Startseite

Geschichte der Ökonomie

 

 

 

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung

2. Merkantilismus

4. Klassik

5. wissenschaftlicher Sozialismus

6. historische Schule

7. Wiener Schule

8. Lausanner Schule

9. Cambridge Schule

10. Keynesianismus

11. Neoliberalismus

 

 

7. Wiener Schule Teil II

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung: Renaissance der Klassik

2. Die wichtigsten Vertreter

3. Das erste Gossen’sche Gesetz

4. Das zweite Gossen’sche Gesetz

5. Das Problem der Wertantinomie

6. Das Zurechnungsproblem

7. Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse

8. Die Agio-Theorie des Zinses

9. Macht oder ökonomisches Gesetz?

              

              

 

6. Das Zurechnungsproblem

 

Wir haben weiter oben festgestellt, dass das Zurechnungsproblem zu den wichtigsten Problemen der Wiener Schule zählt und wir können hinzufügen, dass es auch zu den am meisten durchdachten Lösungsvorschlägen gehört, obwohl wir genauso wie für die Werttheorie von David Ricardo zu dem Schluss kommen werden, dass auch der Vorschlag der Wiener Schule zur Lösung des Zurechnungsproblems nicht als befriedigend gelöst angesehen werden kann.

 

Das Problem der Zurechnung besteht hierbei in Folgendem: Wenn wir den Wert eines Gutes von dem Nutzen ableiten, den die Endverbraucher beim Konsum dieses Gutes erfahren, dann entsteht die Frage, wie denn dieser Gesamtwert auf die einzelnen Produktionsfaktoren, die an der Produktion beteiligt sind, aufgeteilt werden kann.

 

Hierbei können prinzipiell zwei unterschiedliche Methoden angewendet werden. Man kann – wie dies später von den angelsächsischen Vertretern getan wurde – den Wert der einzelnen Produktionsfaktoren als unmittelbares Ergebnis des Marktes verstehen, wobei vor allem die jeweils verwirklichte Marktform darüber entscheidet, welche Entlohnung die einzelnen Produktionsfaktoren erreichen. Dies ist der Weg, den vor allem John Bates Clark gegangen ist, den wir allerdings erst im zweiten Teil dieses Seminars unter der Überschrift der mikroökonomischen Verteilungstheorie analysieren wollen.

 

Man kann aber auch den Versuch unternehmen, zu klären, welchen Teil denn die einzelnen Produktions­faktoren zur Erlangung des Gesamtwertes beigetragen haben. Es ist dies der Weg, der von Karl Menger, Böhm-Bawerk sowie Friedrich von Wieser beschritten wurde und der das Problem der Zurechnung eher aus einer wohlfahrtstheoretischen als einer positiven, erklärenden Sicht beleuchtet. Wir wollen uns in diesem Kapitel auf die Darstellung dieser drei Autoren beschränken, wobei jeder dieser Autoren einen etwas anderen Weg beschreitet.

 

Beginnen wir mit dem von Karl Menger unternommenen Versuch. Bei Karl Menger wird der Wert eines Produktionsfaktors über die sogenannte Abzugsmethode ermittelt. Man geht hierbei zunächst von dem Gesamtwert aus, den ein Gut auf dem Markt erzielt. Im nächsten Schritt überlegt man sich, wie sich denn der Gesamtwert vermindern würde, wenn man nun den zu untersuchenden Produktionsfaktor in Gedanken abziehen würde. Der Unterschied zwischen dem anfänglichen Gesamtwert und dem verbleibenden Restwert nach Abzug eines Faktors, wäre dann der Wert, der diesem Faktor zuerkannt wird. Wenn ein Gut zunächst den Wert 100 erreicht und wenn bei Abzug von Arbeitskräften nur noch ein Wert von 40 erreicht würde, könnte mit Fug und Recht der Wert des Arbeitsfaktors als 100 - 40, also 60 angesetzt werden.

 

Hierbei ist kritisch sofort darauf hinzuweisen, dass dann, wenn man einen Produktionsfaktor wie z. B. den Arbeitsfaktor in Gänze abziehen wollte, auch kein Produkt produziert werden könnte, weil zur Produktion fast aller Güter immer alle zur Diskussion stehenden Produktionsfaktoren benötigt werden. Die Produktion findet auf einem bestimmten Gelände statt, sodass auf jeden Fall der Faktor Boden benötigt wird; es werden weiterhin in aller Regel Arbeitskräfte zur Erstellung der Endprodukte eingesetzt, sodass auch ohne Arbeitseinsatz kein Produkt entsteht. Schließlich bedarf es des Einsatzes von Kapital, um die Arbeitnehmer sofort auszahlen zu können, bevor der Unternehmer durch den Verkauf der fertigen Produkte die Geldmittel erhält, um die Arbeitnehmer zu bezahlen. Oder aber es wird Kapital benötigt, um Maschinen zu kaufen. Auch hier wird man davon ausgehen müssen, dass ohne jedes Kapital keine Produktion möglich gewesen wäre, man hätte die Arbeiter nicht sofort bezahlen können und die Produktion hätte ohne Maschinen überhaupt nicht begonnen werden können.

 

Wir müssten also, wenn wir einen Faktor in Gedanken gänzlich abziehen, jedem Faktor den Gesamtwert des Produktes zuordnen und hierbei geraten wir in einen logischen Widerspruch. Die Summe der Entgelte für alle eingesetzten Produktionsfaktoren kann nicht größer sein als der Gesamtwert, mehr ist nicht zu verteilen, auf der anderen Seite ergibt sich bei der vorgeschlagenen Lösung ein Wert des dreifachen Verkaufsertrages, wenn wir einmal von drei Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden und Kapital) ausgehen.

