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Die Zehn Gebote

 

 

 

Gliederung:

 

0. Einführung

1. Das erste Gebot

2. Das zweite Gebot

3. Das dritte Gebot

4. Das vierte Gebot

5. Das fünfte Gebot

6. Das sechste und neunte Gebot

7. Das siebte und zehnte Gebot

8. Das achte Gebot

 

 

Kapitel 7. Das siebte und zehnte Gebot

 

 

 

Gliederung:

 

1. Das Problem

2. Mundraub

3. Übervorteilung bei der Preisbildung

4. Übervorteilung bei der Lohnbildung

5. Die Rolle der Zinsen

6. Steuerhinterziehung

7. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut

8. Schlussfolgerungen

 

 

 

7. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut

 

Wir hatten uns in den vorhergehenden Abschnitten vorwiegend mit der Problematik des siebten Gebotes beschäftigt. Wir wollen nun in dem folgenden Abschnitt auf die Bedeutung des zehnten Gebotes etwas ausführlicher eingehen.

 

Wir hatten bereits eingangs dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass das zehnte Gebot ähnlich wie das neunte Gebot die Weisungen insofern vertieft, als bereits das Planen einer Tat als Sünde bezeichnet wird. Man geht hierbei davon aus, dass man sündiges Verhalten am besten dadurch bekämpfen kann, dass man die eigentliche Ursache des sündhaften Verhaltens beseitigt. In diesem Sinne geht der Tat des Diebstahl, das Planen dieser Tat und dem Planen das Begehren des Eigentums eines anderen voraus. Genau diese Einschätzung liegt auch vor, wenn die Christen im allgemeinen Schuldbekenntnis beten: ‚wir haben gesündigt in Gedanken, Worten und Werken‘. Im Gegensatz hierzu wird im Rahmen der weltlichen Gerichtsbarkeit erst die Ausführung der Tat oder auch der Versuch einer Ausführung als Straftat bewertet.

 

Allerdings kann Neid und das Begehren von Hab und Gut des Nächsten auch dazu führen, politisch darauf hinzuwirken, dass die Vermögen und Einkommen der Reichen geschmälert werden und in diesem Sinne eine legale Reduzierung der Einkommensunterschiede angesteuert wird. Wir wollen im Folgenden darlegen, welche Schlussfolgerungen sich in dieser Frage aus der Heiligen Schrift ergeben und inwieweit sie von weltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen abweichen. Beginnen wir mit der Analyse des Gleichnisses vom anvertrauten Geld so wie es bei Matthäus in Kapitel 25,14-30 dargestellt wird und wie wir es bereits im Zusammenhang mit dem Zinsverbot in einem vorhergehenden Abschnitt besprochen haben. (Um ein lästiges Zurückblättern zu vermeiden, soll hier nochmals der Text dieses Gleichnisses angeführt werden).

 

14  ‚Es ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging: Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an.

15  Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten. Dann reiste er ab. Sofort 

16  begann der Diener, der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu.

17  Ebenso gewann der, der zwei erhalten hatte, noch zwei dazu.

18  Der aber, der das eine Talent erhalten hatte, ging und grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn.

19  Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück, um von den Dienern Rechenschaft zu verlangen.

20  Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazugewonnen.

21  Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn! 

22  Dann kam der Diener, der zwei Talente erhalten hatte, und sagte: Herr, du hast mir zwei Talente gegeben; sieh her, ich habe noch zwei dazugewonnen.

23  Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn! 

24  Zuletzt kam auch der Diener, der das eine Talent erhalten hatte, und sagte: Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast;

25  weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder.

26  Sein Herr antwortete ihm: Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe.

27  Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten.

28  Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!

29  Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.

30  Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.‘

 

Ausgangspunkt ist hier die Feststellung, dass die Diener unterschiedliche Fähigkeiten aufweisen. Diese Chancenungleichheit wird hier offensichtlich als selbstverständlich hingenommen, sie wird nicht kritisiert und es wird nicht empfohlen, sich um eine Angleichung der individuellen Chancen zu bemühen. Vielmehr werden die unterschiedlichen Fähigkeiten als Chance verstanden, für die Gemeinschaft Gutes zu tun. Es werden also den einzelnen Dienern – und sie stehen für die einzelnen gläubigen Menschen – je nach Fähigkeit unterschiedlich schwere Aufgaben übertragen, dem hoch begabten werden schwierige Aufgaben, dem weniger Begabten leichtere Aufgaben übertragen.

 

Zur Ausführung dieser Aufgaben erhalten nun diese Diener auch eine unterschiedlich große Vermögensmasse, da offensichtlich schwierigere Aufgaben auch eine höhere Vermögenssumme erfordern als leichtere Aufgaben. Die Betonung der Pflichten führt also hier automatisch dazu, dass diejenigen, die besonders begabt sind, nun auch dadurch gefördert werden und noch bessere Startchancen erhalten, dass ihnen ein höheres Vermögen zur Verfügung gestellt wird. Wohlbemerkt: Dieses höhere Vermögen dient nicht dazu, dass sich die so Begünstigten mehr Konsumgüter leisten können, sondern in erster Linie dazu, die ihnen aufgetragenen Aufgaben besser erfüllen zu können. Wer also diese Vergünstigung dazu ausnutzen würde, diese Vermögensmassen zu verprassen, würde damit automatisch seine Pflichten verletzen.

 

Als der Besitzer zurückkehrt, überprüft er, inwieweit die einzelnen Diener ihren Aufgaben gerecht wurden. Diejenigen, welche die zur Verfügung gestellten Talente dazu eingesetzt hatten, um ihre Aufgaben zu erfüllen, wurden nun belohnt, ihre Vermögensanteile wurden vergrößert, wobei wiederum diese erneute Erhöhung der Startchancen nicht primär als eine Belohnung zu verstehen ist, die dem Begünstigten ermöglichen soll, auf der faulen Haut auszuruhen. Die Vergrößerung der Vermögensanteile erfolgt deshalb, weil sie durch ihr Tun bewiesen haben, dass sie fähig und willens sind, die ihnen aufgetragenen Aufgaben zu erfüllen. Wenn der eine mehr bekommt als der andere, dann geschieht dies deshalb, weil dieser Diener offensichtlich auch befähigt ist, noch schwierigere Aufgaben wahrzunehmen. So erklärt sich auch, dass der Grundsatz gilt:  ‚Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.‘ (Matthäus Kapitel 13,12)

 

Die Gerechtigkeit wird am Ende der Zeiten, wenn der Hausherr heimkehrt, dadurch verwirklicht, dass derjenige, welcher die ihm zur Verfügung gestellten Talente brach liegen ließ oder vielleicht sogar verprasste, bestraft wird. Als gerecht gilt auch der Umstand, dass demjenigen, dem ein geringeres Maß an Talenten zur Verfügung gestellt wurde auch nur geringere Aufgaben übertragen wurden.

 

Welche Aufgaben den Menschen nun je nach ihren Fähigkeiten übertragen werden, lässt sich anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter ablesen. Bei Matthäus Kapitel 22,35-40 lesen wir:

 

‚35 Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn:

36  Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?

37  Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.

38  Das ist das wichtigste und erste Gebot.

39  Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

40  An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.‘

 

Bei Markus Kapitel 12,28–34 heißt es ähnlich:

 

‚28  Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?

29  Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.

30  Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.

31  Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

32  Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm,

33  und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.

34  Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.‘

 

Bei Lukas in Kapitel 10, 25-37 fordert Jesus diesen Schriftgelehrten auf, selbst zu sagen, was nach dem Gesetz als wichtigstes Gebot zu gelten hat:

 

‚25  Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?

26  Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort?

27  Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.

28  Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben.‘

 

29 Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?

30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.

31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.

32 Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.

33 Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid,

34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.

35 Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.

36 Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?

37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!‚

 

Als erstes ist zu klären, wer denn als Nächster im Sinne dieses Gesetzes zu verstehen ist? Es mag zunächst verwundern, dass Jesus nicht die Beziehungen zwischen Familienangehörigen als Nächste angesprochen hat, obwohl kein Zweifel bestehen kann, dass gerade in der Beziehung zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kind viele Beispiele aufopfernder Tätigkeiten z. B. pflegebedürftiger Familienmitglieder bekannt sind. Auch kann durchaus davon ausgegangen werden, dass die Juden ganz allgemein in der Zeit, in der Jesus lebte, die Forderung nach Nächstenliebe fast ausschließlich auf die Israeliten, nicht aber auf Fremde bezogen. Jesus widerspricht jedoch mit seinem Gleichnis ganz eindeutig dieser Interpretation.

