Startseite
Die
Gleichnisse der Bibel
Gliederung:
Teil I
Problemeinführung
Teil II
Gleichnisse im Alten Testament
Teil III . Die Gleichnisse Jesu
1. Gottes- und Nächstenliebe
2. Weitere Verhaltensanweisungen
3. Frage nach dem Lohn
4. Die Rolle des Menschensohns
5. Die Bedeutung des Bittens
6. Von der Verbreitung des Glaubens
Kapitel 3. Gottes- und Nächstenliebe
Gliederung:
1. Problemeinführung
2. Die Lehre von der allein selig machenden Gnade
3. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
4. Auf welchen Begriff der Liebe bezieht sich dieses Gebot?
5. Handelt es sich um ein neues Gebot?
6. Wer gilt als Nächster?
7. Liebe den Nächsten wie dich selbst.
8. Liebe den Nächsten, denn er ist wie du.
9. Hilfe für den in Not geratenen
10. Füge dem Mitmenschen
keinen Schaden zu.
11. Behandle deinen
Mitmenschen als freien Mitbürger.
12. Das Gebot der Feindesliebe
13. Halte auch die andere
Wange hin
14. Liebe versus ‚Do ut Des-Prinzip‘
1. Problemeinführung
Wir wollen uns in
diesem dritten Teil dieser Vorlesung mit den Gleichnissen Jesu aus dem Neuen Testament
befassen. In den beiden ersten Kapitel dieses dritten Teils wenden wir uns an
jene Gleichnisse, die von dem Verhalten handeln, welches Gott von den Menschen
erwartet.
Als erstes müssen wir
uns allerdings darüber klar werden, ob es überhaupt menschlicher Anstrengungen
bedarf, ob nicht – wie eine Äußerung Martin Luthers nahezulegen scheint – die Gnade Gottes allein
selig machend sei. Im Mittelpunkt der Analyse dieser Gleichnisse steht das
Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Dieses Gleichnis umreißt gewissermaßen
die Handlungen, welche Gott von uns erwartet.
2. Die Lehre von der allein selig machenden Gnade
Beginnen wir also
mit der Frage, ob es überhaupt menschlicher Anstrengungen bedarf, damit die Menschen
vor Gott gerechtfertigt werden. Scheinbar steht der Vorstellung, dass es von
unserem eigenen Verhalten abhängt, ob uns Gott annimmt, das von Martin Luther
entwickelte Prinzip von der Gerechtigkeit Gottes entgegen. Danach ist Gottes
ewige Gerechtigkeit ein reines Geschenk der göttlichen Gnade, welches der
einzelne Mensch allein dadurch erhält, dass er an Jesus Christus als Erlöser
der Menschen glaubt. Keinerlei eigenes Dazutun könne die göttliche Gnade
herbeiführen. Selbst der Glaube könne ohne diese Gnade Gottes nicht
herbeigeführt werden.
‚Denn darin wird
offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche aus dem Glauben kommt
und zum Glauben führt; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus dem Glauben
leben.“ (Hab 2,4 LUT)
Diese Einschätzung
steht jedoch offensichtlich in Widerspruch zu zahlreichen Stellen sowohl im
Alten wie auch im Neuen Testament. Moses hatte auf zwei steinernen Tafeln die
zehn Gebote Gottes an die Menschen vom Berg Sinai gebracht, eine Art Magna
Charta für das geforderte Verhalten der Menschen und Jesus hatte auf die Frage
nach dem wichtigsten Gebot die Gottesliebe und die Nächstenliebe benannt und
darauf verwiesen, dass in diesen beiden Geboten Moses samt Propheten enthalten
seien.
Weiterhin zählt zu
den zentralen Themen des Alten und Neuen Testamentes die Aufforderung zur Reue
und Umkehr und damit ist nicht nur das Zugeständnis gemeint, dass man in der
Vergangenheit gesündigt hatte, sondern dass man in Zukunft alles daran setzen
will, den täglichen Versuchungen zum Bösen zu widerstehen und dies setzt in der
Tat aktives Handeln voraus.
Bei Lukas Kapitel
3,10-14 lesen wir:
10 ‚Da fragten ihn
die Leute: Was sollen wir also tun?
11 Er antwortete
ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer
zu essen hat, der handle ebenso.
12 Es kamen auch
Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir
tun?
13 Er sagte zu
ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist.
14 Auch Soldaten
fragten ihn: Was sollen denn wir tun? Und er sagte zu ihnen: Misshandelt
niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold!‚
Und bei Matthäus
Kapitel 3,7-10 erfahren wir:
7 ‚Als Johannes
sah, dass viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr
Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht
entrinnen könnt?
8 Bringt Frucht
hervor, die eure Umkehr zeigt,
9 und meint nicht,
ihr könntet sagen: Wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott
kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen.