 

Die Lösung des Problems liegt natürlich darin, dass wir die Marginalanalyse anwenden. Der Abzug eines Produktionsfaktors soll sich eben nicht auf den Faktor in Gänze beziehen, sondern sich im Sinne der Marginalanalyse immer nur auf eine kleine (unendlich kleine?) Einheit beziehen. Genauso wie sich auf dem Markt der Preis eines Gutes auf den Grenznutzen des zuletzt nachgefragten Gutes bezieht, stellen wir auch bei dem von Karl Menger vorgeschlagenen Abzugsverfahren die Entlohnung eines Produktionsfaktors dadurch fest, dass wir danach fragen, wie sich der Wert ändert, wenn der untersuchte Faktor um eine Einheit verringert wird.

 

Bei einer solchen Marginalanalyse können wir im Allgemeinen sehr wohl davon ausgehen, dass bei lediglich marginalen Abzügen die Produktion des Gutes nach wie vor möglich ist und zwar deshalb, weil bei nahezu jeder Produktion eine gewisse wechselseitige Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren möglich ist. Fällt der eine Arbeiter aus, so kann ein anderer Arbeiter einspringen; auch ist es denkbar, dass durch geringfügige Änderung der Produktionstechnik die Produktion auch mit einer geringeren Anzahl von Arbeitnehmern aufrechterhalten werden kann.

 

Es bleibt allerdings ein wichtiges Problem übrig, das von Karl Menger nicht gelöst wurde. Es bleibt vollkommen unklar, ob bei dieser Vorgehensweise wirklich der Gesamtwert eines Gutes am Ende genau der Summe der so errechneten Entlohnungen aller Produktionsfaktoren entspricht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auf diesem Wege die Summe der Entlohnungen größer oder aber auch kleiner ausfällt als der Gesamtwert des Gutes.

 

Eine Lösung dieses Problems wurde später von den Neoklassikern, welche den oben erwähnten erst genannten Weg (unmittelbare Marktlösung) beschritten haben, im sogenannten Ausschöpfungstheorem vorgeschlagen. Dieser Nachweis wurde unter anderem von Philip- Henry Wicksteed geführt. Wir werden uns auch mit diesem Theorem erst im zweiten Teil der Lehrgeschichte im Zusammenhang mit der mikroökonomischen Verteilungstheorie befassen.

 

Wenden wir uns nun dem Verfahren zu, das Eugen von Böhm-Bawerk zur Lösung des Zurechnungs­problems vorgeschlagen hatte. Auch Böhm-Bawerk beginnt mit dem gleichen Ansatz wie Menger, in dem er also vom Gesamtwert des Gutes ausgeht und einen Produktionsfaktor marginal um eine Einheit vermindert. Anders als Karl Menger bestimmt jedoch Eugen von Böhm-Bawerk den Wert dieses abgezogenen Produktionsfaktors dadurch, dass er danach fragt, um welchen Betrag dieser Faktor in einer anderen Verwendung den Gesamtwert erhöhen würde.

 

Da natürlich im Allgemeinen nicht nur eine, sondern mehrere Verwendungsarten eines Produktionsfaktors bekannt sind, gilt es noch zu klären, in welcher Verwendung der abgezogene Produktions­faktor eingesetzt werden soll. Die Antwort ist klar: Wir können die einzelnen Verwendungsarten (und dies sind ja Güterproduktionen) nach ihrem Wert ordnen. Wir gehen davon aus, dass zunächst jeder Faktor in der bestmöglichen Verwendung eingesetzt wurde und dass nach dem Abzug aus der bestmöglichen Verwendung dieser Faktor der zweitbesten Verwendung zugeführt wird.

 

Machen wir uns diesen Zusammenhang wiederum anhand eines Beispiels klar: Der Gesamtwert des ersten untersuchten Gutes A betrage wiederum 100 Einheiten. Vom Produktionsfaktor Arbeit werde eine Einheit abgezogen, sodass der Restwert bei Gut A 80 betrage. Dieser freigewordene Faktor werde nun bei der Produktion von Gut B (der zweitbesten Verwendung) eingesetzt. Der Wert von Gut B habe ursprünglich bei 200 gelegen und steige nun aufgrund des Einsatzes dieses Faktors auf 230.

 

In diesem Falle bestimmt sich der Wert des abgezogenen Faktors bei der Methode Böhm-Bawerk auf 230 -200 = 30, während er bei der Methode Mengers lediglich 100 - 80 = 20 betragen hätte.

 

Man kann nun beide Methoden miteinander verbinden, also hintereinander ablaufen lassen und den Wert des fraglichen Produktionsfaktors danach bestimmen, bei welcher Methode er den jeweils größeren Wert erzielt hatte. In unserem Beispiel käme also Böhm-Bawerk zum Zuge und der Wert des fraglichen Faktors würde 30 betragen.

 

Im Grunde sind beide Methoden der gleichen Kritik ausgesetzt, sodass es an dieser Stelle ausreicht, auf die gegenüber der Methode Mengers angeführte Kritik zu verweisen. Da nun die dritte darzustellende Methode zur Lösung des Zurechnungsproblems die Methode von Friedrich Wieser mit einer Kritik gegenüber den bereits besprochenen Methoden beginnt, können wir sofort mit der Darstellung der Lösung von Friedrich von Wieser unsere Analyse fortfahren.

 

Wenden wir uns also schließlich der dritten Variante des Zurechnungsproblems zu, welche von Friedrich von Wieser vorgeschlagen wurde. Er wendet sich gegen die Lösungsversuche von Karl Menger und Eugen von Böhm-Bawerk, da diese nur in der Lage wären, die jeweils zweitbeste Lösung festzustellen. Es interessierte jedoch die Bezahlung bei einer bestmöglichen Verwendung und diese bringe immer einen höheren Wert als bei der zweitbesten Alternative.

 

In Wirklichkeit könnten die echten Werte der einzelnen Produktionsfaktoren nur mit Hilfe eines simultanen Gleichungssystems bestimmt werden. Hier würde dieses Gleichungssystem die korrekten Werte aller Produktionsfaktoren in ihrer besten Verwendung erkennen lassen.