 

Es ist deshalb auch kein Wunder, wenn in diesem Beispiel gerade ein Priester und ein Levit als Menschen hervorgehoben werden, welche dieses Gebot vernachlässigen. Es wird zwar nicht erwähnt, warum diese beiden Kirchenvertreter keine Hilfe geleistet haben. Vielleicht hatten es beide sehr eilig zum Dienst im Tempel zu gelangen oder sie waren so hochmütig, dass sie der Auffassung waren, dass solche niederen Verrichtungen Sache der Laien seien und dass sie sich zugut waren, sich zu dem Überfallenen hinunter zu beugen.

 

Es ist in diesem Gleichnis auch kein Angehöriger der Israelitischen Stämme, welcher dem Notleidenden zu Hilfe kommt, sondern ein Angehöriger aus Samaria. Samaria war zwar um 880 v. Chr. als Hauptstadt des israelitischen Nordreichs erbaut worden, wurde jedoch 722 v. Chr. zu einer assyrischen, später persischen und schließlich hellenistischen Provinz. Im Zuge der assyrischen Gefangenschaft wurden die ehemaligen Bewohner Samarias nach Assyrien verschleppt und im Gegenzug wurden Stämme aus anderen assyrischen Provinzen nach Samaria zwangsweise umgesiedelt. Zur Zeit Jesu gehörte also Samaria nicht mehr zu dem israelischen Staat.

 

Jesus hätte natürlich auch die an ihn gestellte Frage einfach damit beantworten können, dass er alle Menschen als mögliche Nächste bezeichnet hätte. Immerhin wird in der aramäischen Version dieser Bibelstelle dieses Gebot damit begründet, dass alle Menschen vor Gott gleich seien (‚denn er ist wie du‘). Also läge es nahe, dass man die Forderung nach Nächstenliebe auf alle Mitmenschen bezieht, welche in Not geraten sind.

 

In diesem Zusammenhang entsteht auch die Frage, inwieweit mit diesem Gebot auch die Aufforderung nach einer weltweiten Hilfe verbunden ist. Nun gilt es zunächst daran zu erinnern, dass es zu Zeiten Jesu noch keine modernen Medien wie Hörfunk, Fernsehen oder Internet gab, sodass die einzelnen Menschen damals auch nicht so schnell und intensiv über die Not in der Welt erfahren haben.

 

Immerhin war aber Israel nicht von der übrigen Welt isoliert, es war Teil des römischen Imperiums und sehr viel Not wurde den Juden und den benachbarten Völkern gerade von der römischen Besatzungsmacht zugefügt. Auch verbanden viele Juden in der damaligen Zeit die Hoffnung auf einen Messias mit der Erwartung, dass der Messias sie von der verhassten Römerherrschaft befreie.

 

Also hätte man auch erwarten können, dass gerade in der gegenseitigen Unterstützung der Juden und in der Hilfe denjenigen gegenüber, welche von den Römern in Not gestürzt worden waren, Beispiele einer vorrangig notwendig gewordenen Nächstenliebe zu sehen sei. Jesus hat sich in anderen Gleichnissen und Reden sehr wohl mit der jüdischen Besatzungsmacht auseinandergesetzt und somit die durch die Besatzungsmächte hervorgerufene Not durchaus zur Kenntnis genommen.

 

Offensichtlich verband Jesus mit dem Gebot der Nächstenliebe jedoch die Forderung, denjenigen vor allem als Nächsten anzusehen, der einem persönlich begegnet, dessen Not und Hilfsbedürftigkeit vor Augen geführt wird. In diesem Sinne hat fast jeder, der in Not gerät, einen Nächsten, der ihm helfen kann. Und es ist sicherlich eine sehr sinnvolle Arbeitsteilung, wenn man vorrangig denjenigen zur Hilfe auffordert, der dem Notleidenden persönlich begegnet.

 

Damit wird in keiner Weise bestritten, dass auch Fernstenliebe, also Hilfe gegenüber in Not geratenen Menschen auf der ganzen Welt, berechtigt und auch notwendig ist. Während aber diese Fernstenliebe zumeist nur im Zusammenhang vieler Einzelspenden überhaupt zum Tragen kommt und deshalb einer Organisation von Seiten des Staates oder caritativer Einrichtungen bedarf, liegt die Betonung bei der Nächstenliebe auf dem persönlichen Einsatz jedes einzelnen.

 

Dieser persönliche Einsatz eines jeden ist jedoch notwendig, da kein staatliches System so perfekt sein kann, dass es in jeder Notlage eine angemessene Hilfe gewähren kann. Jedes übergeordnete System – mag es noch so perfekt organisiert sein – weist Lücken auf, in die dann die persönliche Hilfe einspringen kann.

 

Fragen wir uns weiterhin, auf welchen Begriff der Liebe sich das Gebot der Nächstenliebe bezieht, welche Art von Liebe denn mit diesem Gebot der Nächstenliebe angesprochen ist? Im Alltagsgebrauch verwenden wir ja den Begriff der Liebe mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen.

 

Gemeinsam ist fast allen Begriffen der Liebe, dass sie als eine Form der emotionalen Zuwendung erlebt wird, die in unterschiedlichen Epochen und Kulturen recht verschieden verstanden wurde.

 

Unter Liebe wird zunächst ein körperlich-sinnliches, von sexueller Anziehung ausgehendes Begehren verstanden, das eine sinnlich-erotische Beziehung zu dem gewählten Liebespartner anstrebt. Im Vordergrund steht hier die leidenschaftliche, auf sexueller Lust beruhende Bindung. Die griechische Philosophie spricht seit Aristoteles in diesem Zusammenhang von Eros.

 

Hierzu im Gegensatz steht eine Liebesäußerung, welche bei der Zuneigung zum geliebten Menschen auf die Sorge für einen anderen Menschen abhebt. Sie umfasst sowohl den sorgenden Umgang, den die Eltern mit ihren Kindern pflegen – also die zärtliche, Geborgenheit gewährende Bindung zwischen Eltern und Kind – ebenso wie die vielfältigen Formen der Freundschaft und der Sympathie bis hin zur Verantwortung für den Nächsten, für die eigene und auch für andere Gruppen.

 

Die griechische Philosophie spricht in diesem Zusammenhang von Agape, wobei sich das Wort ‚Agape‘ ursprünglich auf das Abendmahl bezieht, das vor allem die Frühchristen im Gedenken an das letzte Abendmahl abhielten, das Jesus vor Beginn seiner Passion mit seinen Jüngern abgehalten hatte.

 

Hiervon abgehoben findet sich in der religiös fundierten Literatur die Orientierung des Liebesbegriffs an Gott, der den Menschen liebt und die Forderung erhebt, dass die Menschen nicht nur Gott lieben, sondern sich auch gegenseitig lieben, genauso wie Gott die Menschen liebt.

 

Es ist klar, dass sich das Gebot der Nächstenliebe nicht auf die Liebe in Form des Eros bezieht, sondern dass stets mit der Forderung nach Nächstenliebe eine Liebe im Sinn der Agape angesprochen ist und dass die geforderte Nächstenliebe letztlich ihren Grund in der Liebe Gottes zu den Menschen hat.

 

Nun hatten wir unter den Begriff der Agape auch Sympathiebekundungen subsumiert. Das Gebot der Nächstenliebe verlangt jedoch sicherlich nicht, dass wir uns darum bemühen, für alle Mitmenschen, denen wir begegnen und von denen wir erfahren, Sympathie zu entwickeln.

 

Sympathie – und ihr Gegenstück Antipathie – entsteht zumeist aufgrund körperlicher Zusammenhänge. Wenn zwei Menschen sich nicht mögen, sich nicht ausstehen können, spricht man oft davon, dass ihre ‚Chemie‘ nicht stimme, dass also die Art und Weise, wie sich der andere verhält, Antipathie auslösen kann, man kann eben bestimmte Menschen nicht ‚riechen‘.

 

Neben der körperlichen Konstitution dürfte vor allem auch die persönliche Biographie des einzelnen darüber mitbestimmen, ob man einzelne Menschen sympathisch findet oder ob sie abstoßend wirken. Oft reicht ein bestimmtes Erlebnis in der Vergangenheit (vor allem in der Kindheit), das mit Leid und Frustration auf der einen oder mit Freude auf der anderen Seite verbunden war, das – ohne dass der einzelne die Ursache dieser Empfindungen kennt – letztlich über Sympathie oder Antipathie entscheidet.