10 Schon ist die
Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht
hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.‘
Wenn das friedliche
Zusammenleben zweier Menschen dadurch gestört wurde, dass der eine dem andern
großen Schaden zugefügt hat, kann dieser Unfriede nur dadurch wieder geheilt
werden, dass beide an einer Versöhnung arbeiten. Derjenige, welcher am andern
gesündigt hat, muss seine Tat bereuen und zeigen, dass er willens ist, in
Zukunft die Regeln des Zusammenlebens zu achten und derjenige, dem Böses getan
wurde, muss seinerseits bereit sein, dem andern zu vergeben und mit ihm
friedlich zusammenzuleben.
Ähnliches gilt für
das Verhältnis Gottes zu den Menschen. Wenn die Menschen gesündigt haben,
bedarf es zur Versöhnung mit Gott das Mitwirken beider. Der Mensch, der
gesündigt hat, muss bereuen und zur Umkehr bereit sein und Gott ist willens,
unsere Reue anzunehmen. Beide Akte: die Gnade Gottes wie die Reue und Umkehr
der sündigen Menschen sind für eine Aussöhnung der Menschen mit Gott
unerlässlich, damit die Menschen schließlich das ewige Leben erlangen können.
In diesem Sinne ist
es in der Tat richtig, festzustellen, dass ohne die Gnade Gottes keine
Versöhnung erreicht werden kann, mag sich der Mensch noch so sehr anstrengen,
um seine bisherigen Sünden zu bereuen und in Zukunft nicht mehr den
Versuchungen zum Bösen zu erliegen. Die Gnade Gottes kann nicht durch
menschliches Handeln ersetzt werden, sie stellt eine notwendige Bedingung für
eine Versöhnung dar.
In gleicher Weise
muss aber auch festgestellt werden, dass die Gnade Gottes noch so groß sein
kann, auch der Mensch muss seinen Beitrag zur Versöhnung mit Gott leisten, Reue
und tatkräftige Umkehr sind genauso unerlässlich, auch sie stellen eine
notwendige Voraussetzung zur Versöhnung dar. Insofern muss man also auch
feststellen, dass beide Voraussetzungen allein nicht ausreichen. So lesen wir
bei bei Jakobus, Kapitel 2,14-24:
14 ‚Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt,
er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten?
15 Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne
Kleidung ist und ohne das tägliche Brot
16 und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in
Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben
brauchen – was nützt das?
17 So ist auch der Glaube für sich allein tot,
wenn er nicht Werke vorzuweisen hat……
20 Willst du also einsehen, du unvernünftiger
Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist?
21 Wurde unser Vater Abraham nicht aufgrund
seiner Werke als gerecht anerkannt?...
22 Du siehst, dass bei ihm der Glaube und die
Werke zusammenwirkten und dass erst durch die Werke der Glaube vollendet
wurde…..
24 Ihr seht, dass der Mensch aufgrund seiner
Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein.
3. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
Befassen wir uns
nun etwas ausführlicher mit der Antwort Jesu, was er als wichtigstes Gebot
erachtete. Bei Matthäus Kapitel 22,35-40 lesen wir:
35 ‚Einer von
ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn:
36 Meister, welches Gebot im Gesetz ist das
wichtigste?
37 Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn,
deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen
Gedanken.
38 Das ist das wichtigste und erste Gebot.
39 Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst
deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
40 An diesen beiden Geboten hängt das ganze
Gesetz samt den Propheten.‘
Bei Markus Kapitel
12,28–34 heißt es ähnlich:
28 ‚Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit
zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er
zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?
29 Jesus antwortete: Das erste ist: Höre,
Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.
30 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott,
lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all
deiner Kraft.
31 Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese
beiden.
32 Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr
gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt
keinen anderen außer ihm,
33 und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand
und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit
mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.
34 Jesus sah, dass er mit Verständnis
geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und
keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.‘
Bei Lukas in
Kapitel 10, 25-37 fordert Jesus diesen Schriftgelehrten auf, selbst zu sagen,
was nach dem Gesetz als wichtigstes Gebot zu gelten hat:
25 ‚Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um
Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um
das ewige Leben zu gewinnen?
26 Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was
liest du dort?
27 Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen
Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all
deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.
28 Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig
geantwortet. Handle danach und du wirst leben.‘
29 ‚Der
Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist
mein Nächster?
30 Darauf
antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde
von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann
gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.
31 Zufällig kam ein
Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.
32 Auch ein Levit
kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.
33 Dann kam ein
Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid,
34 ging zu ihm hin,
goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein
Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.
35 Am andern Morgen
holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und
wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Was meinst du:
Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern
überfallen wurde?
37 Der
Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte
Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!‚
4. Auf welchen Begriff der Liebe bezieht sich dieses Gebot?
Fragen wir uns als
erstes, auf welchen Begriff der Liebe sich dieses Gebot bezieht, welche Art von
Liebe denn mit diesem Gebot der Nächstenliebe angesprochen ist? Im
Alltagsgebrauch verwenden wir ja den Begriff der Liebe mit sehr
unterschiedlichen Bedeutungen.