 

Wie haben wir uns dies vorzustellen? Wir wollen hierzu in einem Beispiel von einem denkmöglichen einfachsten Modell ausgehen. Wir betrachten zwei Güter 1 und 2, welche pro Gütereinheit einen Wert (einen Preis) W1 sowie W2 erzielen, weiterhin zwei Produktionsfaktoren A für Arbeitnehmer und K für Kapitaleinsatz, wobei WA1 angibt, welche Entlohnung der Arbeiter bei der Produktion des Gutes 1 erhält bzw. wobei WA2 angibt, welche Entlohnung der Arbeiter bei der Produktion des Gutes 2 erhält; schließlich würden WK1 bzw. WK2 die entsprechenden Zinssätze bei der Produktion des Gutes 1 bzw. des Gutes 2 zum Ausdruck bringen.

 

Wir haben also 6 Unbekannte (W1, W2, WA1, WA2, WK1, WK2) und benötigen also zur Bestimmung der zugerechneten Werte der einzelnen Produktionsfaktoren auch 6 voneinander unabhängige Gleichungen.

 

Als erstes verfügen wir über zwei Gleichungen, welche den Wert der Güter 1 und 2 bestimmen. Entsprechend des Ansatzes der Grenznutzentheorie lassen sich die Güterwerte von ihren Grenznutzen (GN1, GN2) ableiten, die jeweiligen Grenznutzen gelten hierbei als bekannt und vorgegeben:

 

                                                                   1) W1 = GN1

                                                                                                                2) W2 = GN2

 

Als nächstes verfügen wir über zwei Gleichungen, welche festlegen, dass der Wert der Güter vollständig auf die beiden Produktionsfaktoren aufgeteilt wird, dass also der Wert eines Gutes immer gleich der Summe der Entlohnungen der beiden Produktionsfaktoren ist:

 

                                                                   3) W1 = WA1 + WK1

                                                                   4) W2 = WA2 + WK2

 

Schließlich gilt das Gesetz der Preisunterschiedslosigkeit. Danach erhalten alle Arbeitnehmer mit einer gleichen Arbeitsqualität den gleichen Lohnsatz. In gleicher Weise entsprechen sich auch die Zinsen für gleiche Qualitäten des eingebrachten Kapitals (gleiches Risiko):

 

 

                                                                   5) WA1 = WA2

                                                                   6) WK1 = WK2

 

 

Damit verfügen wir über 6 voneinander unabhängige Gleichungen für 6 Unbekannte, sodass im Prinzip alle 6 Unbekannten und damit auch die Werte der Produktionsfaktoren eindeutig bestimmt werden können.

 

 

Meiner Ansicht nach sollte man allerdings die Kritik von Friedrich von Wieser an Karl Menger und an Eugen von Böhm-Bawerk auch nicht zu hoch bewerten. Natürlich ist es grundsätzlich richtig, dass der erstbeste Wert immer höher liegt als der zweitbeste. Die Grenznutzenschule bedient sich jedoch der Marginalanalyse, bei der eigentlich von unendlich kleinen Schritten ausgegangen wird. Werden jedoch immer kleinere Einsatzmengen verändert und gehen deshalb die jeweils veränderten Einsatzmengen gegen null, so gehen notwendigerweise auch die Unterschiede zwischen der erstbesten und der zweitbesten Verwendung gegen null. Der Unterschied zwischen beiden Werten kann dann vernachlässigt werden.

 

Wieweit die Kritik von Friedrich von Wieser überzeugend wirkt, hängt in erster Linie davon ab, was wir mit der Darstellung der Zurechnungsmethoden bezwecken. Wenn wir bestrebt wären, mit diesem Ansatz dem Chef einer staatlichen Planungsbehörde in einer staatlichen Planwirtschaft eine Formel zur Bestimmung der jeweiligen Entlohnungssätze an die Hand zu geben, dann wäre die Kritik von Wiesers durchaus berechtigt. In der rauen Realität haben wir immer mit endlichen Größen zu rechnen. An der Stelle von Differential­quotienten haben wir es hier immer mit Differenzenquotienten zu tun.

 

Wenn wir jedoch lediglich die Wirkungsweise einer funktionierenden Marktwirtschaft beschreiben wollen, dann reicht es aus, darzustellen, auf welchen Wert der Entlohnungssatz eines Produktionsfaktors zusteuert. Wir können ohnehin nicht damit rechnen, dass diese errechneten Gleichgewichtswerte jemals erreicht werden; weit vor der Zeit, in der dieser Gleichgewichtswert zum Zuge käme, haben sich die Daten und mit ihnen auch die Gleichgewichtswerte bereits verändert.

 

 

7. Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse

 

Das Gesetz von der Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse wurde von Eugen von Böhm-Bawerk im Rahmen seiner Kapital- bzw. Zinstheorie entwickelt. Hierbei stellte sich Böhm-Bawerk die Frage, worin denn die Ursachen dafür liegen, dass für Kredite ein Zins entrichtet wird und von welchen Determinanten die Höhe des Zinssatzes abhängt. Böhm-Bawerk vertrat die Auffassung, dass die Menschen ganz allgemein und systematisch die Zukunftsbedürfnisse unterschätzen würden.

 

Bei der Entwicklung dieser These der Mindereinschätzung von Zukunftsgütern geht es Böhm-Bawerk in erster Linie darum, die Determinanten der Zinsbildung zu eruieren. Es handelt sich hierbei um ein Sachproblem. Allerdings spielt bei diesen Überlegungen immer auch die Frage eine gewisse Rolle, inwieweit denn die Zahlung eines Zinssatzes moralisch gerechtfertigt werden kann. Bekanntlich galt im Mittelalter ein Zinsverbot, wonach für das Ausleihen von Geld kein Zins verlangt werden durfte. Zwei Überzeugungen spielten hierbei eine Rolle. Auf der einen Seite benötigte jemand einen Kredit vor allem dann, wenn er z. B. wegen Krankheit in Not geraten war und deshalb über keine normalen Erwerbseinkünfte verfügte. Hier sollte verhindert werden, dass die Not einzelner Menschen ausgenützt wird, um dessen Not noch zu vergrößern. Investitionskredite waren zu dieser Zeit eher die Ausnahme. Auf der anderen Seite sah man im Ausleihen von Geld keine eigentliche Leistung, welche genauso zu entlohnen sei wie die Arbeitskraft.

