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Die Zehn Gebote

 

 

 

Gliederung:

 

0. Einführung

1. Das erste Gebot

2. Das zweite Gebot

3. Das dritte Gebot

4. Das vierte Gebot

5. Das fünfte Gebot

6. Das sechste und neunte Gebot

7. Das siebte und zehnte Gebot

8. Das achte Gebot

 

 

Kapitel 6: Das sechste und neunte Gebot

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung

2. Scheidung

3. Abtreibung und Verhütung

4. außerehelicher und vorehelicher Geschlechtsverkehr

5. Monogamie, Polygamie, Promiskuität

                   6. gleichgeschlechtliche Partnerschaft

7. Selbstbefriedigung

8. Sonstige sexuelle Verfehlungen wie Inzest, Sodomie, Päderastie

 

 

 

1. Einführung

 

Wir wollen uns in diesem Kapitel mit dem sechsten Gebot des Dekaloges beschäftigen. Wie wir schon eingangs dieser Vorlesung hervorgehoben haben, dient dieses Gebot in allererster Linie der Erhaltung der Familie und der Sicherstellung sowohl der Regeneration der Bevölkerung als auch der Erziehung der Jugendlichen. Wir haben auch bereits gesehen, dass zwei weitere Gebote mit dem Thema der Familie Bezug nehmen, es ist dies auf der einen Seite das vierte Gebot, mit dem wir uns bereits ausführlich befasst haben, auf der anderen Seite spricht auch das neunte Gebot dieses Thema an.

 

Während nun das vierte Gebot die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern regelt und in allererster Linie eine Vorschrift enthält, welche sich an die Kinder richtet, werden beim sechsten wie auch beim neunten Gebot die Beziehungen der Ehepartner zu einander angesprochen. Das vierte Gebot dient hierbei der Sicherstellung der Erziehungsaufgabe der Eltern, während sowohl das sechste wie auch das neunte Gebot für die Realisierung beider Funktionen, der Aufgabe der Regeneration einer Bevölkerung wie auch indirekt der Erziehung der Kinder verantwortlich sind. Gerade aus diesen Gründen sollen hier beide Gebote (das sechste wie das neunte) zusammen in einem einzigen Kapitel analysiert werden.

 

Rein äußerlich gesehen geht das sechste Gebot auf die Pflichten ein, welche den beiden Ehegatten erwachsen, während das neunte Gebot aus der Sicht Dritter, welche das eheliche Zusammenleben stören wollen, formuliert wird. De facto allerdings kann fast jede Störung der Ehebeziehungen sowohl von innen heraus aus der Sicht der Ehegatten als auch von außen aus der Sicht derjenigen, welche diese Störung auslösen, betrachtet werden. Bei jedem Ehebruch ist notwendiger Weise auf der einen Seite zumindest einer der Ehepartner als auch auf der anderen Seite ein Außenstehender beteiligt. Ein Ehebruch besteht eben gerade darin, dass der eine der Ehepartner entgegen der Erklärung des Ehegelübdes eine geschlechtliche Beziehung mit einem Außenstehenden eingeht.

 

Es besteht allerdings noch ein zweiter Unterschied zwischen dem sechsten und neunten Gebot des Dekalogs. Das sechste Gebot bezieht sich auf die vollendete Tat, wer gegen das sechste Gebot verstößt, hat bereits einen Ehebruch begangen. Das neunte Gebot hingegen benennt schon das geschlechtliche Begehren eines außenstehenden Dritten gegenüber eines der Ehepartner als Sünde. Hier wird also der erste Schritt eines Ehebruches angesprochen, der Ehebruch als solcher ist noch gar nicht vollzogen, er wird erst erwogen oder es besteht die Gefahr, dass derjenige, welcher einen Ehepartner begehrt, versucht ist, in Zukunft die Ehe eines anderen zu stören.

 

In diesem Zusammenhang wird wiederum wie bereits bei anderen bisher bereits analysierten Geboten des Dekalogs der entscheidende Unterschied zwischen einem religiösen Verbot und einem Gesetz eines irdischen Staates deutlich. Der Staat greift immer erst dann ein, wenn die Tat bereits verübt wurde oder zumindest wenn der Versuch zu einer Tat gemacht wurde, während in den für Juden und Christen gleichermaßen gültigen Weisungen Gottes auch bereits die gedankliche Absicht einer sündhaften Handlung als Sünde bezeichnet wird. Im allgemeinen Schuldbekenntnis bekennen Christen, dass sie gesündigt haben in Gedanken, Worten und Werken.

 

Der Wortlaut dieser beiden Gebote in der Fassung des 20. Kapitels im Exodus ist denkbar einfach und lapidar:

 

‚Du sollst nicht ehebrechen‘ und ‚Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib (Mann)‘.

 

Bevor wir uns nun mit den wichtigsten Problemen befassen, welche sich aus diesen beiden Weisungen ergeben, gilt es allerdings auf zwei Unterschiede hinzuweisen, welche nur bei diesen beiden Geboten in dieser Schwere festgestellt werden können. Gerade beim sechsten Gebot sind die Unterschiede zwischen religiöser und weltlicher Ordnung besonders groß und gerade bei diesem Gebot bestehen in der Bevölkerung, aber auch bei einigen besonders radikalen christlichen Sekten große Missverständnisse.