Gemeinsam ist fast
allen Begriffen der Liebe, dass sie als eine Form der emotionalen Zuwendung
erlebt wird, die in unterschiedlichen Epochen und Kulturen recht verschieden
verstanden wurde.
Unter Liebe wird
zunächst ein körperlich-sinnliches, von sexueller Anziehung ausgehendes
Begehren verstanden, das eine sinnlich-erotische Beziehung zu dem gewählten
Liebespartner anstrebt. Im Vordergrund steht hier die leidenschaftliche, auf
sexueller Lust beruhende Bindung. Die griechische Philosophie spricht seit
Aristoteles in diesem Zusammenhang von Eros.
Hierzu im Gegensatz
steht eine Liebesäußerung, welche bei der Zuneigung zum geliebten Menschen auf
die Sorge für einen anderen Menschen abhebt. Sie umfasst sowohl den sorgenden
Umgang, den die Eltern mit ihren Kindern pflegen – also die zärtliche,
Geborgenheit gewährende Bindung zwischen Eltern und Kind – ebenso wie die
vielfältigen Formen der Freundschaft und der Sympathie bis hin zur Verantwortung
für den Nächsten, für die eigene und auch für andere Gruppen.
Die griechische
Philosophie spricht in diesem Zusammenhang von Agape, wobei sich das Wort
‚Agape‘ ursprünglich auf das Abendmahl bezieht, das vor allem die Frühchristen
im Gedenken an das letzte Abendmahl abhielten, das Jesus vor Beginn seiner
Passion mit seinen Jüngern abgehalten hatte.
Hiervon abgehoben
findet sich in der religiös fundierten Literatur die Orientierung des
Liebesbegriffs an Gott, der den Menschen liebt und die Forderung erhebt, dass
die Menschen nicht nur Gott lieben, sondern sich auch gegenseitig lieben,
genauso wie Gott die Menschen liebt.
Es ist klar, dass
sich das Gebot der Nächstenliebe nicht auf die Liebe in Form des Eros bezieht,
sondern dass stets mit der Forderung nach Nächstenliebe eine Liebe im Sinn der
Agape angesprochen ist und dass die geforderte Nächstenliebe letztlich ihren
Grund in der Liebe Gottes zu den Menschen hat.
Nun hatten wir
unter den Begriff der Agape auch Sympathiebekundungen subsumiert. Das Gebot der
Nächstenliebe verlangt jedoch sicherlich nicht, dass wir uns darum bemühen, für
alle Mitmenschen, denen wir begegnen und von denen wir erfahren, Sympathie zu
entwickeln.
Sympathie – und ihr
Gegenstück Antipathie – entsteht zumeist aufgrund körperlicher Zusammenhänge.
Wenn zwei Menschen sich nicht mögen, sich nicht ausstehen können, spricht man
oft davon, dass ihre ‚Chemie‘ nicht stimme, dass also die Art und Weise, wie
sich der andere verhält, Antipathie auslösen kann, man kann eben bestimmte
Menschen nicht ‚riechen‘.
Neben der
körperlichen Konstitution dürfte vor allem auch die persönliche
Lebensgeschichte des Einzelnen darüber mitbestimmen, ob man einzelne Menschen
sympathisch findet oder ob sie abstoßend wirken. Oft reicht ein bestimmtes
Erlebnis in der Vergangenheit (vor allem in der Kindheit), das mit Leid und
Frustration auf der einen oder mit Freude auf der anderen Seite verbunden war,
das – ohne dass der einzelne die Ursache dieser Empfindungen kennt – letztlich
über Sympathie oder Antipathie entscheidet.
Nun ist es
sicherlich Aufgabe einer jeden Erziehung, Antipathien zu überwinden, vor allem
dann, wenn sie unberechtigt sind und nicht ihre Wurzel im Verhalten dessen hat,
dem gegenüber man Antipathie empfindet. Aber viel entscheidender als die
Überwindung dieser Empfindungen selbst ist die Forderung, dass man die
Antipathie nicht den Mitmenschen spüren lässt, ihn also deshalb, weil man ihm
gegenüber eine Antipathie hegt, ihn ungerecht behandelt und ihm unfreundlich
begegnet. Es ist also in erster Linie die Achtung, welche mit dem Gebot der
Nächstenliebe eingefordert wird.
Es ist bekannt,
dass auch sehr fromme Menschen durchaus Antipathien gegenüber einzelnen Mitmenschen
hegen, so sollen sich z. B. auch Petrus und Paulus ‚spinnefeind‘ gewesen sein.
Aber das Gebot der Nächstenliebe richtet sich auch gar nicht in erster Linie an
die Empfindungen, sondern an das Verhalten gegenüber den Mitmenschen. Man kann
die im Gebot der Nächstenliebe geforderte Achtung auch sehr wohl Menschen
gegenüber bringen, für die man keine Sympathie empfindet.