 

Nun ist es sicherlich Aufgabe einer jeden Erziehung, Antipathien zu überwinden, vor allem dann, wenn sie unberechtigt sind und nicht ihre Wurzel im Verhalten dessen hat, dem gegenüber man Antipathie empfindet. Aber viel entscheidender als die die Überwindung dieser Empfindungen selbst ist die Forderung, dass man die Antipathie nicht den Mitmenschen spüren lässt, ihn also deshalb, weil man ihm gegenüber eine Antipathie hegt, ihn ungerecht behandelt und ihm unfreundlich begegnet.

 

Es ist bekannt, dass auch sehr fromme Menschen durchaus Antipathien gegenüber einzelnen Mitmenschen hegen, so sollen sich z. B. auch Petrus und Paulus ‚spinnefeind‘ gewesen sein. Aber das Gebot der Nächstenliebe richtet sich auch gar nicht in erster Linie an die Empfindungen, sondern an das Verhalten gegenüber den Mitmenschen. Man kann die im Gebot der Nächstenliebe geforderte Achtung auch sehr wohl Menschen gegenüber bringen, die man als antipathisch empfindet.

 

Wir fahren in unserer Analyse fort mit dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.  Im Matthäusevangelium Kapitel 20,1–16 heißt es:

 

1  ‚Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben.

2  Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen Weinberg.

3  Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten.

4  Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist.

5  Und sie gingen. Um die sechste und um die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder auf den Markt und machte es ebenso.

6  Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?

7  Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg!

8  Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten.

9  Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar.

10  Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten nur einen Denar.

11  Da begannen sie, über den Gutsherrn zu murren,

12  und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen.

13  Da erwiderte er einem von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart?

14  Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir.

15  Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin?

16  So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.‘

 

Auch im Hinblick dieses Gleichnisses müssen wir als erstes – ähnlich wie bei den bisher bereits be-handelten Gleichnissen – darauf hinweisen: Dieses Gleichnis will keinerlei Auskunft darüber geben, was als gerechter Lohn zur Bezahlung der Arbeit der Winzer oder sogar allgemein in Unternehmungen hier auf Erden anzusehen ist. Auch dieses Gleichnis wird wie die meisten anderen Gleichnisse mit dem Satz eingeleitet: ‚Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit ….‘ Es soll also mit diesem Bild vom Gutsbesitzer auf eine Wahrheit aufmerksam gemacht werden, die sich auf das jenseitige Reich Gottes und eben gerade nicht auf die irdischen Geschehnisse bezieht. Die Schilderung über die Bezahlung der Winzer wird hier nur herangezogen, um den Zuhörern anhand eines Beispieles, das ihnen bekannt und geläufig ist, einen Zusammenhang näher zu bringen, der jenseits aller menschlichen Erfahrung liegt.

 

Wortwörtlich genommen, also als Grundsätze einer gerechten Entlohnung der Arbeitnehmer für ihre irdische Arbeit betrachtet, stehen diese Auskünfte in krassem Gegensatz zu allen heute allgemein gültigen Gerechtigkeitsvorstellungen über eine gerechtfertigte Entlohnung der Arbeitnehmer. Danach ist bei der Zumessung des Lohneinkommens in aller erster Linie auf die individuell erbrachte Leistung des einzelnen Arbeitnehmers zu achten. Natürlich kann zusätzlich auch der zusätzliche Bedarf, den z. B. ein Familienvater gegenüber einem Ledigen hat, Berücksichtigung finden. Es würde aber auf jeden Fall als äußerst ungerecht empfunden, wenn die Arbeit eines ganzen Tages nicht besser entlohnt würde als die Arbeit einer einzelnen Stunde. Nach heutigen Gerechtigkeitsvorstellungen ist der Umfang der erbrachten Arbeitsanstrengungen auf jeden Fall bei der Festsetzung des Lohnsatzes zu berücksichtigen.

 

Natürlich wird ein Arbeitsgericht bei einer anhängenden Klage eines Arbeitnehmers auch danach entscheiden, welcher Lohnsatz tatsächlich vereinbart wurde. Aber gerade zu verhindern, dass ungerechte Lohnsätze vereinbart werden, hat das Grundgesetz den Gewerkschaften bei der Aushandlung der tariflichen Lohnsätze besondere Rechte zugestanden, damit beim Abschluss der Lohnverträge auch die allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen zum Zuge kommen können.

 

Auf jeden Fall würde man – wollte man das Gleichnis tatsächlich als Auskunft über eine gerechte Entlohnung hier auf Erden ansehen – nicht erwarten, dass sich Jesus auf einen Rechtsstandpunkt zurückzieht, vielmehr würde man davon ausgehen, dass Jesus etwas zu der Frage aussagt, welcher Lohn als gerecht anzusehen ist und er würde ein Verhalten eines Gutbesitzers, der nach solchen ungerechten Grundsätzen handeln würde, sicherlich verwerfen. Aber wie gesagt, dieses Gleichnis will auch gar nicht auf die erwünschte Lösung irdischer Probleme eingehen.

 

Was will uns aber dieses Gleichnis sagen? Der Gutsbesitzer, welcher Arbeiter anheuern lässt, ist in Wirklichkeit Gott, der den Menschen einen Bund anbietet. Genauso wie die Winzer, welche Arbeit im Weinberg des Gutbesitzers leisten, für getane Arbeit am Abend einen Denar als Lohn erhalten, genauso gehen die Menschen, welche dem von Gott angebotenen Bund beigetreten sind und entsprechend den Geboten Gottes gelebt haben, am Ende ihres Lebens als Entlohnung ins Himmelreich ein. Genauso wie im Gleichnis nicht alle beschäftigten Arbeitnehmer in der ersten Stunde angeworben wurden, genau sowenig erreichte die Botschaft Gottes nicht alle Menschen von Kindheit an. Viele wurden erst später zum Glauben geführt, aus Gründen, die sie oftmals gar nicht zu vertreten hatten. Auch diesen Menschen macht Gott sein Angebot; selbst denjenigen, welche erst kurz vor ihrem Tode zum Glauben finden, wird der Eintritt ins Himmelreich nach ihrem Tode nicht verwehrt.

 

Es ist weiterhin nicht ungerecht, dass auch die Arbeiter entlohnt werden, welche erst sehr viel später angeheuert wurden und deshalb auch weniger Arbeit verrichtet hatten, es war ja nicht ihre Schuld, dass sie erst später angeheuert wurden. Die Entlohnung, welche die Arbeiter bzw. die Menschen, welche zum Glauben gefunden haben, erhalten, ist stets ein Denar, jeder dieser Gläubigen erhält nach seinem Tode Eintritt ins ewige Leben.

 

Es geht in diesem Gleichnis nur um diese eine Art der Entlohnung: Einzug ins Himmelreich, und nicht um die Frage, wie unterschiedlich im Himmel letztendlich die Taten der einzelnen belohnt bzw. bestraft werden. Dass die Menschen im Himmelreich nach ihren Taten entlohnt werden, können wir anderen Stellen der Heiligen Schrift entnehmen, diese Frage ist jedoch nicht Gegenstand des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg.

 

Wir können sogar davon ausgehen, dass selbst Menschen, welche schon früh zum Glauben gefunden haben, jedoch die Gebote Gottes wiederholt übertreten haben, Eingang ins Himmelreich erlangen können, wenn sie ihre Taten bereuen und ernsthaft bestrebt sind, umzukehren und fortan die Gebote Gottes zu befolgen. Aber auch dieses Thema ist nicht Gegenstand des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg.

 

Der Satz zum Schluss dieses Gleichnisses: ‚So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten‘ verweist darauf, dass auch diejenigen, welche schon sehr früh zum Glauben gefunden haben und nach außen hin unter Umständen zu den führenden (ersten) Mitgliedern der Gemeinde zählen, am Ende dennoch zu den Letzten zählen können, wenn sie sich in der Zwischenzeit vom Glauben abgewandt bzw. es mit der Einhaltung der Gebote Gottes nicht so genau genommen hatten. Wenn es ihnen gelang, diese Verfehlungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen, zählen sie trotzdem beim Endgericht zu den letzten.