 

Zinsverbote gab es und gibt es auch in der modernen Zeit. Auf der einen Seite war es in den kommunistischen Staaten verboten, für Kredite Zinsen zu berechnen, man sah in der Zahlung von Zinsen ein Übrigbleibsel der verhassten kapitalistischen Gesellschaft, die man auszurotten suchte. Zinsverbote gibt es auf der anderen Seite auch in streng islamischen Staaten, in denen die Scharia angewandt wird.

 

Nach Auffassung der Wiener Schule wird der Wert eines Gutes durch den Nutzenzuwachs bestimmt, den ein Gut beim Konsum stiftet. Eine Wohlfahrtssteigerung im Sinne eines Nutzenzuwachses kann jedoch nicht nur durch den Einsatz von Arbeit erzielt werden. Jeder, der ein knappes Gut zur Verfügung stellt, trägt zur Wohlstandsmehrung bei.

 

In diesem Sinne stellt auch ein Kapitalangebot eine Leistung dar, welche entlohnt werden sollte. Im  Zusammenhang mit dem Angebot an Kapital ist hierbei auf zweierlei hinzuweisen. Kapital kann erstens dazu dienen, Einkommensteile von der Gegenwart in die Zukunft oder auch von der Zukunft in die Gegenwart zu transformieren. In dem Maße, in dem das Preisniveau Jahr für Jahr ansteigt, verschlechtert sich der reale Wert des Kapitals, der Zins dient in diesem Falle lediglich dazu, diesen Verlust auszugleichen. In der Tat entspricht der Zinssatz für festverzinsliche Wertpapiere und auch für Sparbücher langfristig in etwa der Inflationsrate.

 

Anderes gilt für den Fall, dass mit der Kreditvergabe ein Risiko verbunden ist. Hier steigt der Zins normaler Weise mit der Höhe des Risikos. Da die Übernahme von Risiken ein knappes Gut darstellt, ist es auch berechtigt, dass hierfür eine Entlohnung, ein Zinseinkommen gewährt wird. In einer funktionierenden Marktwirtschaft haftet jedoch derjenige, welcher ein Risiko eingeht, für den eingetretenen Schaden.

 

Fragen wir uns nun, wie realistisch denn die Annahme ist, dass zukünftige Bedürfnisse im Allgemeinen minder eingeschätzt werden. Wir beginnen diese Überlegungen damit, dass wir überprüfen, wieweit denn die Nachfrage nach Zukunftsgütern ausgeführt würde, wenn wir keinerlei Mindereinschätzung zukünftiger Bedürfnisse zu erwarten hätten.

 

Wir wollen hierzu in einem einfachen Modell lediglich von zwei Perioden ausgehen: Periode 1, die der Gegenwart entspricht und Periode 2, welche in der Zukunft liegt. Das Fehlen einer Mindereinschätzung zukünftiger Bedürfnisse kommt nun dadurch zum Tragen, dass die Grenznutzenkurve der Zukunft genauso verläuft wie die Grenznutzenkurve der Gegenwart. In einem Zwei-Quadranten-Modell sei also auf der Abszisse vom Koordinatenursprung ausgehend nach rechts das gegenwärtige Einkommen, nach links hingegen das zukünftige Einkommen abgetragen. Die Ordinate misst den Grenznutzen sowohl der Gegenwart wie auch der Zukunft.

 

 

 

  

 

 

Es ist klar, wenn wir den Nutzen beider Perioden maximieren wollen, können wir dies nur dadurch erreichen, dass wir dafür Sorge tragen, dass das Einkommen der zukünftigen Periode dem Einkommen der gegenwärtigen Periode entspricht. Erwarten wir also, dass das zukünftige Einkommen höher ausfällt als das gegenwärtige (gehen wir also von einem wirtschaftlichen Wachstum aus), so können wir den Gesamtnutzen beider Perioden dadurch vergrößern, dass wir heute einen Kredit nehmen und dadurch unsere heutigen Einkünfte vergrößern und dass wir diesen Kredit in der zukünftigen Periode zurückzahlen.

 

Da das Einkommen in der zukünftigen Periode annahmegemäß größer ist als das der Gegenwart, ist der Nutzenentgang in der zukünftigen Periode geringer als der Nutzenzuwachs in der heutigen Periode. Per Saldo steigt also der Gesamtnutzen beider Perioden und dies gilt solange, als das zukünftige Einkommen größer ausfällt als das heutige. Das Nutzenmaximum ist also erreicht, sobald die verfügbaren Einkünfte in beiden Perioden gleich hoch ausfallen.

 

Selbstverständlich gelten die gleichen Überlegungen mutatis mutandis für den Fall, dass wir für die zukünftige Periode ein geringeres Einkommen als heute erwarten. Ohne Minderschätzung der zukünftigen Bedürfnisse tendiert ein Haushalt im eigenen Interesse dazu, für alle Perioden ein gleichhohes Einkommen zu erzielen, also in diesem Falle zu sparen.

 

Nun haben wir bei unseren bisherigen Überlegungen stillschweigend unterstellt, dass wir eindeutig darüber unterrichtet sind, wie sich das Einkommen in Zukunft entwickeln wird. Genau diese Annahme entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Es besteht eine große Unsicherheit darüber, wie sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Allgemeinen, aber auch für unsere eigene Situation entwickeln werden. Wir mögen zwar hoffen und erwarten, dass sich unsere Einkommenssituation Jahr für Jahr verbessert, je weiter wir jedoch in die Zukunft schauen, um so unsicherer sind wir, wie sich unsere Verhältnisse tatsächlich entwickeln werden.