5. Handelt es sich um ein neues Gebot?
Fragen wir uns als zweites,
ob es sich bei der Nächstenliebe um ein neues Gebot handelt? Bisweilen begegnet
man in der Öffentlichkeit der Meinung, dass das Gebot der Nächstenliebe erst
von Jesus formuliert worden sei und dass hier der wesentliche Unterschied
zwischen dem Neuen und dem Alten Testament bestehe, dass also das Alte
Testament die Forderung nach Nächstenliebe noch nicht gekannt habe.
Dies wäre jedoch
ein falscher Eindruck. Jesus selbst bezog sich im Zusammenhang mit dem
Gleichnis vom barmherzigen Samariter ex pressis verbis auf die zehn Gebote
Gottes:
‚An diesen beiden
Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten‘. (Matthäus, Kapitel 22,40)
In der Tat beziehen
sich die zehn Gebote Gottes – das Kernstück des Alten Testamentes – einerseits
auf die geforderte Gottesliebe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis oder Gleichnis machen und bete diese nicht an und
diene ihnen nicht! Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht
missbrauchen. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest.
Andererseits
beziehen sich die zehn Gebote Gottes auf die Achtung gegenüber den Mitmenschen:
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Du sollst nicht töten. Du sollst
nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden
wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Frau,
Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.
Jesus sah also in
den beiden Geboten der Gottes- und der Nächstenliebe nichts anderes als eine
Zusammenfassung der bereits im Alten Testament gültigen zehn Gebote Gottes. Er
führte mit anderen Worten die einzelnen zehn Gebote auf die Gebote der Gottes-
und Nächstenliebe zurück.
Wenn auch im 1.
Buch Moses (Exodus 20, 1-17) bei der Verkündung der zehn Gebote auf dem Berg Sinai
nicht ex pressis verbis von Nächstenliebe gesprochen wird, so kennt das Alte
Testament doch sehr wohl auch bereits diesen Begriff. In der Schrift Levitikus
19,18 heißt es:
‚An den Kindern
deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr‘. Die
korrekte Übersetzung aus dem Hebräischen dürfte vermutlich nicht lauten: ‚wie
dich selbst‘ sondern eher: ‚denn er ist wie du‘.
Allerdings wird
hier der Begriff der Nächstenliebe ganz offensichtlich auf den Volksstamm der
Israelis bezogen, während Jesus in seinem Gleichnis bewusst nicht einen
Israeli, also einen aus dem Stamme Juda, sondern einen Mann aus Samaria
ausgewählt hat, der sich gegenüber dem von Räubern überfallenen Mann als
Nächster erwies.
Trotzdem gibt es
sehr wohl einen Unterschied in der Bedeutung des Gebotes der Nächstenliebe im
Alten und im Neuen Testament. Jesus spricht ganz bewusst von zwei Geboten,
denen ein gleicher Rang zugesprochen wird. Ebenso wichtig wie das erste Gebot
der Gottesliebe ist das zweite Gebot der Nächstenliebe. Man kann sogar davon
sprechen, dass sich die wahre Gottesliebe nicht nur im Gottesdienst und in der
Verrichtung ritueller Handlungen vollzieht, sondern eben vor allem darin, dass
man den Mitmenschen genauso liebt, wie Gott den Menschen liebt.
In der Zeit, in der
Jesus gelebt hatte, war ein gläubiger Jude in erster Linie darum bemüht, durch
peinliche Beachtung der einzelnen rituellen Vorschriften (Brandopfer, Beschneidung,
koscheres Essen etc.) dem Gebot der Gottesliebe zu entsprechen, das Gebot der
Achtung der Mitmenschen galt zwar auch, aber es trat gegenüber dem Gebot der
Gottesliebe oftmals in den Hintergrund.
Im Gleichnis vom
barmherzigen Samariter wie in zahlreichen anderen Gleichnissen und Lehren Jesu
wird das Verhalten der Priester und Pharisäer gegeißelt, dass all zu sehr nur
darum bemüht war, dem Wortlaut der rituellen Vorschriften zu entsprechen, ohne
dass die – durch die Einhaltung dieser Vorschriften – geforderte Gesinnung
hinter diesen rituellen Handlungen zum Ausdruck komme.
Bezeichnender Weise
ist es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter auch ein Priester und ein Levit,
die an dem Überfallenen vorbei gehen und ihm nicht helfen, vielleicht weil sie
bemüht sind, möglichst schnell zum Tempel und damit zur Verrichtung der
geforderten rituellen Handlungen zu kommen.
Hier bringt Jesus
in der Tat einen Wandel in der Auslegung und Befolgung der einzelnen Gebote Gottes.