 

Nun wird man gegenüber diesen Schlussfolgerungen einwenden können, dass Jesus jedoch auch gesagt hatte, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Himmelreich gelange. Kommt es deshalb vielmehr nicht darauf an, Reichtum gar nicht zuzulassen, wenn kein Reicher das ewige Leben erreichen kann? Folgen wir dem Gleichnis vom Reichtum und der Nachfolge bei Matthäus Kapitel 19,16-30:

 

16 ‚Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?

17  Er antwortete: Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist »der Gute«. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote!

18  Darauf fragte er ihn: Welche? Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen;

19  ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!

20  Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch?

21  Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.

22  Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.

23  Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: Amen, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.

24  Nochmals sage ich euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.

25  Als die Jünger das hörten, erschraken sie sehr und sagten: Wer kann dann noch gerettet werden?

26  Jesus sah sie an und sagte zu ihnen: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich.

27  Da antwortete Petrus: Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen?

28  Jesus erwiderte ihnen: Amen, ich sage euch: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.

29  Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen.

30 Viele aber, die jetzt die Ersten sind, werden dann die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein.‘

 

Besondere Beachtung fand in diesem Gleichnis die Feststellung von Jesus, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Himmelreich komme. Würde man diese Aussage wortwörtlich nehmen, hieße dies, dass kein einziger Reicher schließlich ins Himmelreich gelangen könne. Denn es ist ganz ausgeschlossen, dass ein Kamel und mag es noch das kleinste auf der Welt sein, je durch ein tatsächlich existierendes Nadelöhr schlüpfen kann, mag das Nadelöhr noch so groß sein.

 

Diese Feststellung widerspricht jedoch eindeutig einer anderen Bibelstelle (Lukas Kapitel 19,9) über Zachäus, einen sehr reichen Mann, in der Jesus zu Zachäus sagte: ‚Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.‘ Wenn Zachäus das Heil geschenkt wurde und wenn auch er als Sohn Abrahams bezeichnet wird, ist auch er ein Anwärter auf das jenseitige Reich Gottes.

 

Aber die Feststellung, dass kein einziger Reicher in das Himmelreich gelangen kann, steht auch bereits in Widerspruch zu dem Einleitungssatz dieses Gleichnisses: ‚Amen, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.‘ Wenn etwas schwer ist, dann ist es nicht unmöglich, dann bedarf es zwar einiger Anstrengungen eines Reichen, aber wenn er sich Mühe gibt, kann er es sehr wohl erreichen, ins Reich des Himmels einzugehen.

 

Vor allem aber stünde eine solche Feststellung, kein einziger Reicher gelange ins Himmelreich in eindeutigem Widerspruch zu der Antwort, welche Jesus seinen Jüngern gab, als diese über dieses Gleichnis vom Kamel, das durch kein Nadelöhr geht, entsetzt waren: ‚Jesus sah sie an und sagte zu ihnen: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich.‘ Danach kann sehr wohl auch ein Reicher ins Himmelreich eingehen.

 

Aber auch die Art und Weise, wie Jesus das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr einleitet, verbietet eigentlich die Feststellung, dass kein Reicher ins Himmelreich eingehen könne. Jesus hatte in einem ersten Satz davon gesprochen, dass es ein Reicher schwer habe, ins Himmelreich einzugehen. Dies bedeutet, dass es keinesfalls ausgeschlossen ist, dass je ein Reicher in das Reich Gottes gelange. Jesus fährt dann fort: ‚Nochmals sage ich euch‘, um dann das Bild vom Kamel anzuschließen.

 

Wollte Jesus mit dem Vergleich mit dem Kamel aussagen, dass kein einziger Reicher das Himmelreich erreiche, hätte er vielleicht fortfahren können: ‚nein es ist nicht nur schwierig, sondern sogar unmöglich, für einen Reichen ins Himmelreich einzugehen, die Unmöglichkeit würde dann in mehreren Schritten aufgezeigt. In Wirklichkeit sagt Jesus jedoch, nochmals sage ich euch, er bringt damit zum Ausdruck, dass er den Inhalt der ersten Aussage (es ist schwierig) wegen der Wichtigkeit der Aussage wiederholen möchte, indem er ein Bild benutzt, das jeder Zuhörer sofort erkennen kann. Wir dürfen also mit anderen Worten den Ausspruch über den Reichen und das Kamel nicht wörtlich verstehen.

 

Es wurden nun Versuche unternommen, diese Bibelstelle umzuinterpretieren. So wurde die Meinung geäußert, das Nadelöhr sei ein volkstümlicher Name für eine besonders enge Mauerpforte in der Stadtmauer Jerusalems. Durch diese Mauerpforte könne zwar ein Kamel zur Not durchgedrängt werden, aber eben nur mit großen Anstrengungen. Leider ist es vollkommen unklar, ob diese Mauerpforte zur Zeit Jesu schon existiert hatte.

 

Andere wie z. B. auch die jüdische Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide haben darauf hingewiesen, dass hier ein Lesefehler vorliege, das Wort ‚κάμιλος‘ heiße Seil und sei mit dem Wort ‚κάμηλος‘ verwechselt worden. Das in diesem Gleichnis verwendete Bild weise also darauf hin, dass das Anbringen der Seile an die Fischernetze äußerst schwierig sei.

 

Mir scheint auch diese Interpretation nicht überzeugend. Es ist allenfalls denkbar, dass eine solche Verwechslung vorgenommen wurde, es ist aber keinesfalls bewiesen, dass in den Worten Jesu von einem ‚κάμιλος‘, also einem Seil und nicht doch von einem ‚κάμηλος‘, also einem Kamel gesprochen wurde.

 

Vor allem wird bei einer solchen Interpretation unverständlich, weshalb Jesus im Zusammenhang mit diesem Bild noch davon spricht, dass es ein Reicher schwer, ja sogar sehr schwer hat, ins Himmelreich zu gelangen. Es mag zwar für jemand, der nicht im Fischereibereich beschäftigt ist, äußerst schwierig sein, das Seil an ein Fischernetz anzubringen. Für einen gelernten Fischer jedoch dürfte diese Aufgabe kein unlösbares Problem darstellen, das Anbringen der Seile an das Fischernetz gehörte sicherlich zu den täglichen Aufgaben eines Fischers. Und wenn wir diese Feststellung unserer Interpretation dieses Gleichnisses zugrunde legen, heißt dies doch, dass jeder Reiche (Fischer), der sein Handwerk ordnungsgemäß erlernt hat, durchaus die Voraussetzungen mitbringt, um schließlich ins Himmelreich einzugehen.

 

Vor allem steht der Versuch, anstelle des Kamels von einem Seil zu sprechen in eklatantem Widerspruch zu der Reaktion, welche die Jünger auf dieses Gleichnis zeigten, in dem sie Jesus entsetzt frugen, wer denn dann überhaupt noch ins Himmelreich gelangen könne. Denn wenn diese Interpretation richtig wäre, könnte jeder Reiche, sofern er sich nur etwas mühe gäbe, sehr wohl ins Himmelreich gelangen. Und Jesus hätte dann auch nicht daraufhin weisen müssen, dass für Gott auch das möglich sei, was dem Menschen unmöglich erscheine. Und da die Mehrheit der Jünger Fischer waren, schien das Anbringen des Seils an ein Fischernetz für die Jünger wohl keine unüberwindbare Aufgabe.

 

Wie haben wir also das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr zu interpretieren? Wir erinnern uns dazu, dass sich Jesus ganz allgemein einer Ausdrucksweise bedient, welche im ganzen orientalischen Raum üblich ist: Nämlich eine Lebensweisheit pointiert, das heißt zugespitzt zu formulieren, um auf diese Weise das Augenmerk des Zuhörers in besonderem Maße zu erreichen. Auf die Frage, wie oft man seinen Mitbrüdern verzeihen solle, wird dann nicht schlicht weg geantwortet, dass Gläubige immer wieder verzeihen sollen, wie oft sie auch geschädigt wurden, sondern es wird die etwas blumig wirkende, plastische Ausdrucksweise gewählt: ‚Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.‘ (Matthäus Kapitel 18,21-22)

 

Und in gleicher Weise meint dann das Bild vom Kamel, das durch kein Nadelöhr passt, dass es einfach schwer, sehr schwer sogar ist, als Reicher ins Himmelreich zu gelangen.

