den beiden Volksparteien. Auf der einen Seite sehen sich beide Parteien gezwungen, Maßnahmen zugunsten ihrer unterschiedlichen Stammwählerschaft durchzuführen, auf der anderen Seite können sich die beiden Parteien sehr wohl darin unterscheiden, wie befähigt die Spitzenpolitiker sind, die politischen Probleme dadurch zu lösen, dass sie mehrheitsfähige Kompromisse durchzusetzen vermögen.

 

Dies bedeutet, dass die wesentlichen Unterschiede zwischen den Parteien, vor allem zwischen den beiden großen Volksparteien, weniger darin liegen, dass sie unterschiedliche Grundziele anstreben. Die Grundziele sind im Wesentlichen durch die Grundrechte der Verfassung niedergelegt.

 

Dies gilt vor allem für die Gleichheit vor dem Gesetz, dem Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Leben und dem Diskriminierungsverbot. Nur das Erfordernis einer nachhaltigen Politik und der Erhaltung des ökologischen Systems findet sich nicht im Grundgesetz, da zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes die Umwelt noch nicht als lebensbedrohend angesehen wurde.

 

Die Unterschiede zwischen den Volksparteien liegen deshalb in erster Linie in der Fähigkeit der Politiker, diese allgemein akzeptierten Ziele umzusetzen, insbesondere Maßnahmen zu finden, welche kompromissfähig sind.

 

Auch dann, wenn die Spitzenpolitiker einer Partei in der Vergangenheit eine Mehrheit erlangen konnten, bedeutet dies noch lange nicht, dass diese Vorrangstellung anhält. Auch in den Parteien findet ein Personenwechsel statt und die gleichen Personen nutzen sich mit der Zeit ab.

 

Deshalb sollten die Parteien auch weniger um unterschiedliche Ziele ringen, sondern um die Maßnahmen, welche am besten geeignet sind, vorliegende Probleme sachgerecht zu lösen. Dass sich also die Ziele beider Volksparteien einander annähern, ist ein ganz normaler Prozess und deshalb auch nicht zu kritisieren.

 

Und wie berechtigt ist der Vorwurf, Angelika Merkel mache zu wenig von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch?

 

Die Richtlinienkompetenz ist notwendig und möglich im Rahmen einer Einparteienregierung. Die Grundziele der Regierung sind im Wahlprogramm niedergelegt und die Regierungspartei hat mit ihrem Sieg bei den Wahlen den Auftrag erhalten, dieses Programm durchzusetzen.

 

Natürlich gibt es auch innerhalb einer Volkspartei verschiedene Flügel, welche zum Teil unterschiedliche Ziele im Einzelnen verfolgen. Wenn hier die Gefahr besteht, dass einzelne Teilgruppen Lösungen zu erzwingen suchen, welche vom Wahlprogramm abweichen, ist es in der Tat Aufgabe und Pflicht des Bundeskanzlers, darüber zu wachen, dass das Parteiprogramm, mit welchem die Partei die Wahlen gewonnen hat, auch eingehalten wird und gegebenenfalls dieses durchzusetzen.

 

Da sich alle Mitglieder einer Partei zu dem Kompromiss, der im Wahlprogramm festgelegt wurde, verpflichtet haben, ist die Durchsetzung der Richtlinienkompetenz berechtigt. Vor allem dann, wenn das Kanzleramt und der Parteivorsitz in diesen Fällen in einer Hand vereinigt sind, hat der Kanzler in diesem Fall auch die Möglichkeit, die Richtlinienkompetenz durchzusetzen. Hier wird deutlich, wie zweckmäßig es ist, beide Ämter (Kanzleramt und Parteivorsitz) in einer Person zu vereinen.

 

Andere Überlegungen gelten jedoch für eine Koalitionsregierung, bei der mehrere Parteien die Regierung bilden. Nur die im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziele und Maßnahmen sind für beide Parteien maßgeblich. Stets gilt, dass die Koalitionsparteien die Wahl mit unterschiedlichen Programmen gewonnen haben und es ist klar, dass immer dann, wenn neue Probleme auftauchen, jede Partei den Versuch unternimmt, eine Lösung anzustreben, welche die eigenen Ziele fördert.

 

Der Bundeskanzler hat hier gar nicht die Möglichkeit, eine allumfassende Richtlinienkompetenz auszuführen, er kann sich nur darauf beschränken, dass auf der einen Seite der Koalitionsvertrag eingehalten wird und dass auf der anderen Seite die Koalition nicht vorzeitig zusammenbricht. Aber gerade in dieser Hinsicht lässt sich Angelika Merkel kein Versäumnis nachweisen. Ohne ihre Zurückhaltung wäre die Koalition schon längst zerbrochen.