Es kommt nicht so sehr darauf an, dass der einzelne nach außen hin für die
Mitwelt die Einhaltung der Vorschriften demonstriert, es kommt vielmehr allein
auf die Gesinnung an, die den einzelnen Handlungen zugrunde liegt. Die linke
Hand soll nicht wissen, was die rechte tut. (Matthäus Kapitel 6,3) Die wahre
Bußfertigkeit bei Einhaltung des Fastengebotes liegt nicht im Verzicht auf
Nahrung, sondern darin, dass man z. B. den Armen speist.
So heißt es bei
Matthäus Kapitel 6 Vers 16-19:
‚Wenn ihr fastet, macht
kein finsteres Gesicht wie die Heuchler. Sie geben sich ein trübseliges Aussehen,
damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, das sage ich euch: Sie haben
ihren Lohn bereits erhalten. Du aber salbe dein Haar, wenn du fastest, und
wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur
dein Vater, der auch das Verborgene sieht; und dein Vater, der das Verborgene
sieht, wird es dir vergelten.‘
Es gibt allerdings
im Neuen Testament eine Stelle, in der ex pressis verbis mit der geforderten
Liebe von einem neuen Gebot gesprochen wird. Im Johannisevangelium
Kapitel 13,Vers 29 spricht Jesus bei seinem letzten Abendmahl, das er zusammen
mit seinen Jüngern vor Beginn seiner Passion abgehalten hatte:
‚Ein neues
Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch
ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid,
wenn ihr einander liebt‘.
Hier wird also in
der Tat im Hinblick auf die geforderte Liebe von einem neuen Gebot gesprochen.
Dieses ‚neue‘ liegt jedoch weniger darin, dass hier ein Gebot formuliert wird,
wie es bisher im Alten Testament noch nicht gekannt wurde. Wir haben ja
gesehen, dass auch im Alten Testament bereits ex pressis verbis von
Nächstenliebe gesprochen wird und dass Jesus selbst im Zusammenhang mit der
Formulierung der zwei wichtigsten Gebote lediglich eine Zusammenfassung der
zehn Gebote Gottes sieht.
Das ‚neue‘ an dem
Gebot der Nächstenliebe liegt vielmehr daran, dass ein Christ dieses Gebot in
viel stärkerem Maße beherzigen soll als ein Jude, dass man eben gerade daran,
wie Christen einander lieben und auch Nichtchristen Hilfe gewähren, erkennen
kann, dass ihr ‚meine Jünger‘ seid.
6. Wer gilt als Nächster?
Und wer gilt als
Nächster im Sinne dieses Gesetzes? Es mag zunächst verwundern, dass Jesus nicht
die Beziehungen zwischen Familienangehörigen als Nächste angesprochen hat,
obwohl kein Zweifel bestehen kann, dass gerade in der Beziehung zwischen
Ehegatten oder zwischen Eltern und Kind viele Beispiele aufopfernder
Tätigkeiten z. B. pflegebedürftiger Familienmitglieder bekannt sind.
Es ging jedoch in
diesem Gleichnis auch nicht darum, Beispiele aufopfernder Nächstenliebe lobend
hervorzuheben, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass dem Gebot der
Nächstenliebe eben oft nicht entsprochen wird und diese Ermahnungen können
natürlich am besten mit Beispielen verbunden werden, die auf besonders schwere
Fälle einer Übertretung hinweisen.
Es ist deshalb auch
kein Wunder, wenn in diesem Beispiel gerade ein Priester und ein Levit für Menschen
hervorgehoben werden, welche dieses Gebot vernachlässigen. Es wird zwar nicht
erwähnt, warum diese beiden Kirchenvertreter keine Hilfe geleistet haben.
Vielleicht hatten es beide sehr eilig zum Dienst im Tempel zu gelangen oder sie
waren so hochmütig, dass sie der Auffassung waren, dass solche niederen
Verrichtungen Sache der Laien seien und dass sie sich zugut waren, sich zu dem
Überfallenen hinunter zu beugen.
Jesus hätte
natürlich auch die an ihn gestellte Frage einfach damit beantworten können,
dass er alle Menschen als mögliche Nächste bezeichnet hätte. Immerhin wird in
der aramäischen Version dieser Bibelstelle dieses Gebot damit begründet, dass
alle Menschen vor Gott gleich seien (‚denn er ist wie du‘). Also läge es nahe,
dass man die Forderung nach Nächstenliebe auf alle Mitmenschen bezieht, welche
in Not geraten sind.
In diesem
Zusammenhang entsteht auch die Frage, inwieweit mit diesem Gebot auch die
Aufforderung nach einer weltweiten Hilfe verbunden ist. Nun gilt es zunächst
daran zu erinnern, dass es zu Zeiten Jesu noch keine modernen Medien wie
Hörfunk, Fernsehen oder Internet gab, sodass die einzelnen Menschen damals auch
nicht so schnell und intensiv über die Not in der Welt erfahren haben.