 

Zum Verständnis dieses Gleichnisses hilft es auch, wenn man andere Gleichnisse heranzieht, die ebenfalls von den Reichen und ihren Gefahren handelt. Im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus  (Lukas 16,19-31) wird uns von einem Reichen berichtet, welcher in Saus und Braus lebte und nach seinem Tode in der Unterwelt qualvolle Schmerzen litt. Wir erfahren auch, weshalb er diese Strafe empfing: Er hatte zugesehen, wie ein Armer vor der Tür des Reichen übersät von Geschwüren gelegen hatte, ohne dass der Reiche bereit gewesen wäre, diesem Armen zu helfen. Er hat also das Gebot der Nächstenliebe gravierend verletzt, obwohl dem Reichen das Elend des Lazarus vor Augen war (Lazarus lag ja für ihn sichtbar vor seiner Haustür). Und obwohl er ohne große materielle Einschränkungen diesem Armen hätte helfen können, nahm er von Lazarus keinerlei Notiz und ließ ihn buchstäblich verrecken:

 

19  ‚Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte.

20  Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war.

21  Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.

22  Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben.

23  In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß.

24  Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer.

25  Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden.

26  Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, sodass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte.

27  Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters!

28  Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen.

29  Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören.

30  Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren.

31  Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.‘

 

Wir erfahren also in diesem Gleichnis, dass der Reiche nicht einfach deshalb nach seinem Tode bestraft wurde, weil er reich war, sondern weil er das Gebot der Nächstenliebe sträflich missachtet hatte,weil er also offensichtlich nichts anderes im Sinne hatte, als seinen Reichtum zu bewahren und zu vermehren.

 

Aufschluss darüber, wann denn ein Reicher das Himmelreich verfehlt, bringt auch das Gleichnis vom reichen Toren bei Lukas Kapitel 12,16-21:

 

16  ‚Und er erzählte ihnen folgendes Beispiel: Auf den Feldern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte.

17  Da überlegte er hin und her: Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll.

18  Schließlich sagte er: So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen.

19  Dann kann ich zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens!

20  Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?

21  So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist.‘

 

Dieser Reiche wird von Gott als Narr beschimpft, wiederum nicht einfach deshalb, weil er reich ist, sondern weil sein ganzes Tun und Lassen einzig und allein darauf gerichtet ist, noch reicher zu werden und weil er dann diesen Reichtum allein dafür zu verwenden beabsichtigt, um sich sagen zu können: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens!‘.

 

Hätte er seinen Reichtum dazu benutzt, zumindest einen Teil seines Reichtums entsprechend dem Gebot der Nächstenliebe zu verwenden und wenn die Suche nach Reichtum nicht die einzige Sorge seines Lebens geblieben wäre, dann hätte Jesus ihn vermutlich nicht als Narr bezeichnet, der nun einen Anspruch auf das ewige Leben gerade durch sein Tun verwirkt hatte.

 

 

8. Schlussfolgerungen

 

Wir wollen zum Abschluss dieses Abschnitts noch einmal die Unterschiede zwischen dem hier dargestellten biblischen (christlichen) Leitbild einer gerechten Verteilung der Ressourcen und einem weltlich, atheistischen Leitbild zusammenfassen.

 

Der wichtigste Unterschied besteht in dem jenseitigen Bezug des christlichen Leitbildes und dem diesseitigen Bezug des Atheismus. Die christliche Religion geht davon aus, dass das irdische Leben nur eine Übergangsphase darstellt, dass der Gläubige auch nach seinem Tode – wenn auch in anderer Gestalt  – ewig weiterlebt und in das Himmelreich eingeht. Der christliche Mensch glaubt auch daran, dass am Ende der Zeiten jeder für seine Taten gerichtet wird, für die guten Taten belohnt und für die schlechten Taten bestraft wird.

 

Diese Einstellung bewirkt, dass der Einzelne auch dann, wenn er hier auf Erden Mühsal ausgesetzt ist und ihm Ungerechtigkeit erfährt, darauf vertrauen kann, dass er im Jenseits für diese Unbill entschädigt wird, dass die hier verbleibenden Ungerechtigkeiten ertragen werden können, da sie im Vergleich zum ewigen Leben eine kurze Phase darstellen. Der Gläubige geht davon aus, dass es hier auf Erden keine absolute Gerechtigkeit geben kann, dass aber Gott in die Seelen der Menschen schauen kann und deshalb auch in der Lage ist, den Umfang einer Schuld eines jeden zu erkennen und festzustellen, welchen Anteil ein Straftäter am Zustandekommen einer Straftat wirklich hat. Wer davon ausgehen kann, dass Gott ihm seine Sünden verzeiht, ist auch eher bereit, demjenigen zu verzeihen, der sich gegen ihn versündigt hat, auch lehrt uns die Bibel, dass wir nur dann Vergebung für unsere eigenen Sünden erhoffen können, wenn wir selbst unsern Schuldigern vergeben haben.

 

Der Atheist glaubt demgegenüber weder daran, dass zu Anbeginn der Zeiten ein Gott die Welt erschaffen hat, noch dass es ein Leben nach dem Tode gibt. Für ihn gilt als einziges Ziel, hier so gut wie nur möglich Schaden von sich abzuwenden und das höchstmögliche Glück hier auf Erden anzusteuern. Wenn es überhaupt möglich ist, jemals Gerechtigkeit herbeizuführen, dann ist dies auf jeden Fall nur jetzt und hier auf Erden möglich. Wenn man an keinen Gott glaubt, der für Gerechtigkeit sorgt, dann wird man alles daransetzen, bis hin zur Gewalt, um Gerechtigkeit zu erzwingen, man ist auch weniger bereit, dem anderen zu vergeben.

 

Aus diesem ersten Unterschied erwächst unmittelbar ein zweiter. Die christliche Lehre setzt in allererster Linie zur Durchsetzung einer gerechten Ordnung auf die persönliche Tat, der einzelne wird zwar zur Nächstenliebe aufgefordert, aber genauso wenig wie auch zum Glauben keineswegs gezwungen. Wir erwähnten bereits den 2. Korintherbrief des Paulus, Kapitel 9.7, in dem er der freiwilligen Spende vor der Zwangsabgabe eindeutig den Vorzu gibt:

 

‚Jeder gebe, wie er es sich in seinem Herzen vorgenommen hat, nicht verdrossen und nicht unter Zwang; denn Gott liebt einen fröhlichen Geber.‘

 

Der Atheist hingegen versucht Gerechtigkeit durch eine Ordnung zu erzwingen und wenn der einzelne eben nicht bereit ist, sich freiwillig zu fügen, dann muss er eben notfalls durch Gesetz dadurch gezwungen werden.

 

Also gilt es auch für den Atheisten, Ungleichheiten in den Einkommen und Vermögen durch Zwangsabgaben zu verringern. Man will den Einzelnen nicht nur zu seinem Glück, sondern auch dazu zwingen, den Notleidenden zu helfen. Demgegenüber muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es gar nicht möglich ist, jemand durch Zwang zu einem guten Menschen umzuwandeln. Derjenige, der gezwungen wird, einen großen Teil seines Einkommens in Form von Steuern abzuführen, welche dann unter anderem auch zur Verbesserung der Lage der Notleidenden eingesetzt werden können, wird durch diesen Zwang kein Deut besser und moralischer. Er hat sich ja nicht selbst zu dieser Spende entschieden, sondern wurde zu dieser Handlung gezwungen, er kann deshalb auch nicht erwarten, für diese gar nicht gewollte Tat von Gott am Ende der Zeiten belohnt zu werden.

 

Ganz im Gegenteil gehen von einem Zwangssystem eher Anreize zum Bösen aus. Zunächst besteht die Gefahr, dass der einzelne, der auf diese Weise zur Hilfe gegenüber anderen gezwungen wird, in seinen eigenen Bemühungen dem Notleidenden zu helfen, seine eigene Hilfe reduziert, da er ja irrtümlicher Weise davon ausgeht, dass der Staat diese Aufgabe übernommen hat und dass deshalb die individuelle Hilfe gar nicht mehr benötigt wird.