 

Wenn es keine einigermaßen sicheren Prognosen darüber gibt, wie sich unser Einkommen weiterentwickeln wird, wäre es rational, wenn wir von einer Konstanz des Einkommens ausgehen. Beide Zustände, ein Anwachsen wie ein Schrumpfen des Einkommens sind hier gleich wahrscheinlich.

 

Trotzdem dürfte es als erwünscht angesehen werden, dass man bei Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung gewisse Rücklagen bildet, also Teile des heutigen Einkommens spart, damit man dann, wenn in Zukunft größere Einkommensausfälle auftreten, auf diese Reserven zurückgreifen und den bisher erreichten Wohlstand einigermaßen erhalten kann.

 

Es gibt aber auch Ausnahmesituationen, in denen keine Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse vorliegt, obwohl alle heutigen Anstrengungen dazu dienen, die heutige Wohlfahrt zu fördern. Wenn der bisher erreichte Wohlstand kaum ausreicht, um für die heutige Periode ein Existenzminimum zu erreichen, ist es nicht irrational, keine Vorsorge für das Morgen zu betreiben, da es ein Morgen gar nicht geben würde, wenn man nicht alles daran setzen würde, wenigstens in der jetzigen Periode zu überleben. Sparen und Vorsorge betreiben setzt einen Mindeststandard an Wohlstand voraus, wer heute noch nicht einmal das physische Existenzminimum erreicht, ist nicht in der Lage, Teile des Einkommens zu sparen, auch dann nicht, wenn sich  der Wohlstand in der zukünftigen Periode gegenüber heute sogar verschlechtern würde.

 

Bei unseren bisherigen Überlegungen gingen wir stillschweigend davon aus, dass die Bedarfsstruktur keinem Wandel unterliegt und dass deshalb die Grenznutzenkurven der heutigen und der morgigen Periode – ohne Minderschätzung – identisch verlaufen. In Wirklichkeit haben wir jedoch damit zu rechnen, dass im Zuge der Entwicklung der einzelnen Individuen auch der Bedarf einem Wandel ausgesetzt ist. Die Bedürfnisse verändern sich im Alter. So wäre es durchaus denkbar, dass im Alter eine gewisse Verschiebung in der Bedürfnisstruktur stattfindet und dass aufgrund dieser Verschiebung die Bedürfnisse in den Vordergrund rücken, die einen geringeren Einsatz materieller Güter benötigen. Wenn aufgrund dieser Verschiebung auch weniger Vorsorge für das Alter betrieben wird als dann, wenn die Bedarfsstruktur konstant bliebe, kann man trotzdem nicht davon sprechen, dass sich dieses Verhalten aufgrund einer Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse ergibt. Minderschätzung setzt immer voraus, dass der tatsächliche Bedarf in Zukunft höher ausfällt als angenommen wird.

 

Nachdem wir geklärt haben, welches Verhalten ein Haushalt aufweisen würde, der keinerlei Minder­schätzung zukünftiger Bedürfnisse kennt, soll die Frage erörtert werden, wie sich denn nun eine Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse äußert und auf welche Umstände ein solches Verhalten zurückzuführen ist. Immer dann, wenn der Nutzen des Konsums in der Zukunft einfach deshalb geringer eingeschätzt wird, weil dieser Konsum erst in zukünftigen Perioden stattfindet, wollen wir von einer Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse sprechen. Wir gehen hier davon aus, dass die betreffende Person heute den Nutzen eines Konsums in einer zukünftigen Periode geringer einstuft als dann, wenn sie dieses Gut bereits heute konsumiert hätte, dass aber dann, wenn die zukünftige Periode erreicht ist, also zur Gegenwart geworden ist, der Nutzen dieses Konsums genauso hoch eingeschätzt wird wie in der heutigen Periode.

 

Bezogen auf unser 2-Quadranten-Diagramm ließe sich die Minderschätzung als Verschiebung der Kurve des zukünftigen Grenznutzens nach unten verstehen:

 

 

 

 

Eine Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse kann sich auf zweierlei Weise äußern. Entweder ist der zeitliche Horizont, der die Planungen eines Haushaltes bestimmt, begrenzt, es werden hier gar nicht Perioden der weiteren Zukunft in den Haushaltsplänen berücksichtigt. Oder aber bei den Planungen werden zwar im Prinzip alle zukünftigen Perioden in Rechnung gestellt, nur dass eben die Gewichtung des Bedarfs umso geringer ausfällt, je weiter die Periode in der Zukunft liegt.

 

Man wird davon ausgehen können, dass der Umfang einer Minderschätzung selbst wiederum von dem bisher erreichten Wohlstand abhängt, je reicher jemand wird, umso eher ist er in der Lage, auch den Bedarf zukünftiger Perioden bei der Planung zu berücksichtigen. Allerdings hängt die Frage nach der Mindereinschätzung zukünftiger Bedürfnisse nicht nur vom bisher erreichten Wohlstand ab. Die einzelnen Menschen unterscheiden sich ganz allgemein darin, inwieweit sie Risiken scheuen oder sogar suchen.

 

Auch dann, wenn sich der einzelne darum bemüht, sich so weit wie immer möglich rational zu verhalten, er kann trotzdem zukünftige Bedürfnisse minder einschätzen. Von rationalem Verhalten sprechen wir immer dann, wenn sich der einzelne vor einer Aktion darüber bewusst wird, welche Ziele er verfolgt, welche Möglichkeiten ihm offen stehen, diese Ziele zu realisieren und schließlich mit welchen Kosten bestimmte Alternativen verbunden sind. Er verhält sich rational in dem Maße, in dem er sich für die Alternative entscheidet, welche mit dem höchsten Nutzen bzw. mit den geringsten Kosten verbunden ist. Hierbei können nicht nur die Kosten erfasst werden, welche sich in Geldgrößen messen lassen, sondern auch solche Kosten, die dadurch anfallen, dass auf den Nutzen verzichtet wird, welcher bei der zweitbesten Alternative hätte erreicht werden können.