 

Bei den meisten Geboten des Dekaloges, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen betreffen, gilt, dass die Grundprinzipien weitgehend auch von der weltlichen Gerichtsbarkeit aller modernen freiheitlich-demokratischen Staaten übernommen wurden. Im Hinblick auf das sechste Gebot müssen wir jedoch seit etwa der letzten 100 Jahre ein entscheidendes Auseinanderdriften zwischen weltlichen und religiösen Gesetzen feststellen. Es hat den Anschein, dass für weite Teile der Bevölkerung das sechste Gebot weitgehend in Frage gestellt wird.

 

Das sechste Gebot gilt danach für nicht mehr zeitgemäß. Frauen demonstrieren auf den Straßen dafür, dass ihr Bauch ihnen gehöre, dass eine Frau frei selbst bestimmen dürfen müsse, ob sie ihre Leibesfrucht abtreibe oder nicht. Die Ehe gilt nicht mehr für das gesamte Leben geschlossen und wird sehr oft schon nach mehreren Jahren wieder aufgelöst. Inwieweit ein geschlechtlicher Verkehr auch außerhalb der Ehe erfolgen darf, können danach die beiden Ehepartner selbst bestimmen. Eine Andersbehandlung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften gegenüber Ehen zwischen Mann und Frau wird als Diskriminierung verstanden und ist deshalb verboten. So müsse z. B. das im Einkommenssteuerrecht geltende Ehegattensplitting auch gleichgeschlechtlichen Ehen gewährt werden.

 

Es ist klar: Wer eine religiöse Bindung ablehnt und von der Maxime ausgeht, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, kann auch zu dem Ergebnis kommen, dass bestimmte Grundwerte, die bisher eingehalten wurden, wiederum aufgegeben und durch andere ersetzt werden können, sofern man zu der Einsicht gelangt, dass das Glück der größten Zahl der Menschen auf diese veränderte Weise besser erreicht werden kann.

 

In einer Demokratie gilt es, den Willen des Volkes durchzusetzen. Wenn es dem Willen des Volkes entspricht, können die von der demokratischen Volksgemeinschaft verfolgten Ziele durchaus verändert werden. Allerdings muss man sich auch hier darüber klar werden, dass von der Grundidee einer Demokratie her der Volkswille nicht einfach dem Willen der Mehrheit einer Bevölkerung gleichgesetzt werden kann. Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich und gerade deshalb ist es vor Verabschiedung eines Gesetzes notwendig, durch Diskussion und gegenseitigem Kompromiss solange um die richtige Lösung zu ringen, bis eine Einigung unter allen erzielt wurde.

 

Hierbei ergeben sich allerdings zwei nicht lösbare Schwierigkeiten. Ein solcher Einigungsprozess ist sehr zeitraubend und findet nicht immer zu einem einheitlichen Ergebnis. Darüber hinaus ist auch das Nichtstun eine Alternative, welche für Teile der Bevölkerung großen Schaden bewirken kann, wobei dieser Schaden im Einzelfall sehr viel größer ausfallen kann, als dann, wenn man nur nach dem Willen der Mehrheit entschieden hätte. Also wäre es keine Lösung, wenn man eben nur für die Fälle, in denen eine Einigung aller erreicht werden konnte, eine Gesetzesänderung beschließt.

 

Eine Demokratie kommt also gar nicht darum, als auch Lösungen zuzulassen, welche nur von der Mehrheit der Bürger angestrebt werden. Allerdings ist für eine demokratische Ordnung genauso wichtig wie den Willen der Mehrheit durchzusetzen, dass bestimmte Grundrechte, die sogenannten Menschenrechte allen Bürgern, auch der überstimmten Minderheit eingeräumt werden müssen. Die demokratischen Verfassungen sehen hierbei vor, dass diese Grundrechte eines jeden auch nicht mit einer qualifizierten Mehrheit der Abgeordneten verändert werden dürfen.

 

Trotz dieser Einschränkungen muss festgestellt werden, dass auch dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung eine Änderung von letztlichen Grundwerten beschließt, die nicht in einer Verletzung dieser Menschenrechte besteht, dadurch die demokratische Ordnung nicht verletzt wird. Der Volkswille ist die letzte Instanz, darüber zu befinden, welche Ziele angestrebt werden sollen.

 

Ganz anderes gilt für jede Religion. Eine Religion definiert sich immer von seinen letztlichen Glaubenswahrheiten und sittlichen Grundwerten, welche vom Ansatz her für alle Zeiten gelten. Diese bilden eine Einheit und es ist deshalb auch nicht möglich, Teile dieser Grundmaximen aufzugeben und beliebig durch andere zu ersetzen. Wer zu der Überzeugung gelangt ist, dass Teile dieser letztlichen Werte aufgegeben werden sollten, gibt damit diese Religion als solche auf. Die letztlichen Grundwerte stehen nicht zur Diskussion, man kann nur darüber diskutieren, ob man eine Religion akzeptieren oder aufgeben möchte. Darin liegt auch der wichtigste Unterschied zwischen einer weltlich demokratischen und einer auf Religion basierenden Ordnung.