 

Dies ist natürlich eine falsche Argumentation. Wir haben bereits weiter oben gesehen, dass ein noch so ausgebautes und von außen perfekt aussehendes System nicht in der Lage ist, jede Not zu lindern, stets gibt es individuelle Fälle, in denen ein allgemeines System keine Hilfe bringt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die von einem sozialen System gewährten Hilfen eindeutig präzisiert sein müssen, um Missbrauch soweit wie möglich zu verhindern. Vor allem leben wir in einer dynamischen Welt, in der sich die Umweltbedingungen immer wieder ändern, sodass diese Unvollkommenheit eines noch so perfekten Systems auch dann noch zu befürchten ist, wenn im Augenblick der Einführung dieses Systems wirklich alle bestehenden Notlagen genau erfasst worden wären.

 

Ein Zwangssystem führt dann auch leicht dazu, dass sich der einzelne ungerecht behandelt fühlt, dass er die Abgaben als zu hoch empfindet und dass er der Überzeugung ist, selbst ungerecht behandelt worden zu sein. Von dieser Einstellung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt dazu, dass sich derjenige, welcher sich vom staatlichen System betrogen fühlt, sich auch für berechtigt hält, durch eigene Anstrengungen sich das wiederum zurückzuholen, was der Staat ihm ungerechter Weise genommen habe. Wenn schon der Staat sich nach dieser Auffassung krimineller Handlungen bedient, hält er es auch für berechtigt, sich selbst gegen die Gesetze zu stellen und Steuern zu hinterziehen.

 

Auch dann, wenn er nicht so weit geht, selbst illegale Wege zu beschreiten, um sich das wieder zurückzuholen, was seiner Meinung zuvor zu Unrecht in Form von Steuern abgeführt wurde, so besteht doch die Gefahr, dass sich diese so Betrogenen bei den nächsten Wahlen Parteien zuwenden, welche sich nicht an die Gebote der Nächstenliebe halten.

 

Alle Zwangssysteme sind nicht nur dadurch bedroht und in ihrer Effizienz beeinträchtigt, dass diejenigen, welche zu Abgaben gezwungen werden, zum Teil bemüht sind, sich ihrer Abgabenpflicht zu entziehen. Missbrauch findet immer auch auf der Ausgabenseite statt und zwar insofern, als einzelne bestrebt sind, Leistungen aus diesen System auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn sie gar nicht die Voraussetzungen erfüllen, welche zum Leistungsempfang berechtigen.

 

Dieser Missbrauch auf der Ausgabenseite wird dadurch möglich, dass es auch hier äußerst schwierig ist, alle Voraussetzungen für den Leistungsempfang zu konkretisieren. Darüber hinaus ist der Anreiz zum Missbrauch um so größer, je geringer die Differenz zwischen den Einkünften ist, die auf dem Arbeitsmarkt gewährt werden (dem Lohnsatz) und den Einkünften, welche das System gewährt (z. B. dem Arbeitslosengeld).

 

Die Missbrauchsgefahr bei Zwangssystemen ist somit immer beachtlich hoch. Und dieser Missbrauch muss bei der Abwägung zwischen freiwilligen und zwangsweisen Leistungen berücksichtigt werden. Es ist zwar richtig, dass bei einem freiwilligen System immer die Gefahr besteht, dass sich einzelne der Verpflichtung zur Nächstenliebe entziehen und dass insoweit auch im freiwilligen System immer mit Missbrauch gerechnet werden muss. Es ist aber falsch zu meinen, dass nur die freiwilligen Systeme mit der Gefahr eines Missbrauchs rechnen müssen, Missbrauch gibt es gerade auch – wie gezeigt – bei Zwangssystemen jeder Art.

 

Gerade weil bei Zwangssystemen die Gefahr des Missbrauchs so groß ist, bedarf es auch der Kontrolle im Einzelfall und gerade diese Kontrolle führt oftmals zu einer starken Beeinträchtigung der Hilfe. Der einzelne so Kontrollierte findet sich in seinem Ehrgefühl verletzt, er vermisst die seelische Zuwendung, die er oftmals noch in stärkerem Maße als die finanzielle Hilfe selbst benötigt. Eine individuelle, persönliche Hilfe ist immer besser in der Lage, dem Notleidenden auch seelischen Zuspruch zu bringen, die Hilfe wird hier zumeist in geringerem Maße als bei der offiziellen Hilfe als demütigend empfunden.

 

Nun bedeuten diese Argumente zugunsten einer freiwilligen Hilfe sicherlich nicht, dass das Zwangssystem vollkommen beseitigt werden sollte. Es ist klar, dass eine echte Hilfe oftmals ein kollektives Vorgehen notwendig macht. Kommt es z. B. in einem Entwicklungsland zu einer Hungersnot, so reichen im Allgemeinen die persönlichen Spenden nicht aus, um der Not beizukommen, es bedarf fast immer einer Koordination der Hilfe, um der Gefahr zu begegnen, dass aus mehr zufälligen Gründen ein Teil der Notleidenden bei einer Beschränkung auf individuelle Hilfe gar nicht erreicht werden. Es gilt hier das Jesuswort, als Jesus die Pharisäer dafür tadelte, dass sie über die Abgabe des Zehnten die eigentlichen Werke der Barmherzigkeit vernachlässigten: Bei Matthäus Kapitel 23,23 heißt es: Man muss das eine (die persönliche Nächstenliebe) tun, ohne das andere (die Abgabe des Zehnten) zu lassen.‘

 

Ein dritter Unterschied zwischen atheistischem und religiösem Leitbild der Gerechtigkeit ergibt sich daraus, dass die Versuche, Ungerechtigkeiten abzubauen, an ganz unterschiedlichen Stellen ansetzen. Weltliche Bemühungen, Ungerechtigkeiten abzubauen, setzen stets an den Einkommens- und Vermögensrechten der Reichen an, das Einkommen der Reichen soll begrenzt werden. Demgegenüber setzt das christliche Leitbild an den Pflichten an, welche diejenigen zu erfüllen haben, welche mit größeren Begabungen und höheren Vermögensbesitz begünstigt sind.

 

Das weltliche, vor allem sozialistische Leitbild geht von der Erkenntnis aus, dass in der Wirklichkeit vor allem marktwirtschaftlich organisierter Wirtschaftssysteme beachtliche Unterschiede in den Einkommen und Vermögen der einzelnen Bürger bestehen. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass die Menschen eigentlich vor dem Gesetz gleich sein sollten, also wird geschlossen, dass diese beobachteten großen Unterschiede in den Einkommensklassen unberechtigt sind und dass es deshalb notwendig ist, z. B. durch eine progressive Einkommens- und Vermögensbesteuerung diese Unterschiede zwangsweise zu reduzieren.

 

Hierbei lassen sich zwei unterschiedliche Positionen feststellen. Anhänger eines Egalitätsprinzips sind der Auffassung, dass im Idealfall alle Einkommensunterschiede beseitigt werden müssten, dass eigentlich die Einkommen vollkommen gleich verteilt sein sollten. Eine gemäßigtere Variante findet sich dort, wo zwar durchaus Einkommensunterschiede für gerechtfertigt gehalten werden, sofern sie sich auf persönliche Arbeitsleistung zurückführen lassen, dass aber Einkommensunterschiede, die nicht auf individuelle Arbeitsleistung zurückgeführt werden könnten, auf politischem Wege beseitigt werden müssten.

 

Die Verwirklichung des Egalitätsprinzip wurde in der Realität nur in den seltensten Fällen gefordert. Vor allem der reale Kommunismus hat stets gewisse Einkommensunterschiede zugelassen, sogar gefördert, um auf diese Weise Anreize zur Leistungssteigerung zu setzen. Nur der christlich geprägte Urkommunismus, der im Zusammenhang mit der französischen Revolution von 1789 entstanden war, hielt eine vollständige Nivellierung der Einkommen für erwünscht. Karl Marx, der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus hat jedoch diesen Ideen als utopische Zielsetzungen eine Abfuhr erteilt.

 

Diese egalitären Ideen beriefen sich auf das Verhalten der Jünger unmittelbar nach der Kreuzigung und der Himmelfahrt Jesu. Die Jünger Jesu teilten ihr Eigentum großzügig mit ihren Glaubensgenossen und bildeten somit eine Art kommunistischer Gemeinschaft. Dass sie dies taten, hing jedoch mit der historischen Situation zusammen. Auf der einen Seite waren sie der Überzeugung, dass in sehr kurzer Zeit – in einigen wenigen Monaten oder höchstens Jahren – die Endzeit anbrechen würde, sodass es nicht mehr notwendig oder erwünscht gewesen sei, sich um irdische Fragen zu sorgen. Auf der anderen Seite schweißte jedoch auch die gemeinsame Verfolgung zunächst durch die jüdischen Kirchenbehörden, später aber auch durch den römischen Kaiser, vor allem Nero, die Mitglieder der christlichen Urkirche zusammen.