 

Ein Verhalten ist in diesem Sinne immer noch als rational einzustufen, bei dem sich der Handelnde vor seiner Entscheidung der Ziele und möglichen Alternativen bewusst wird, aber berücksichtigt, dass der Nutzen zukünftiger Perioden abzudiskontieren ist, je mehr die Periode, in dem dieser Nutzen anfällt in der Zukunft liegt.

 

Wenn wir den oben geschilderten Fall nehmen, dass mit zunehmendem Alter der Grenznutzen derjenigen Bedürfnisse zurückgeht, welche einen intensiven Einsatz materieller Güter voraussetzen, lässt sich auch diese Variante in unserem 2-Quadranten-Diagramm dadurch veranschaulichen, dass wir die Kurve des zukünftigen Grenznutzen nach unten verschieben.

 

Wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen ganz allgemein ihre zukünftigen Bedürfnisse zu gering einschätzen, entsteht die Frage, ob man diese Menschen nicht zu bestimmten Entscheidungen zwingen sollte, dass also der Staat meritorisch, das heißt in gutwilliger Absicht tätig werden sollte. Wenn man nämlich die Menschen zwingt, Vorsorge für die zukünftigen Perioden zu betreiben, wenn also die Menschen zu einem Verhalten gezwungen werden, das sie bei normaler Einschätzung der zukünftigen Bedürfnisse von selbst ergriffen hätten, kann auf diese Weise der Nutzen dieser Bürger gesteigert werden.

 

Allerdings sehen wir bei einer solchen Beurteilung bewusst davon ab, dass der Umstand, dass sich ein Bürger selbst frei entscheiden kann, selbst wiederum als nutzenstiftend angesehen werden kann. Man geht bei dieser Betrachtung davon aus, dass Menschen von ihrem Wesen her über ihre Geschicke selbst bestimmen sollten und dass in dieser Selbstbestimmung ein so hoher Wert gesehen wird, dass die Selbstbestimmung auch dann noch einem fremdbestimmten Handeln vorzuziehen ist, wenn die Menschen in Einzelfällen fehlerhaft entscheiden.

 

Weiterhin unterstellen wir bei Bejahung meritorischer Absichten des Staates, dass dieser über besseres Wissen verfügt als die betroffenen Bürger selbst. Warum sollten aber Beamte des Staates über besseres Wissen verfügen, was für die Menschen im Einzelnen gut ist und was nicht. Wenn nämlich ein solches Wissen gegeben ist, warum kann es nicht einfach den betroffenen Bürgern kostenlos zur Verfügung gestellt werden?

 

Aber auch dann, wenn der Staat über dieses bessere Wissen verfügen würde, wer garantiert denn, dass der Staat dieses Wissen immer zugunsten der betroffenen Bürger einsetzen wird? Wir haben damit zu rechnen, dass Politiker immer auch ein Eigeninteresse verfolgen, also nicht ausschließlich altruistisch tätig sind und wir haben weiterhin davon auszugehen, dass die Eigeninteressen der Politiker mit den Interessen der Bürger oftmals in Konflikt zueinander stehen. Hier muss befürchtet werden, dass die Politiker nur vorgeben, die Interessen  der Bürger wahrzunehmen, während sie in Wirklichkeit nur ihre eigenen Interessen vertreten.

 

Hierbei ist es nicht von entscheidender Bedeutung, dass Politiker in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgen. Der Liberalismus hat gezeigt, dass Führungskräfte ganz allgemein in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgen, die Unternehmer versuchen ihren Gewinn zu maximieren und die Politiker in einer repräsentativen Demokratie versuchen Wählerstimmen zu maximieren, um bei den Wahlen als Sieger hervorzugehen.

 

Dieser Tatbestand allein sagt noch nichts darüber aus, inwieweit die Gemeininteressen zum Zuge kommen. Es gibt auf der einen Seite Ordnungen, welche die Interessen so koordinieren, dass die Politiker gerade dann bei den Wahlen als Sieger hervorgehen, wenn sie ihre eigenen Interessen verfolgen. Ein Politiker wird in einer funktionierenden Demokratie genau dann die Mehrheit der Stimmen erhalten, wenn er den Wünschen der Wähler entgegenkommt.

 

Umgekehrt kann nicht davon ausgegangen werden, dass Politiker gerade dann, wenn von ihnen erwartet wird, dass sie bei ihren politischen Entscheidungen permanent und ausschließlich das Gemeinwohl im Auge haben, auch tatsächlich jeweils die Entscheidungen treffen, welche dem Gemeinwohl am besten entsprechen. Es besteht immer die Gefahr, dass die Politiker auch in solchen Systemen in Wirklichkeit ihrem Eigeninteresse entsprechen und nur vortäuschen, dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein. Vor allem besteht hier die Gefahr, dass gerade deshalb, weil nicht die politisch fähigsten Personen ausgewählt wurden, sondern nur nach ihrer moralischen Integrität gefragt wurden, in Wirklichkeit Lösungen begünstigt werden, welche dem Gemeinwohl letztendlich abträglich sind. ***

 

 

8. Die Agio-Theorie des Zinses

 

Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, hat Böhm-Bawerk das Gesetz von der Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse im Rahmen seiner Kapital- bzw. Zinstheorie entwickelt. Hierbei stellte sich Böhm-Bawerk die Frage, worin die Ursachen dafür liegen, dass für Kredite ein Zins entrichtet wird und von welchen Determinanten die Höhe des Zinssatzes abhängt.