Immerhin war aber
Israel nicht von der übrigen Welt isoliert, es war Teil des römischen Imperiums
und sehr viel Not wurde den Juden und den benachbarten Völkern gerade von der
römischen Besatzungsmacht zugefügt. Auch verbanden viele Juden in der damaligen
Zeit die Hoffnung auf einen Messias mit der Erwartung, dass der Messias sie von
der verhassten Römerherrschaft befreie.
Also hätte man auch
erwarten können, dass gerade in der gegenseitigen Unterstützung der Juden und
in der Hilfe denjenigen gegenüber, welche von den Römern in Not gestürzt worden
waren, Beispiele einer vorrangig notwendig gewordenen Nächstenliebe zu sehen
sei. Jesus hat sich in anderen Gleichnissen und Reden sehr wohl mit der
jüdischen Besatzungsmacht auseinandergesetzt und somit die durch die
Besatzungsmächte hervorgerufene Not durchaus zur Kenntnis genommen.
Offensichtlich
verband Jesus jedoch mit dem Gebot der Nächstenliebe die Forderung, denjenigen
vor allem als Nächsten anzusehen, der einem persönlich begegnet, dessen Not
und Hilfsbedürftigkeit vor Augen geführt wird. In diesem Sinne hat fast jeder,
der in Not gerät, einen Nächsten, der ihm helfen kann. Und es ist sicherlich
eine sehr sinnvolle Arbeitsteilung, wenn man vorrangig denjenigen zur Hilfe
auffordert, der dem Notleidenden persönlich begegnet.
Damit wird in
keiner Weise bestritten, dass auch Fernstenliebe, also Hilfe gegenüber in Not
geratenen Menschen auf der ganzen Welt berechtigt und auch notwendig ist.
Während aber diese Fernstenliebe zumeist nur im Zusammenhang vieler
Einzelspenden überhaupt zum Tragen kommt und deshalb einer Organisation von
Seiten des Staates oder caritativer Einrichtungen bedarf, liegt die Betonung
bei der Nächstenliebe auf dem persönlichen Einsatz jedes einzelnen.
7. Liebe den Nächsten wie dich selbst
Wir kennen zwei
Interpretationen des Gebotes der Nächstenliebe. Zumeist wird dieses Gebot in
dem Sinne interpretiert, dass man den Nächsten so lieben solle, wie man sich
selbst liebt. Eine zweite Interpretation des Gebotes der Nächstenliebe geht von
dem aramäischen Wortlaut aus und Jesus hatte sicherlich in hebräisch oder auch
aramäisch zu seinen Zuhörern gesprochen; danach begründet Jesus die Forderung
nach Nächstenliebe damit, dass der andere dir gleiche: ‚Liebe deinen Nächsten,
denn er ist wie du‘. Wenden wir uns zunächst der ersten Interpretation zu.
Man könnte die
Aufforderung, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, zunächst in dem Sinne
verstehen, dass jeder den andern genauso stark lieben sollte, wie sich selbst,
dass also in dieser Interpretation gleichzeitig der Maßstab für den Umfang der
Nächstenliebe angegeben sei.
Jeder wird
zubilligen, dass dies aber eine sehr heroische Forderung darstellen würde, die
sehr große Selbstüberwindung verlangen würde. Auf jeden Fall wird man
feststellen müssen, dass die Masse der Christen, auch der gläubigen Christen,
die sehr wohl willens sind, sich an die Gebote Gottes zu halten, für den
anderen zumeist etwas weniger zu geben bereit sind als für sich selbst.
Im Mittelalter
wurde eine Maxime entwickelt, dass von den Einkünften, die der einzelne durch
gewerbliche Arbeit verdiene, etwa ein Drittel an den Staat, an die Kirche und
für die Armen gegeben werden sollte, das heißt etwas mehr als zehn Prozent für
den Staat, zehn weitere Prozente für die Kirche und schließlich zehn Prozente
für die Armen verwandt werden sollten. Für den Eigenbedarf bliebe somit
immerhin 2/3 der Einkünfte, also etwa 66% übrig.
In Wirklichkeit
wird bei einer solchen Regelung noch mehr für die eigenen Bedürfnisse übrig
bleiben, da ja ein Teil der Abgaben an den Staat und sicherlich auch an die
Kirche nichts anderes darstellt als eine Gegenleistung für die von Staat und
Kirche angebotenen Kollektivleistungen.
Nun wird man
allerdings bedenken müssen, dass der orientale Menschenschlag gerne zu
Übertreibungen neigt und dass seine Aussagen in der Regel pointiert zugespitzt
werden. Der Sinn dieser Zuspitzung besteht dann darin, die Angesprochenen
wachzurütteln, da die Gefahr besteht, dass ohne diese Übertreibung die Masse
der Zuhörer die Ermahnungen gar nicht beachten würde. Wenn man also die Hälfte
verlangt, kann man vielleicht erreichen, dass de facto etwa 30% für das
Allgemeinwohl aufgewendet wird.