 

Das christliche Leitbild geht zwar auch von einer recht ungleichen Verteilung der materiellen Ressourcen zwischen den einzelnen Menschen aus. Diese Ungleichheit wird jedoch nicht als Skandal bewertet. Da sich die einzelnen Menschen ja auch in den einzelnen erblich bedingten Anlagen und Fertigkeiten beachtlich unterscheiden und da nach christlicher Überzeugung letztlich Gott den Menschen erschaffen hat – und zwar dadurch, dass er bei der Schöpfung der Erde die Naturgesetze festgelegt hat, nach denen sich alles Leben schließlich entwickelt – muss in dieser Ungleichheit ein Sinn gesehen werden und dieser Sinn besteht eben darin, dass derjenige, welcher über größere Anlagen als andere verfügt, auch gleichzeitig eine höhere Verpflichtung, für das Gemeinwohl tätig zu werden, erhalten hat.

 

Gerade weil die bessere Ausstattung mit materiellen Ressourcen gar nicht primär dem persönlichen Konsum der Vermögenden gewidmet sein soll, sondern in erster Linie als Voraussetzung dafür dient, Gemeinwohlaufgaben zu erfüllen, ist die Ungleichheit auch gar nicht so anstößig. Natürlich gilt es sich auch hier darüber klar zu werden, dass diese Ungleichheit von den Vermögenden missbräuchlich oftmals dazu benutzt wird, sich selbst zu bereichern und den größten Teil dieses Besitzes einseitig zur Steigerung ihres eigenen Konsums zu verwenden.

 

Wir haben ebenfalls gesehen, dass Missbrauch auch in den Systemen stattfindet, welche zwangsweise eine Umverteilung anstreben. Vor allem haben wir gezeigt, dass ein großer Teil der beabsichtigten Umverteilung realiter gar nicht stattfindet. Der Steuerzahler fällt keineswegs mit dem Steuerträger zusammen, er kann Steuerlasten auf den Güterpreis weiterwälzen, sodass nicht der Unternehmer, sondern der Konsument hier die Zeche zu zahlen hat. Werden die Einkommen der Spitzenmanager stärker besteuert, so ist zu befürchten, dass die Bruttogehälter einfach deshalb angehoben werden, weil die Höhe der Gehälter für Spitzenmanager in einer globalisierten Welt international bestimmt wird und nicht an der Bruttohöhe, sondern an der Höhe der privat verfügbaren Einkommen gemessen wird. Wären die Unternehmungen zu dieser Anpassung in den Bruttoeinkommen nicht bereit, bestünde die Gefahr, dass Spitzenmanager ins Ausland abwandern und kommt es zu einer Abwanderung, wandern die qualifizierteren Fachkräfte ins Ausland.

 

Ein vierter Unterschied zwischen beiden Leitbildern hängt eng mit dem dritten Unterschied zusammen, nämlich die Unterscheidung zwischen einem absoluten und einem relativen Armutsmaßstab. Während z. B. dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter die Hilfsbedürftigkeit des Überfallenen als absolute Notlage geschildert wird, also ein absoluter Maßstab angelegt wird, wird entsprechend der Vorgehensweise der statistischen Ämter innerhalb der europäischen Union Armut in Relation zu dem durchschnittlichen Einkommen aller Bürger definiert. Danach liegt die Armutsgrenze, ab dem ein Individuum als arm eingestuft wird, bei 40% des Pro-Kopf-Einkommens. Wer weniger als 60% des Pro-Kopf-Einkommens erhält, gilt hingegen bereits als armutsgefährdet. Dies bedeutet, dass also jeder als arm bezeichnet wird, dem es nicht gelingt, ohne staatliche Sozialhilfe über Einkünfte zu verfügen, welche über 40% des Pro-Kopf-Einkommens liegen.

 

John Rawls hat in einem etwas anderen Zusammenhang das Maximinprinzip vorgeschlagen. Danach gilt eine politische Maßnahme, welche das absolute und reale Einkommen der ärmsten Gruppe vergrößert, für gerechtfertigt auch dann, wenn gleichzeitig das Einkommen der Reichen steigt, ja unter Umständen sogar stärker als das der Armen, sodass durch diese Maßnahmen keine Nivellierung der Einkommensverteilung, vielleicht sogar eine weitere Differenzierung in den Einkommen hervorgerufen wird. Hier wird also ex pressis verbis die Gerechtigkeit allein an den realen absoluten Verhältnissen der einzelnen Bevölkerungsgruppen gemessen und nicht daran, in welchem Verhältnis die einzelnen Einkommen zueinander stehen.

 

Wir können nun diese Unterscheidung auch auf den Begriff der Armut übertragen. In Analogie zu John Rawls kann nun auch vorgeschlagen werden, Armut nicht daran zu messen – wie dies die offizielle Statistik in den europäischen Staaten tut – in welchem Verhältnis die einzelnen Einkommen zueinander stehen, sondern einzig und allein daran, über welches absolute (reale) Einkommen die einzelnen Individuen verfügen.

 

Diese Vorgehensweise entspricht zunächst dem allgemeinen Verständnis von Armut. Als arm gilt normaler Weise jemand, welcher nicht über die materiellen Ressourcen verfügt, welche für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Als menschwürdig kann ein menschliches Leben nur dann bezeichnet werden, wenn der einzelne weder Hunger noch Durst erleidet, wenn er über ausreichende Kleidung verfügt, dass er nicht frieren muss, wenn er eine Wohngelegenheit mit einem Mindeststandard an hygienischen Verhältnissen hat, wenn er auch bei Krankheit die Medikamente und Heilmittel erhält, welche zur Gesundung unerlässlich sind.

 

Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, spricht man vom Existenzminimum, das alle materiellen Ressourcen umfasst, welche für das Überleben unerlässlich sind. Man unterscheidet hierbei zwischen einem physischen und kulturellen Existenzminimum. Zum physischen Existenzminimum zählen hierbei all die Güter, welche zum physischen Überleben notwendig sind, während das kulturelle Existenzminimum zusätzlich berücksichtigt, dass zu einem menschenwürdigen Leben auch die Ermöglichung gewisser kultureller Werte gehört.

 

Das physische Existenzminimum lässt sich relativ einfach exakt bestimmen, die medizinische Wissenschaft kann z. B. feststellen, wie viel Kohlenhydrate, Eiweißstoffe und Fette, weiterhin wie viel Mineralien, Vitamine und Spurenelemente der Mensch zum Überleben benötigt. Für die Festlegung eines kulturellen Existenzminimums lässt sich kein wertfreier wissenschaftlicher Maßstab festlegen, es ist vielmehr die politische Überzeugung einer Gesellschaft, welche durch Festlegung der Sozialhilfesätze bestimmt, welche zusätzlichen Güter dem Existenzminimum zugerechnet werden sollen.

 

Bei dieser Art der Bestimmung der Armutsgrenze wird auf das Einkommen der übrigen Bevölkerung kein Bezug genommen. Die Frage, wie viel Eiweiß ein Individuum zum Überleben benötigt, ist vollkommen unabhängig davon, wie hoch das Einkommen all der anderen Bürger ist, welche nicht als arm zu gelten haben.

 

Diese Begriffsbestimmung bedeutet allerdings nicht, dass eine Festlegung des Existenzminimums in einer grauen Vorzeit für alle Zeiten gültig ist. Natürlich kann es erwünscht oder sogar notwendig erscheinen, die Grenze dafür, wann das kulturelle Existenzminimum garantiert ist, neu festzusetzen. Wir haben nämlich davon auszugehen, dass zu Beginn des industriellen Zeitalters das Inlandsprodukt (der Gesamtwert aller produzierten Güter) so gering war, dass auch das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung nicht wesentlich über dem Existenzminimum lag.