 

Für Böhm-Bawerk sind drei Faktoren dafür verantwortlich, dass für Kredite ein Preis, der Zins zu entrichten ist. Erstens weichen im Allgemeinen Bedarf und Deckung in Gegenwart und Zukunft voneinander ab, sodass es eines Agio bedarf, um diese Differenz zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbedürfnisse im Bedarf und in der Deckung auszugleichen.

 

Zweitens vertritt Böhm-Bawerk die Auffassung, dass die Menschen ganz allgemein und systematisch die Zukunftsbedürfnisse unterschätzen würden. Diese Hypothese ging dann als Gesetz von der Minder­schätzung zukünftiger Bedürfnisse in die wirtschaftswissenschaftliche Literatur ein und wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt diskutiert.

 

Drittens seien die Gegenwartsgüter besser in der Lage, die heutigen Bedürfnisse zu befriedigen, während die Zukunftsgüter erst mit der Zeit heranreifen müssen, um dann genauso wie die heutigen Gegenwartsgüter die Bedürfnisse in zukünftigen Perioden befriedigen zu können.

 

Im Mittelpunkt dieses dritten Argumentes steht die These, dass die Produktivität und Effizienz der Produktion entscheidend dadurch gesteigert werden konnte, dass die Menschen Produktionsumwege beschritten, also einen Teil der heutigen wirtschaftlichen Aktivität nicht der unmittelbaren Produktion der heute konsumierbaren Güter widmeten, sondern der Erstellung von Produktionsmittel, welche selbst wiederum die wirtschaftenden Personen in die Lage versetzen, aus den gegebenen Ressourcen insgesamt mehr Güter zu produzieren.

 

Diese These von den Produktionsumwegen wird üblicherweise anhand des Fischfangs erläutert. Auf einer sehr frühen und primitiven historischen Stufe fingen die Fischer die Fische, welche zu ihrer Ernährung benötigt wurden, mit bloßen Händen. Eines Tages kam dann ein Fischer auf die Idee, zunächst Netze zu flechten, mit deren Hilfe dann in zukünftigen Perioden der Fischfang gesteigert werden konnte. Hier wurde also ein Produktionsumweg eingeschlagen. Solange ein Teil der Arbeitskraft dafür verwandt wurde, Netze herzustellen, ging der Umfang der gefangenen Fische zurück. Sobald aber die Netze fertig waren, also ausgereift und im Fischfang eingesetzt wurden, stieg der Umfang der eingebrachten Fische stark an. 

 

Die produktive Tätigkeit lässt sich auf diese Weise in mehrere Ordnungsstufen einteilen. An letzter Stelle steht die Stufe der Produktion von Konsumgütern, welche als solche unmittelbar konsumiert werden können. An nächster Stelle stehen dann die Produktionsmittel (z. B. Anlagen, Netze im Fischerbeispiel), welche zur Produktion der Konsumgüter benötigt werden. An dritter Stelle stehen dann die Produktionsmittel, welche zur Produktion dieser Anlagen etc. benötigt werden. Die letzte Ordnungsstufe bezieht sich dann auf die Förderung der Rohstoffe, die zur Produktion benötigt werden sowie Einrichtungen und Maßnahmen zur Förderung und Erhaltung der Arbeitskraft.

 

Die Arbeitnehmer fragen nun die Konsumgüter (Gegenwartsgüter) nach und bieten dafür ihre Arbeitskraft als Zukunftsgut an, die auf der letzten Ordnungsstufe steht. Der Zinssatz stellt sich hierbei so ein, dass bei bestehendem Lohn der Bestand an Gegenwartsgüter ausreicht, um alle Arbeitnehmer zu bezahlen. Dieser Bestand ist umso geringer, je mehr Produktionsumwege beschritten werden.

 

Der Zinssatz ergibt sich hierbei aus dem Tausch von Gegenwarts- und Zukunftsgüter, er ist ein Teil des Preises, der für die Gegenwartsgüter gezahlt werden muss.

 

 

 

9. Macht oder ökonomisches Gesetz?

 

Eugen von Böhm-Bawerk wandte sich im Jahre 1914 in seinem berühmten Aufsatz ‚Macht oder ökonomisches Gesetz’ gegen die vor allem von Mikhail I. Tugan-Baranovsky und anderen vertretenen These, dass die Lohnbildung nicht vom Verhältnis von Angebot und Nachfrage, sondern allein von Machtfaktoren bestimmt werde.

 

Schon vor Tugan-Baranovsky war diese These vom Einfluss der Macht auf die Lohnbildung wiederholt formuliert worden. Einer der ersten Vertreter lohnbezogener Machttheorien war J. Sismonde de Simondi. Werde der Arbeitsmarkt sich selbst überlassen, so werde stets ein politischer Druck auf die Löhne ausgeübt. Der Arbeitnehmer bringe nämlich nicht die gleichen Startbedingungen wie die Unternehmer mit sich. Ähnliche Überlegungen finden sich aber auch bei Johann K. Rodbertus, Ludwig Joseph Brentano, Wilhelm Lexis, Adolf Wagner, Karl Diehl und Sidney James und Beatrice Webb.

 

Die wohl radikalste Variante dieser Vorstellungen wurde jedoch von Mikhail I. Tugan-Baranovsky vorgetragen. Er lehnte es strikt ab, den Lohn als Wertphänomen zu verstehen. Für ihn ist der Lohn keine wirtschaftliche, sondern eine soziale und politische Kategorie. Die Lohnhöhe hänge nämlich nicht von dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab, sondern werde durch die jeweiligen sozialen Machtverhältnisse bestimmt.

 

Tugan-Baranovsky räumte allerdings ein, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse insoweit einen Einfluss ausüben könnten, als einerseits in der Produktivität der Arbeit eine obere Grenze für die Lohnhöhe liege und als der Lohnsatz nicht unter das Existenzminimum der Arbeitnehmer sinken könne.