 

Davon zu unterscheiden ist allerdings die Tatsache, dass die letztlichen Grundwerte in einer Art Ausführungsbestimmung konkretisiert und erläutert werden müssen und dass diese Ausführungsbestimmungen im Gegensatz zu den letztlichen sittlichen Grundwerten sehr wohl immer wieder eine Anpassung an die veränderte Situation notwendig machen.

 

Es sind vor allem zwei Gründe, weshalb Ausführungsbestimmungen im Gegensatz zu den Grundmaximen wiederholt einer Anpassung bedürfen. Ausführungsbestimmungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die letztlichen Grundregeln auf ganz konkrete Probleme anwenden und hierbei immer nur auf die Attribute einer Grundregel eingehen, welche gerade in dem vorliegenden Problem angesprochen und unter Umständen verletzt werden. Da sich die Probleme mit der Zeit ändern, wird es auch notwendig, die Ausführungsbestimmung einer Maxime so zu verändern, dass dann gerade die Attribute hervorgehoben werden, auf die es entsprechend der neuen Situation ankommt.

 

Eine Anpassung von Ausführungsbestimmungen kann aber zweitens auch dann notwendig werden, wenn sich unser Wissen über die Realisierung unserer Ziele verändert und verbessert hat. Eine Ausführungsbestimmung zeigt immer auf, auf welchem Wege denn das angestrebte Grundziel erreicht werden kann. Dieses Wissen ist stets unvollkommen, wird aber durch wissenschaftlichen Fortschritt permanent verbessert. Und wenn sich unser Wissen darüber, wie sich bestimmte Grundwerte realisieren lassen, verändert hat, macht selbstverständlich auch dieses verbesserte Wissen eine Umformulierung der Ausführungsbestimmungen notwendig. Trotz dieser Notwendigkeit zur Anpassung einer Ausführungsbestimmung bleibt jedoch bestehen, dass die Grundmaxime, welche der Ausführungsbestimmung zugrunde liegt, für jeden Gläubigen unverändert erhalten bleibt.

 

Befassen wir uns nun etwas ausführlicher mit der oben angesprochenen zweiten Problematik im Zusammenhang mit dem sechsten Gebot. Wie bei kaum einem anderen Gebot des Dekalogs finden sich in weiten Teilen der Bevölkerung, vor allem auch bei einigen radikalen christlichen Sekten Missverständnisse darüber, welches menschliche Verhalten denn eigentlich mit diesem Gebot verboten werden soll und wie Verletzungen dieses Gebotes zu bewerten sind.

 

Es herrscht bei vielen Christen die Meinung vor, dass ein Verstoß gegen das sechste Gebot die Sünde schlechthin und damit auch die schwerste Sünde darstellt und dass jede geschlechtliche Vereinigung zwischen Mann und Frau und erst recht natürlich jeder gleichgeschlechtliche Verkehr bereits eine Sünde darstellt und dass deshalb ein geschlechtlicher Verkehr nur erlaubt sein kann, wenn auf diese Weise menschliches Leben gezeugt werde. Die Sündhaftigkeit des Menschen bestehe eben gerade darin, dass er selbst dort, wo er den Geboten Gottes zu Folge zur Vermehrung der Menschen beitrage, dies nur dadurch bewerkstelligen kann, dass er im Grunde sündigt, er sei eben durch den Sündenfall den fleischlichen Gelüsten verfallen, er könne noch nicht einmal die guten Taten ganz ohne sündiges Verhalten erfüllen.

 

Diese Überzeugung geht jedoch vollkommen am Sinn des sechsten Gebotes vorbei. Bezeichnender Weise spricht das sechste Gebot des Dekaloges nicht davon, dass ein geschlechtlicher Verkehr etwas schlechtes darstellt, es wird nur der Ehebruch, also der geschlechtliche Verkehr außerhalb der Ehe als Verstoß gegen Gottes Weisungen gebrandmarkt.

 

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Gott in seinem Schöpfungsakt – bildlich gesprochen am sechsten Tag – den Menschen so erschaffen hat wie er ist und hierzu zählt auch der Umstand, dass der Mensch Triebe, wie z. B. den Geschlechtstrieb besitzt. Was aber Gott geschaffen hat, ist nie und nimmer als solches schlecht.

 

Weiterhin lesen wir im Schöpfungsbericht, dass Gott – nachdem er den Menschen erschaffen hatte  – diesem die Weisung gab, wachset und mehret euch. Diese Anweisung kann nun einmal nur dadurch erfüllt werden, dass sich Mann und Frau geschlechtlich vereinen, zur Erfüllung dieses Gebotes ist der Geschlechtstrieb nun einmal unerlässlich, also conditio sine qua non. Ein Verhalten, das aber zur Ausführung einer göttlichen Anweisung unerlässlich ist, kann nicht als schlecht bezeichnet werden.