 

Nun lässt sich die Gewährung eines Mindesteinkommens an alle diejenigen, welche es nicht erreichen, aus eigener Arbeit ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu beziehen, nur dann finanzieren, wenn diejenigen Arbeitnehmer, welche einer Erwerbsarbeit nachgehen, ein deutlich höheres Einkommen erhalten als die Arbeitslosen. Würde man nämlich auch den Erwerbstätigen das gleiche Einkommen wie den Erwerbslosen gewähren, wären die Anreize, nichts zu tun, so groß, dass auch die Arbeitslosengelder nicht finanziert werden könnten. Wenn ein Arbeitsloser das gleiche Einkommen erhält wie der Erwerbstätige, so stellt sich materiell der Arbeitslose wesentlich besser als der Erwerbstätige, da der Arbeitslose zusätzlich zu dem gleichen Einkommen noch über wesentlich mehr Freizeit verfügt.

 

Eine Differenzierung zwischen den Arbeitslosengeldern und den Erwerbseinkommen ist also notwendig, um überhaupt die materielle Unterstützung der Armen finanzieren zu können. Wenn nun aber das Pro-Kopf-Einkommen nicht wesentlich über dem Existenzminimum wie zu Beginn des Industriezeitalters liegt, können als Armenunterstützung nur Einkünfte gewährt werden, welche tatsächlich unterhalb eines Existenzminimums liegen. Selbstverständlich wird es hier notwendig, dass in dem Maße, in dem das Pro-Kopf-Einkommen einer Bevölkerung steigt, auch die materielle Unterstützung der Armen angehoben werden muss. Diese Anhebung wird aber nicht primär deshalb gerechtfertigt, weil das Einkommen der anderen gestiegen ist, sondern deshalb, weil in der Vergangenheit die tatsächlichen Unterstützungssätze unterhalb eines (kulturellen) Existenzminimums lagen.

 

In gleicher Weise kann ein Anheben der Armutsgrenze auch dann notwendig werden, wenn wir nachweisen können, dass wir bei der Bestimmung des Existenzminimums bisher von falschen Annahmen ausgingen, dass also z. B. bisher von einem nicht ausreichenden Mindestbedarf an Eiweis ausgegangen wurde.

 

Was spricht nun für einen absoluten und was für einen relativen Armutsbegriff? Unterstellen wir als erstes eine Gesellschaft, in welcher zu Beginn der Betrachtungszeit alle Bürger, also auch die Ärmsten über Einkünfte verfügen, die zumindest dem kulturellen Existenzminimum entsprechen. In den folgenden Perioden stiege das Durchschnittseinkommen Jahr für Jahr um einen beachtlichen Prozentsatz, sagen wir von 10%, was ja in dem ersten Jahrzehnt der BRD nach Einführung der Marktwirtschaft tatsächlich der Fall war. Aufgrund der stark ansteigenden Steuereinnahmen hätte die Regierung auch die Unterstützungssätze für die Armen um jeweils 5% pro Jahr angehoben.

 

Diese Entwicklung hätte zur Folge gehabt, dass sich die realen materiellen Verhältnisse der Armen entscheidend verbessert hätten, trotzdem würde die offizielle Statistik eine Zunahme der Armut feststellen, da ja annahmegemäß die Einkünfte der Ärmeren nicht ganz so stark gestiegen waren wie die Einkünfte der gesamten Bevölkerung und da folgerichtig der Prozentsatz derjenigen, welche gerade die neue Armutsgrenze nicht mehr erreichen, angestiegen ist.

 

Nehmen wir als zweites Beispiel eine Gesellschaft, in welcher Einkommensverhältnisse wie in einigen der reichsten Golfstaaten vorliegen. Die Mehrheit der Bevölkerung erreicht ein Einkommen, das vermutlich deutlich über dem Einkommen der übrigen Industriestaaten liegt, es finden sich hier weiterhin sehr viele Millionäre und eine gewisse Zahl sehr Reicher, also Milliardäre. Bei einer solchen Situation müsste damit gerechnet werden, dass auch einige Millionäre als arm eingestuft werden, wenn die Armutsgrenze relativ (etwa bei 40% des Pro-Kopf-Einkommens) festgelegt würde. Auch hier würden die Ergebnisse der Armutsstatistik ähnlich wie im ersten Beispiel dem allgemeinen Verständnis von Armut widersprechen.

 

Als drittes Beispiel wollen wir uns umgekehrt eine Gesellschaft vorstellen, in welcher getreu den Empfehlungen linker Parteien ein allgemeiner für alle Wirtschaftszweige gleicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, in der weiterhin die Vermögenssteuer wiederum eingeführt worden sei, die Steuersätze für die Erbschaftssteuer und zusätzlich die Spitzensteuersätze der Einkommenssteuer drastisch erhöht worden wären. Wir wollen weiterhin annehmen, dass aufgrund dieser Maßnahmen tatsächlich der Differenzierungsgrad der Einkommen und Vermögen verringert werden konnte. Ist damit wirklich garantiert, dass sich die Lage der Ärmsten unserer Gesellschaft verbessert hat?

 

Wir müssen davon ausgehen: Das Unwohlsein eines Armen steigt bei einem relativen Maßstab sogar an. Zusätzlich zu den Begrenzungen, welche dieser Arme dadurch erfährt, weil er nicht über ausreichend materielle Güter verfügt, wird er nun in der Öffentlichkeit als Versager hingestellt, der das Klassenziel: aus eigener Kraft ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu erzielen, verfehlt hat. Zu all den realen Entbehrungen, welche die Armut mit sich bringt, wird der Arme nun noch darauf eigens aufmerksam gemacht, dass die anderen, der größte Teil der Bevölkerung, aus eigener Kraft die Armut vermieden haben. Es besteht hier leicht die Gefahr, dass sich der Arme nun vermehrt entweder in die Isolation zurückzieht und gerade die nachbarliche Hilfe, die er eigentlich dringend benötigte, ausschlägt oder aber aus Hass gegenüber den andern, welche nicht arm sind, sich verbrecherischen Handlungen wie Raub und Gewalt oder aber auch politischen Extremisten zuwendet.

 

Nun mag es zwar richtig sein, dass die Menschen ganz allgemein Vergleiche zu den anderen Individuen ziehen und sich als ungerecht behandelt ansehen, wenn sie geringere Einkünfte beziehen als andere. Aber es gibt keinen Grund dafür, dass man diese tatsächlichen Verhaltensweisen zu erwünschten Normen hochstilisiert. Neid ist keine Tugend, sondern eine der häufigsten Untugenden. Der Neid wird zu den häufigsten Todsünden gezählt und das Begehren des Nächsten Hab und Gut, das im zehnten Gebot als Sünde gebrandmarkt wird, ist nur ein anderer Name für den Neid.

 

Es mag sogar richtig sein, dass von dem Vergleichen der eigenen Einkommenslage zu der Einkommenslage anderer bisweilen eine positive Funktion ausgeht. Die Tatsache, dass ein einzelner feststellt, er habe ein geringeres Einkommen als einer seiner Nachbarn, kann ihn sogar beflügeln, sich stärker als bisher anzustrengen und gerade dadurch zu einer Steigerung seines eigenen Einkommens beitragen und es ist durchaus denkbar, dass gerade durch diesen Wettbewerb und dem Bemühen, etwas mehr zu erreichen als der andere, starke Leistungsanreize und damit eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt erzielt wird.

 

Diese positive Funktionen sind jedoch nicht zu erwarten, wenn dieser Einkommensvergleich auch auf die Ärmsten unserer Gesellschaft angewandt wird. Die meisten Armen sind arm aufgrund persönlicher Schicksalsschläge, aufgrund derer sie ohnehin nicht mehr über die Kraft und den Willen verfügen, an diesem Wettbewerb teilzunehmen. Was bleibt, sind dann nur noch die oben erwähnten Steigerungen im Unwohlsein der Betroffenen.

 

Darüber hinaus können auch negative Nebeneffekte dadurch auftreten, dass diejenigen, welche sich in der Einkommens- und Vermögenshierarchie im Mittelfeld befinden, also weder zu den ganz Armen noch zu den ganz Reichen zählen, die Kenntnisnahme des Auseinanderdriftens zum Anlass nehmen, entweder auf Akte der Nächstenliebe zu verzichten oder sogar geschuldete Steuern zu hinterziehen. Man rechtfertigt dann diese Handlungen damit, dass es ja an den Superreichen liege, dass es in dieser Welt Not gibt und dass deshalb nur die Superreichen die Mittel aufzubringen hätten, um die aktuelle Not der Armen zu verringern. Die Zahl der Superreichen ist aber immer zu gering, um eine ausreichende Finanzierung der Sozialsysteme zu garantieren.