Man kann auch diese
Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe so verstehen, dass hier der Idealzustand
umschrieben wird, auf den wir uns zu bewegen sollen, den man jedoch nie oder
kaum je hundert prozentig erreichen wird. Es wird gezeigt, in welche Richtung
man sich bewegen soll und dass man sich immer wiederum erneut darum bemühen
sollte, sich diesem Idealzustand anzunähern, dass man also nie an das Ende der
Bemühungen gelangen kann, von dem ab es nichts mehr Gutes zu tun gibt, da alles
schon erreicht sei.
Bei unseren
bisherigen Überlegungen haben wir die Forderung, den Nächsten so zu lieben wie
sich selbst, in dem Sinne verstanden, dass Eigenliebe genauso groß sein müsse
wie Nächstenliebe. Man kann jedoch das Gebot der Nächstenliebe auch weniger
strikt auslegen. Die Betonung liegt dann nicht mehr auf dem Wörtchen ‚genauso‘,
sondern es wird lediglich darauf hingewiesen, dass der Mensch bei seinem
Handeln beide Aspekte, das eigene Wohl wie das Wohl der Gemeinschaft und der
Mitmenschen zu beachten habe, ohne dass bereits eine Aussage darüber gemacht
wird, in welchem quantitativen Verhältnis Eigenliebe und Nächstenliebe stehen
sollten. Und sicherlich dürften in der Tat nahezu alle unsere Handlungen eben
nicht nur unser Eigenwohl, sondern eben auch das Wohl anderer Menschen –
positiv oder negativ – berühren.
Interessant bei der
Betonung auf zwei Zielsetzungen (Eigenwohl und Wohl der anderen) ist offensichtlich
die Feststellung, dass die Beachtung des Eigenwohls sehr wohl erwünscht oder
erlaubt ist, dass also die Nachfolge Christi keinesfalls verlangt, dass man nur
auf das Wohl der anderen achten solle und die eigenen Bedürfnisse soweit wie
nur möglich zu unterdrücken habe.
Jesus selbst hat
sehr wohl auch an Feierlichkeiten teilgenommen und damit sicherlich zum
Ausdruck gebracht, dass der Mensch sehr wohl das Recht hat, fröhlich zu sein
und zu feiern und dass in Fröhlichkeit allein noch nichts sündhaftes liegt, wie
einzelne christliche Sekten im Verlauf der Geschichte immer wieder gepredigt
haben.
Eine solche die
Fröhlichkeit bejahende Moral hat auch durchaus Sinn. Auf der einen Seite wird
im Allgemeinen nur derjenige dem andern helfen und Freude bereiten können, der
am eigenen Leib bereits Freude erfahren hat. Das Gebot der Nächstenliebe dürfte
auch sehr viel leichter zu vermitteln sein, wenn der einzelne durchaus auch das
Recht hat, für sein eigenes materielles Wohl zu sorgen, als dann, wenn er nur
an das Wohl der andern zu denken hat.
Es ist auf der
anderen Seite einfach wirklichkeitsfremd, wollte man erwarten, dass die Mehrzahl
der Bevölkerung bei ihrem Tun immer nur das Allgemeinwohl im Auge hätte. Ein
solcher Anspruch führt zumeist dazu, dass der einzelne nach außen heuchlerisch
vorgibt, allein das Gemeinwohl im Auge zu haben, in Wirklichkeit aber sehr wohl
fast nur an sein eigenes Wohl denkt. Wohltaten zeichnen sich dann in der Regel
dadurch aus, dass sie zwar aus der Sicht des Spenders als wohltuend, aber aus
der Sicht des Beschenkten als lästig, als eine die Freiheit beraubende Handlung
angesehen werden.
Einem verwandten
Begriff der Nächstenliebe begegnen wir bei Emanuel Kant im sogenannten kategorischen
Imperativ. Kant versteht darunter ein unbedingt gültiges sittliches Gebot. Er
stellt diesen Begriff in seiner ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ in
Gegensatz zum hypothetischen Imperativ, einer Forderung, die nur unter gewissen
Bedingungen postuliert wird. In der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ findet
sich eine Definition des kategorischen Imperativs: ‚Handle so, dass die Maxime
deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne‘.
Der einzelne hat
sich also entsprechend diesem Prinzip bei all seinen Handlungen zu fragen, ob
er sich gegenüber den anderen genauso verhält, wie er es selbst von anderen ihm
gegenüber erwartet. Mit anderen Worten: Der Einzelne soll das Interesse seines
Mitmenschen genauso bei seinen Aktivitäten berücksichtigen wie das eigene
Interesse.