 

Geschlechtlicher Verkehr wird danach erst dadurch zur Sünde, dass die geschlechtlichen Beziehungen missbraucht werden, nicht dafür eingesetzt werden, den Weisungen Gottes nachzukommen, wobei die Schwere eines solchen Vergehens im Wesentlichen davon abhängt, wie groß der Schaden ist, der durch ein solches Verhalten verursacht wird. Ein besonders gravierender Verstoß gegen das sechste Gebot wäre z. B. die Vergewaltigung, welche in aller Regel bei demjenigen, der vergewaltigt wurde, seelische Not größten Ausmaßes hervorruft. Die Sünde besteht dann vorwiegend darin, dass dem Gebot der Nächstenliebe zuwidergehandelt wurde, der Geschlechtstrieb kommt nur dadurch ins Spiel, dass der Schaden, der mit diesem sündigen Verhalten verursacht wird, durch den geschlechtlichen Umgang zweier Menschen ausgelöst wird. Nicht, dass der einzelne seinem Geschlechtstrieb nachgegeben hat, ist hier die eigentliche Sünde, sondern dass auf diesem Wege das oberste Gebot der Achtung der Mitmenschen gravierend verletzt wurde.

 

Dass im Zusammenhang gerade mit dem sechsten Gebot solche Missverständnisse entstehen konnten, hat vor allem zweierlei Gründe. Auf der einen Seite wird davon ausgegangen, dass der Mensch die Aufgabe habe, seine Triebe zu überwinden, der Mensch unterscheide sich vom Tier eben gerade vor allem darin, dass er nicht wie das Tier durch Triebe und Instinkte zu seinem Verhalten geführt werde, sondern dass der Mensch die Triebe überwinde und rational und verantwortungsvoll handle.

 

Natürlich mag es richtig sein, dass der Mensch sich in der Tat unter anderem vom Tier dadurch unterscheidet, dass er nicht nur instinktgesteuert handelt und dass er sich auch einmal gegen seinen Trieb entscheiden kann oder auch muss, wenn er zu der Erkenntnis kommt, dass ein Nachgeben gegenüber seinen Trieben Schaden für sich oder für die Allgemeinheit hervorrufen würde.

 

Es ist zwar richtig, dass der Mensch Herr seiner Triebe werden soll, aber eben nicht in dem Sinne, dass er seine Triebe überwinden solle, dass er um so moralischer handle, je weniger seine Triebe zum Durchbruch kommen. Herr werden über die Triebe heißt vielmehr, die Triebe nur dort zuzulassen, wo sie Nutzen (im Sinne des Gemeinwohls) stiften und dort zu unterdrücken bzw. umzulenken, wo mit ihnen Schaden verursacht würde.

 

Die richtige Steuerung des menschlichen Verhaltens wird durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren bewirkt. Wir haben Triebe und Instinkte, welche uns zu bestimmten Verhaltensweisen drängen und diese Triebe sind darüber hinaus oftmals mit einem Lustempfinden verbunden, das diese Wirkung verstärkt. Auf der anderen Seite haben wir einen Verstand und ein Gewissen, das uns unter Umständen davon abhält, dem Trieb nachzugeben, wenn ein rein triebhaftes Verhalten zu Schaden führen müsste und diese seelischen, die Triebe hemmenden Kräfte werden dadurch noch verstärkt, dass Gesetze bestimmte Verhaltensweisen untersagen und dass Übertretungen dieser Gesetze mit Strafen belegt werden, welche unser Wohlbefinden schmälern und uns von diesen Handlungen abhalten sollen.

 

Durch dieses Zusammenwirken stimulierender und hemmender Anreize lässt sich nun das menschliche Verhalten so steuern, dass Trieben überall dort nachgegeben werden kann, wenn durch sie positive Effekte ausgelöst werden, dass aber andererseits die Triebe zurückgedrängt und umgelenkt werden, wenn triebhaftes Verhalten zu Schaden führen würde. Auch den Trieben kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu. Die Triebe sind überall dort notwendig, wo ohne sie lebenswichtige Funktionen unterlassen würden.

 

Im Hinblick auf den Geschlechtstrieb haben wir davon auszugehen, dass mit der Geburt und der Erziehung von Kindern sehr viele Mühen verbunden sind, hier bestünde sehr oft die Gefahr, dass der Mensch eben deshalb nicht bereit wäre, diese Aufgaben zu übernehmen, wenn er nicht zu diesem Verhalten durch seine Triebe gedrängt würde und wenn die geschlechtliche Verbindung von Mann und Frau nicht mit Geschlechtslust verbunden wäre und damit belohnt würde.

 

In diesem Zusammenhang gilt es vor allem daran zu erinnern, dass im Verlauf der Menschheitsgeschichte bei den Urvölkern lange Zeit der Geschlechtsakt überhaupt nicht in Verbindung mit der Geburt gebracht wurde. Der Umstand, dass zwischen Zeugung und Geburt beim Menschen immerhin fast neun Monate liegen, hat lange Zeit verhindert, die Geburt als unmittelbare Folge der Zeugung durch Befruchtung der menschlichen Eizelle zu verstehen. Wenn sich jedoch zu Beginn der Menschheit die Menschen gar nicht darüber klar waren, dass eine Geburt nur durch den Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau ausgelöst wird, wie soll dann dieser Mensch der Weisung Gottes: wachset und vermehret euch folgen? Hier war der Geschlechtstrieb notwendige Voraussetzung dafür, dass die Bevölkerung durch Geburten in ihrem Bestand erhalten blieb.