 

Gegen diese Auffassungen formulierte Böhm-Bawerk die These, dass sich langfristig auch dort, wo äußerlich Machteinflüsse sichtbar würden, das ökonomische Gesetz durchsetze. Er begründete diese These wie folgt. Wenn es den Gewerkschaften kurzfristig gelungen sei, durch Androhung oder Durchführung von Streiks einen Lohnsatz zu erzwingen, der über dem Niveau liege, das der Markt erlaube – d. h. über der Grenzproduktivität der Arbeit – so würden die Unternehmer auf lange Sicht Arbeit durch Kapital substituieren und das Kapital aus den betreffenden Wirtschaftszweigen abziehen, um es in anderen – von dieser Lohnerhöhung nicht betroffenen – Branchen zu investieren.

 

Die Nachfrage nach Arbeit sinke im Zuge dieser Strukturverschiebungen und die Arbeitnehmer würden sich nun gezwungen sehen, ihre Arbeitskraft wiederum zu einem niedrigeren Lohn anzubieten. Der Lohnsatz würde sich so langfristig auf das Niveau einstellen, das der Markt – die wirtschaftlichen Verhältnisse – bestimmen würden.

 

Böhm-Bawerk machte allerdings in zweierlei Hinsicht gewisse Zugeständnisse an die Machttheorie des Lohnes. Er räumte ein, dass es den Gewerkschaften gelingen könne, durch Streikandrohungen kurzfristig den Lohnsatz über das Niveau eines Gleichgewichtslohnes anzuheben. Langfristig würde jedoch diese Lohnerhöhung – wie gezeigt – wiederum zurückgenommen. Damit war anerkannt, dass sich die Gewerkschaften einen – wenn auch nur einmaligen und nicht anhaltenden – Lohnvorsprung erkämpfen könnten.

 

Ein zweites Zugeständnis von Böhm-Bawerk an die Machttheorie des Lohnes bestand darin: Er räumte ein, dass Machtfaktoren dann durchaus auch einen langfristigen und endgültigen Einfluss auf die Lohnhöhe gewinnen könnten, sofern sich diese Machtverhältnisse auf die wirtschaftlichen Faktoren selbst auswirken würden. Auf diese Weise gingen diese Faktoren in die Bestimmungsgründe von Angebot und Nachfrage ein.

 

Durch diese Zugeständnisse wurde jedoch die Position von Böhm-Bawerk stark aufgeweicht. Im Streit zwischen Böhm-Bawerk und Tugan-Baranovsky sind zwei Fragen zu unterscheiden: Was sind die unmittelbaren Bestimmungsgründe des Lohnes und was bestimmt letzten Endes die Lohnhöhe. Die erste Frage bezieht sich auf den Modus procedendi der Lohnbildung, also auf das jeweils angewandte Kalkül, die zweite Frage auf das Problem, welche Faktoren letzten Endes die Lohnhöhe beeinflussen.

 

Böhm-Bawerks Hauptaugenmerk war auf die erste Frage, also auf den Modus procedendi gerichtet. Er versuchte aufzuzeigen, dass der Lohnsatz vom Verlauf der Angebots- und Nachfragekurve des Arbeitsmarktes abhänge und dass nur solche Faktoren die Lohnhöhe bestimmten, welche auf die Lage dieser beiden Kurven Einfluss nehmen.

 

Tugan-Baranovsky hingegen war an der zweiten Frage interessiert, ihm ging es darum, nachzuweisen, dass die sozialen und politischen Machtverhältnisse die letztlichen Faktoren seien, welche die Lohnhöhe bestimmen.

 

Dem äußeren Anschein nach ging Böhm-Bawerk als Sieger aus dieser Debatte heraus. Er konnte aufzeigen, dass auch durch Machteinsatz erzwungene Lohnsteigerungen langfristig wiederum zurückgenommen werden müssen, da sich auf lange Sicht die Marktposition der Arbeitnehmer im Zuge der Mechanisierung der Produktion verschlechtert. In Hinsicht auf die letztlichen Bestimmungsgründe der Lohnbildung entsprach die These Böhm-Bawerks eher der Realität als die Thesen von Tugan-Baranovsky. 

 

Diese Feststellung gilt jedoch nicht unbedingt im Hinblick auf die Frage nach dem Modus procedendi der Lohnbildung. Löhne werden nun einmal in unserer Gesellschaft vorwiegend in Tarifverhandlungen festgelegt. Die Tarifpartner folgen jedoch eher einem politischen als einem wirtschaftlichen Kalkül. Das Kalkül der Tarifpartner – vor allem der Gewerkschaften – wird nicht  nur an wirtschaftlichen, sondern auch an politischen Größen ausgerichtet. Wir müssen deshalb die These Böhm-Bawerks sozusagen auf den Kopf stellen: Die wirtschaftlichen Größen können sich innerhalb der Lohnbildung nur soweit auswirken, als sie in das politisch ausgerichtete Kalkül der Tarifpartner eingehen.

 

Wären die wirtschaftlichen Größen die alleinigen endgültigen Bestimmungsgründe der Lohnhöhe, so wäre die Frage, ob die Löhne in einem mehr wirtschaftlichen oder politischen Kalkül festgelegt werden, rein akademischer Natur. Wir müssten zu dem gleichen Ergebnis kommen, unabhängig davon, ob wir eine Tarifverhandlung im Rahmen eines wirtschaftlichen oder eines politischen Modells nachzubilden versuchten.

 

Wir haben indessen davon auszugehen, dass die Lohnhöhe letztlich auch von anderen Faktoren bestimmt wird als den wirtschaftlichen Faktoren. In diesem Falle wird jedoch der Modus procedendi der Lohnbildung zu einem Problem. Es kommt nun in der Tat darauf an, wie die einzelnen letztlichen Bestimmungsfaktoren kanalisiert werden – innerhalb eines mehr wirtschaftlichen oder mehr politischen Kalkül –, welches Gewicht also den wirtschaftlichen Faktoren bei der Lohnbildung zukommt.