In ähnlichem Sinne
lässt der Evangelist Lukas Jesus in Kapitel 6, Vers 27 – 36 im Zusammenhang mit
der Feindesliebe sagen:
‚Was ihr von
anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen‘.
8. Liebe den Nächsten, denn er ist wie du
Wir erwähnten
bereits, dass der aramäische Bibeltext auch eine etwas andere Formulierung des Gebotes
der Nächstenliebe zulässt: ‚Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du‘. Der
andere ist genauso wie ich ein Mensch und keine Sache und sollte deshalb auch
niemals wie eine Sache behandelt werden. Anders formuliert: Ein Mensch sollte
niemals nur als Mittel irgendeiner Zielsetzung behandelt werden. Er ist immer
auch Selbstzweck.
Während bei der
zuerst behandelten Interpretation auf die Beziehungen zwischen der Eigen- und
der Nächstenliebe abgehoben wird, findet sich hier in dieser zweiten möglichen
Interpretation eine Begründung für die Nächstenliebe.
Warum soll ich
meinen Nächsten lieben? Als Antwort und Rechtfertigung wird darauf hingewiesen,
dass er – der andere Mensch – ja wie du ist. Es wird hier offensichtlich darauf
abgehoben, dass alle Menschen von Gott erschaffen wurden und dass Gott alle
Menschen – gleich welcher Rasse oder welchen Geschlechts – gleich zugetan ist.
Deshalb sollen sich auch die Menschen unter einander wie seines gleichen
behandeln.
In der christlichen
Philosophie wird der Mensch als persönliches Wesen gekennzeichnet. Damit sind
insbesondere zwei Wesensmerkmale verbunden. Der Mensch ist auf der einen Seite
– im Gegensatz zum Tier – ein Wesen, das über seine Belange weitgehend frei
entscheiden kann. Er soll nicht zum Glauben und zur Gottes- und Nächstenliebe
gezwungen werden. Es steht ihm frei, sich für Gott und für das Gute oder gegen
Gott und für das Schlechte zu entscheiden.
Gleichzeitig ist
der Mensch aber auch ein soziales Wesen, das nicht isoliert neben den anderen
Menschen vor sich hinlebt, sondern in die Gemeinschaft hineingeboren wurde. Nur
durch eine liebevolle Pflege seitens seiner Eltern kann der neugeborene Mensch
überhaupt überleben und nur durch sie und später durch den Besuch der Schule
lernt er überhaupt erst all die Verhaltensweisen, die er für sein späteres
Leben unbedingt benötigt.
Genauso, wie der
Mensch vor allem in seiner Kindheit, aber auch später in Notzeiten des anderen
Menschen bedarf, genauso soll auch er die empfangene Liebe und Achtung
weitergeben, an seine Ehegatten und an seine Kinder, an Nachbarn und Freunde,
an Berufskollegen und an Verunglückte sowie Überfallene.
Der Fortschritt der
Menschheit vollzog sich vor allem in der Gemeinschaft. Durch Arbeitsteilung konnte
der Mensch sich spezialisieren und seine Fähigkeiten steigern. Arbeitsteilung
setzt jedoch voraus, dass ein Austausch der Güter und Handlungen stattfindet.
Wer sich spezialisiert, kann nicht mehr für seinen Gesamtbedarf aufkommen, er
beschränkt sein Handeln auf die Erstellung weniger Güter und Leistungen, er
bedarf also Güter und Leistungen, welche von andern erzeugt wurden.
Andererseits stellt er sehr viel mehr Güter und Leistungen her als er für
seinen Eigenbedarf benötigt, er erhält damit auch die Möglichkeit, selbst
erstellte Waren im Austausch gegen Waren, die er benötigt, anderen anzubieten.
Das soziale Umfeld
des Menschen beschränkt sich jedoch nicht darauf, in der Gemeinschaft der
Familie und in den schulischen Einrichtungen auf das spätere Leben vorbereitet
zu werden und später im Beruf innerhalb einer Unternehmung die materiellen
Voraussetzungen für das wirtschaftliche Leben zu produzieren. Der Mensch ist
vielmehr auch in kultureller und religiöser Hinsicht sozial eingebunden. In der
Gemeinschaft beim Abendmahl erfährt er die Nähe Gottes. Im Matthäusevangelium
Kapitel 18, Vers 20 erfahren wir:
‚Denn wo zwei oder
drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen‘.
Der Sinn des
menschlichen Lebens besteht also nach Überzeugung der christlichen Religionen nicht
etwa in einer Maximierung der materiellen Wohlfahrt, überhaupt nicht in
irdischen Dingen, sondern in einer Vorbereitung auf das Leben nach dem Tode.
Das irdische Leben ist also eine Art Bewährungszeit, wobei die Bewährung darin
besteht, dass man in Befolgung der Gebote Gottes in der Gemeinschaft der
Christen denjenigen eine Hilfe gewährt, die der Hilfe bedürfen.
Fortsetzung folgt!