 

Missverständnisse im Hinblick auf das sechste Gebot ergaben sich vermutlich aber vor allem auch deshalb, weil offensichtlich der im ersten Buch Moses, Genesis Kapitel 3 bildhaft erzählte Bericht über den Sündenfall der ersten Menschen die Vermutung nahelegt, dass die Menschheit eben gerade dadurch der Erbsünde verfallen ist, dass Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen haben und auf diese Weise der geschlechtlichen Lust verfallen waren. Dieser Gedanke findet dann auch seine Vollendung dadurch, dass erst das Erscheinen des Messias, nämlich  Jesus den gläubigen Menschen wiederum von dieser Sünde befreit habe.

 

Versuchen wir zunächst uns die wichtigsten Stellen dieses Berichtes zu vergegenwärtigen. In Genesis Kapitel 2,8-9 heißt es nach dem Bericht über die Erschaffung des Menschen:

 

‚Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte.

Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.‘

 

In Kapitel 2,15-25 erfahren wir:

 

‚Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte.

Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen,

doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben….

Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.‘

 

In Kapitel 3,1-7 folgt dann die bildhafte Erzählung, wie die Schlange Eva und Adam zur Sünde verleitet hat:

 

‚Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? 

Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen;

nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.

Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben.

Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.

Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.

Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren.‘

 

Es folgt dann im 3. Kapitel 9-24 ein Bericht über die Folgen dieses Handelns der ersten Menschen:

 

‚Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du?

Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich.

Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?

Adam antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben und so habe ich gegessen.

Gott, der Herr, sprach zu der Frau: Was hast du da getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt und so habe ich gegessen….

 

Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen.

Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens.

Dornen und Disteln lässt er dir wachsen und die Pflanzen des Feldes musst du essen.

Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück...

 

Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!

Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war.

Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.‘

 

Die Interpretation dieser bildhaften Erzählung vom Paradies und dem Sündenfall der ersten Menschen bereitet vor allem deshalb Schwierigkeiten, weil die ersten Kapitel der Genesis an zwei verschiedenen Stellen über die Schöpfung des Menschen durch Gott berichten und weil sich diese beiden Berichte in einem Punkte ganz wesentlich unterscheiden. Im ersten Bericht (Kapitel 1 der Genesis) gibt Gott den Menschen nach ihrer Erschaffung die Weisung: ‚wachst und vermehret euch‘ und dies ist sicherlich ohne geschlechtliche Vereinigung nicht möglich, im zweiten Schöpfungsbericht in Kapitel 2 wird den ersten Menschen ex pressis verboten, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, was traditionell verstanden wird als geschlechtliche Enthaltsamkeit, da der geschlechtliche Verkehr voraussetzt, dass sich Mann und Frau ihres Andersseins bewusst sind.

 

Dass das erste Buch Moses den Schöpfungsbericht an zwei unterschiedlichen Stellen bringt, wird im Allgemeinen damit erklärt, dass das Alte Testament mehreren unterschiedlichen Quellen entstammt und dass die zweite Version des Schöpfungsberichtes ausführlicher als der erste Bericht auf die einzelnen Momente der Schöpfung eingeht.

 

Die in der zweiten Version enthaltene Weisung: vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht zu essen, wird nun oftmals in dem Sinne interpretiert, dass die Menschheit insgesamt eine ähnliche Entwicklung durchlaufe wie der einzelne Mensch: Als Kind ist sich der einzelne Mensch der Unterschiede zwischen Mann und Frau noch nicht bewusst, diese Erkenntnis und das hierdurch bedingte Schamgefühl stellt sich erst ein, wenn das Kind eine bestimmte Reife erlangt hat. In ähnlicher Weise – so wird nun behauptet – wolle der zweite Schöpfungsbericht darauf aufmerksam machen, dass auch die Menschheit in ihrer Gesamtheit eine gewisse Zeit durchschreiten musste, bis sie sich seiner Geschlechtigkeit bewusst wurde.

 

Diese Interpretation führt jedoch zu einer gewissen Schwierigkeit. Solange das Kind sich noch nicht der Geschlechtigkeit bewusst wird, besteht auch keine Gefahr, dass es gegen das sechste Gebot verstößt. Es bedarf also in dieser ersten Lebensphase auch keines Gebotes, das den Kindern verbietet, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (wohlbemerkt in diesem sexuellen Sinne verstanden) zu essen. Wenn aber umgekehrt das Kind zum Manne oder zur Frau herangereift ist, über die geschlechtlichen Unterscheide Kenntnis erlangt hat und zur geschlechtlichen Vereinigung befähigt ist, dann gilt eben gerade nicht ein Verbot, überhaupt nicht dem geschlechtlichen Trieb nachzugehen, es gilt dann vielmehr das Gebot: ‚wachset und vermehret euch‘ und sündhaft ist dann allein ein Umgang mit dem Geschlechtstrieb, welcher der Sinngebung der geschlechtlichen Vereinigung widerspricht und somit insgesamt zu Schaden führt.

 

Vielleicht könnte man diese Unterschiede in den beiden Schöpfungsberichten auch so deuten, dass der Evolutionsprozess der Entstehung und Verbreitung des menschlichen Lebens keinesfalls deterministisch verläuft, dass es Vergabelungen in dem Sinne gibt, dass dem Menschen mehrere Möglichkeiten offen stehen und dass die Entwicklung des Menschen davon abhängt, welchen dieser Möglichkeiten er beschreitet.

 

Eine solche Möglichkeit könnte darin gesehen werden, dass die Menschen, solange sie sich nicht  wesentlich vermehren und somit eine kleine Gruppe bleiben, paradiesische Zustände erleben können. Das Nahrungsangebot ist reichlich, auch bedarf der Mensch keiner besonderen mühsamen Tätigkeiten, um die Früchte der Erde zu ernten, der Nahrungsspielraum reicht auch für ein ewiges Leben aus. Es besteht hier keine Knappheit und gerade deshalb entfallen auch die Gründe, welche normaler Weise die Menschen veranlassen, in der Selbstverteidigung Mitmenschen zu morden oder zu bestehlen oder sie durch bewusstes Belügen zu täuschen und sie dadurch zu schädigen. So ist es auch zu erklären, dass in einem solchen Paradies die meisten heute gültigen Gesetze gar nicht notwendig werden, um den Menschen vor dem Mitmenschen zu schützen.

 

Es gilt hier nur ein Verbot: Die Menschen dürfen sich nicht beliebig vermehren, da der Nahrungsspielraum des Paradieses eben nicht ausreicht, zur gleichen Zeit sich zu vermehren und trotzdem ewig zu leben. Beachten die Menschen dieses Gebot nicht, so wird über kurz oder lang der Nahrungspielraum nicht mehr ausreichen, alle Menschen zu ernähren, es kommt zu Hungersnöten, der Mensch wird unweigerlich mangels Knappheit sterben müssen.

 

Die Aussage: ‚wenn ihr vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse esst, dann müsst ihr sterben‘, kann somit zunächst als eine Feststellung eines Sachzusammenhanges und nicht unbedingt eines strikten Verbotes verstanden werden. Die Menschen haben eben nur die Möglichkeit, entweder in ihrer Vermehrung engste Grenzen einzuhalten oder aber darauf zu verzichten, ein ewiges Leben hier auf Erden zu erreichen.

 

Dass dann in dem Schöpfungsbericht aus der Feststellung eines Sachverhaltes ein Verbot wird, kann dann so gedeutet werden, dass sich Gott eigentlich gewünscht hätte, dass der Mensch diesen ersten möglichen Weg beschritten hätte. Gott hat aber den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und dies bedeutet in allererster Linie, dass sich der Mensch aus freien Stücken entscheiden kann, ob er das Angebot Gottes annehmen will oder nicht. Das von Gott geschaffene Paradies enthielt ja nicht nur den Baum des Lebens (also die grundsätzliche Möglichkeit eines ewigen Lebens hier auf Erden), sondern auch den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.

 

Dass der Mensch durch eigene Entscheidung den zweiten Weg beschritten hat, führte dann notwendiger Weise dazu, dass der Mensch vieler mühsamer Anstrengungen bedurfte, um die natürlichen Ressourcen so aufzubereiten, dass sie dem Menschen die Lebensbedingungen zur Verfügung stellen, dass er immer wieder Gefahr läuft, einen Ausgleich zwischen menschlicher Vermehrung und erreichbarem Nahrungsspielraum zu verfehlen. Die Botschaft der Erlösung der Menschen durch Jesus zeigt dann aber auch, dass Gott auch dann, wenn der Mensch durch seine eigene Entscheidung verhindert hat, dass der Mensch hier auf Erden ein ewiges Leben erreichen kann, an dem Ziel, den Menschen dann, wenn er seinen Weisungen folgt, im Jenseits am ewigen Leben teilnehmen zu lassen, nach wie vor festgehalten hat.

 

Da der Mensch nun offensichtlich diesen zweiten Weg beschritten hat, herrscht Knappheit in allen Bereichen und gerade deshalb ist es auch nicht mehr möglich, das menschliche Zusammenleben durch ein einziges Gesetz zu regeln. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Knappheit dazu führen kann, dass Menschen morden, stehlen, betrügen und die Unwahrheit sagen und es bedurfte deshalb auch einer Vielzahl von Gesetzen, um die menschliche Gesellschaft zu erhalten.

 

Bei Moses begegnen wir dann auch dem Dekalog, in dem in zehn Geboten die Weisungen zusammengefasst werden, welche Gott den Menschen auferlegt hat. Auch hier ist aber davon  auszugehen, dass diese Gesetze nicht einfach eine mehr oder wenig willkürliche Aufzählung häufiger Verfehlungen darstellt, sondern gewissermaßen eine Einheit bilden, wobei sich die Gesetze gegenseitig ergänzen und es nur deshalb einer Vielzahl von Weisungen bedarf, weil die sittlichen Werte auf recht unterschiedliche Weise verletzt werden können.

 

Der Dekalog gilt dann auch für Jesus und damit für die Christen als bindend. Prinzipiell gilt, dass Jesus den im Dekalog niedergelegten Grundwerten uneingeschränkt folgt. Entsprechend dem Matthäusevangelium Kapitel 5,17-18 hat Jesus gesagt:

 

‚Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.

Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.‘

 

Allerdings hat Jesus einem Teil der Pharisäer und Schriftgelehrten vorgeworfen, sie würden allzu sehr nur darauf achten, ein Gesetz buchstabengetreu zu erfüllen und sie würden darüber den eigentlichen Sinn des Gesetzes missachten. So haben wir z. B. bei der Diskussion des dritten Gebotes gesehen, dass Jesus sehr wohl auch am Sabbat Menschen heilte oder dass seine Jünger auch am Sabbath Ähren pflückten. Und da Schriftgelehrte Jesus hieraus einen Vorwurf machten, er würde auf diese Weise die Sabbatruhe missachten, entgegnete er, dass der Sabbat für den Menschen und nicht der Mensch für den Sabbat geschaffen worden sei.

 

Vor allem kann an das ebenfalls bereits an anderer Stelle dieser Vorlesung behandelte Geschehen erinnert werden, als Juden eine Frau beim Ehebruch auf frischer Tat überrascht hatten und diese zur Steinigung herbeigeschleppt hatten. Jesus hatte dann verhindert, dass diese Frau tatsächlich gesteinigt wurde. Entscheidend ist hierbei, dass Jesus keinesfalls davon gesprochen hatte, dass der Ehebruch nicht weiter schlimm sei, dass fast jeder einmal die Ehe breche. Nein Jesus hat klargestellt, ein Ehebruch ist eine sündige Tat. Trotzdem hat er bewirkt, dass diese Frau nicht gesteinigt wurde, was ja immerhin im mosaischen Gesetz (in den Ausführungsbestimmungen des sechsten Gebotes) für Ehebruch vorgeschrieben war.

 

Jesus hat hier auf einen wesentlichen Grundgedanken des gesamten Alten und Neuen Testamentes aufmerksam gemacht: Auch dann, wenn ein Mensch sündigt, ja sogar schwer und wiederholt sündigt, ist Gott zur Vergebung bereit, sofern der Mensch seine Sünde bereut und ehrlich um eine Umkehr bemüht ist. Nicht die Sühne ist das entscheidende, sondern die Umkehr. Und wie kann ein Mensch, der auf frischer Tat ertappt wird und zur sofortigen Steinigung weggeschleppt wird, noch ehrlich umkehren? Und deshalb, weil Jesus offensichtlich sah, dass diese Frau zur Umkehr bereit war, sagte er: ‚auch ich verurteile dich nicht, geh und sündige von jetzt an nicht mehr‘.

 

Von Bedeutung ist nun in diesem Zusammenhang vor allem die Antwort, welche Jesus auf die Frage eines Schriftgelehrten, was denn das wichtigste (höchste) Gebot sei, nach Matthäus Kapitel 22,34-40 folgendes geantwortet hatte:

 

34 ‚Als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie (bei ihm) zusammen.

35 Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn:

36 Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?

37 Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.

38 Das ist das wichtigste und erste Gebot.

39 Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

40 An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.‘

 

Hier wird nun in der Tat auf die Einheit der im Dekalog aufgezählten zehn Weisungen Gottes hingewiesen. Der gesamte Dekalog lässt sich danach in zwei Geboten zusammenfassen: in das Gebot Gott zu achten und von ganzem Herzen zu lieben und dem Nächsten Achtung entgegenzubringen, ihm keinen Schaden zuzufügen und ihm beistehen, wenn er der Hilfe bedarf.

 

Bemerkenswerter Weise fügt Jesus seiner Antwort hinzu, dass hier nicht nur das gesamte Gesetz (also vor allem der Dekalog) sowie die Ermahnungen der Propheten zusammengefasst wurde, sondern dass das Gebot der Nächstenliebe genauso wichtig ist wie das Gebot der Gottesliebe. Nun kann diese Auskunft sicherlich nicht so verstanden werden, dass es sich hierbei um zwei unabhängige und gleichgewichtige Vorschriften handelt und dass immer dann, wenn diese beiden Gebote in einen Konflikt zu einander geraten, in einer Art Güterabwägung von beiden Geboten Abstriche gemacht werden. Das Gebot der Gottesliebe kann niemals auf Kosten der Nächstenliebe eingeschränkt werden.

 

Dass das zweite Gebot, die Nächstenliebe, genauso wichtig wie das Gebot der Gottesliebe sei und ihm gleiche, kann aber auch so verstanden werden, dass wir unsere Gottesliebe gerade dadurch unter Beweis stellen können, dass wir uns um unsere Nächsten kümmern. Bei Markus Kapitel 12,28-34 heißt es sinngemäß: ‚den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer‘.

 

Und bei Matthäus Kapitel 25,31-46, das über das Weltgericht berichtet, erfahren wir:

 

31 Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen.

32 Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet.

33 Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken.

34 Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.

35 Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen;

36 ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.

37 Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?

38 Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?

39 Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

40 Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

41 Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!

42 Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben;

43 ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.

44 Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?

45 Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.

46 Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.‘

 

Gottes- und die Nächstenliebe sind also insofern im Grunde zwei Seiten eines Gebotes, als sich nämlich die Gottesliebe gerade darin äußert, dass wir dem Nächsten immer dann helfen, wenn er unsere Hilfe benötigt.

 

Wenn wir nun diese Gedanken auf das sechste Gebot beziehen, so gilt auch hier wiederum, eine Sünde auch gegenüber dem sechsten wie auch gegenüber jedem anderen Verbot entsteht dadurch, dass wir unserem Nächsten schaden, nicht auf seine Nöte eingehen, ihm die Achtung verweigern, die ihm wie jedem Menschen zusteht. Und es ist dieser Schaden und die Schwere dieses Schadens, den wir anrichten, der eine sexuelle Handlung zur sündigen Tat macht und nicht etwa der Umstand, dass wir dem Geschlechtstrieb folgen. Nur die Tatsache, dass wir eben auch in geschlechtlichen Beziehungen in vielfältiger Weise den Mitmenschen Schaden können, trägt dazu bei, dass auch im Zusammenhang mit den geschlechtlichen Beziehungen ein sündhaftes Verhalten vorliegen kann.

 

Bei unseren bisherigen Überlegungen gingen wir stillschweigend davon aus, dass es höchstpersönliche Beziehungen zwischen zwei einzelnen Menschen sind, welche unter gewissen Voraussetzungen zu einer Sünde gegen das sechste Gebot führen können. Wir haben allerdings auch zu berücksichtigen, dass sexuelle Handlungen nicht immer in erster Linie auf eine ganz konkrete Person zielen, sondern dass sie zunächst die Ordnung, welche die geschlechtlichen Beziehungen zu regeln hat, stören, dass auf diese Weise die verschiedenen Anreize dieses Systems außer Kraft gesetzt werden und dass dann auf diesem Umwege letzten Endes und langfristig doch wiederum Mitmenschen geschadet wird.

 

Wir haben davon auszugehen, dass der Mensch deshalb einen Geschlechtstrieb hat und auch bei geschlechtlichem Verkehr Lust erfährt, damit auf diese Weise der Weisung Gottes gefolgt werden kann: ‚wachset und vermehret euch‘ und dass darüber hinaus der Ehebruch vor allem deshalb als Verfehlung bezeichnet wird, weil er die Erziehungsaufgabe der Eltern gegenüber ihren Kindern in Frage stellt. Die Geschlechtslust, die der einzelne im Zusammenhang mit dem geschlechtlichen Verkehr erfährt, ist wie wir bereits oben gesehen haben, Anreiz und Belohnung. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass in ausreichendem Maße die für das Überleben der Bevölkerung notwendige Regeneration stattfindet und dass die heranwachsenden Kinder zu verantwortungsvollen und gläubigen Bürger erzogen werden.

 

Wenn nun jemand geschlechtlichen Verkehr pflegt, der nicht zur Sicherung dieser beiden Funktionen dient, so kassiert er gewissermaßen eine Belohnung, ohne dass er aber die Leistung erbringt, für welche diese Belohnung eigentlich vorgesehen ist. Eine Ordnung bricht zwar nicht schon dann zusammen, wenn vereinzelt dieses Anreizsystems durchbrochen wird. Es gibt in dieser realen Welt keine Ordnung, welche hundertprozentig eingehalten wird, sie hat trotzdem Bestand. Es ist aber klar, dass von einem bestimmten Umfang an Verfehlungen gegenüber einer Ordnung deren Wirksamkeit verhindert und dass jede Verfehlung um so mehr Nachahmer hervorruft als bereits die Normen nicht mehr eingehalten werden und dass damit die Gefahr steigt, dass diese kritische Grenze, von der ab die Ordnung nicht mehr in befriedigenden Maße ihre Funktionen erfüllen kann, erreicht wird. Wenn jeder über die Belohnung verfügen kann, die eigentlich nur demjenigen zugedacht ist, der dem Gebote: ‚wachset und vermehret euch‘ folgt, kann die Belohnung auch kein Anreiz mehr sein, diesem Gebot zu folgen. Die Ordnung wird funktionslos.

 

Diese Überlegungen führen also zum Schluss, dass auch in den Fällen, in denen nicht unmittelbar durch eine Nichtbeachtung des sechsten Gebotes die unmittelbar Beteiligten Schaden erleiden, immer noch die Gefahr besteht, dass über eine Aufweichung der Ordnung schließlich ein Punkt erreicht wird, in dem die Ordnung nicht mehr die Erfüllung ihrer Funktionen gewährleistet, dass gerade deshalb doch wiederum Mitmenschen Schaden zugefügt wird und dass gerade deshalb letztlich dem Gebot der Nächstenliebe zuwider gehandelt wird.

 

Nehmen wir den Fall, dass beide Ehepartner übereinkommen, jeweils mit dritten Außenstehenden Geschlechtsverkehr zu pflegen. Die beiden Ehepartner werden hier nicht unmittelbar geschädigt, vielleicht ist sogar die Regenerationsfunktion erfüllt, werden ja Kinder geboren, wenn die betroffenen Frauen nicht abtreiben. Aber vielleicht wird der Erziehungsauftrag gegenüber den außerhalb der Ehe geborenen Kinder gefährdet, vor allem aber muss befürchtet werden, dass dann, wenn ein solches Verhalten Schule macht, die Erfüllung der Erziehungsaufgabe durch die Eltern ganz allgemein nicht mehr garantiert wird, weil es üblich wird, dass die Ehe bereits nach wenigen Jahren auseinanderbricht.

 

Fortsetzung folgt!