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Die Gleichnisse der Bibel

 

              

 

Gliederung:

 

Teil I

 

Problemeinführung

 

Teil II

 

Gleichnisse im Alten Testament

 

Teil III . Die Gleichnisse Jesu

              

1. Gottes- und Nächstenliebe

2. Weitere Verhaltensanweisungen

3. Frage nach dem Lohn                     

4. Die Rolle des Menschensohns 

5. Die Bedeutung des Bittens               

6. Von der Verbreitung des Glaubens   

 

 

 

 

 

   Kapitel 3. Gottes- und Nächstenliebe

 

 

Gliederung:

 

1. Problemeinführung

2. Die Lehre von der allein selig machenden Gnade

3. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

4. Auf welchen Begriff der Liebe bezieht sich dieses Gebot?

5. Handelt es sich um ein neues Gebot?      

6. Wer gilt als Nächster?

7. Liebe den Nächsten wie dich selbst.

8. Liebe den Nächsten, denn er ist wie du.

9. Hilfe für den in Not geratenen

                 10. Füge dem Mitmenschen keinen Schaden zu.

                 11. Behandle deinen Mitmenschen als freien Mitbürger.

                 12. Das Gebot der Feindesliebe

                 13. Halte auch die andere Wange hin

                 14.  Liebe versus ‚Do ut Des-Prinzip‘

 

 

1. Problemeinführung

 

Wir wollen uns in diesem dritten Teil dieser Vorlesung mit den Gleichnissen Jesu aus dem Neuen Testament befassen. In den beiden ersten Kapitel dieses dritten Teils wenden wir uns an jene Gleichnisse, die von dem Verhalten handeln, welches Gott von den Menschen erwartet.

 

Als erstes müssen wir uns allerdings darüber klar werden, ob es überhaupt menschlicher Anstrengungen bedarf, ob nicht – wie eine Äußerung Martin Luthers  nahezulegen scheint – die Gnade Gottes allein selig machend sei. Im Mittelpunkt der Analyse dieser Gleichnisse steht das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Dieses Gleichnis umreißt gewissermaßen die Handlungen, welche Gott von uns erwartet.

 

 

2. Die Lehre von der allein selig machenden Gnade

 

Beginnen wir also mit der Frage, ob es überhaupt menschlicher Anstrengungen bedarf, damit die Menschen vor Gott gerechtfertigt werden. Scheinbar steht der Vorstellung, dass es von unserem eigenen Verhalten abhängt, ob uns Gott annimmt, das von Martin Luther entwickelte Prinzip von der Gerechtigkeit Gottes entgegen. Danach ist Gottes ewige Gerechtigkeit ein reines Geschenk der göttlichen Gnade, welches der einzelne Mensch allein dadurch erhält, dass er an Jesus Christus als Erlöser der Menschen glaubt. Keinerlei eigenes Dazutun könne die göttliche Gnade herbeiführen. Selbst der Glaube könne ohne diese Gnade Gottes nicht herbeigeführt werden. 

 

‚Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche aus dem Glauben kommt und zum Glauben führt; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus dem Glauben leben.“ (Hab 2,4 LUT)

 

Diese Einschätzung steht jedoch offensichtlich in Widerspruch zu zahlreichen Stellen sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament. Moses hatte auf zwei steinernen Tafeln die zehn Gebote Gottes an die Menschen vom Berg Sinai gebracht, eine Art Magna Charta für das geforderte Verhalten der Menschen und Jesus hatte auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot die Gottesliebe und die Nächstenliebe benannt und darauf verwiesen, dass in diesen beiden Geboten Moses samt Propheten enthalten seien.

 

Weiterhin zählt zu den zentralen Themen des Alten und Neuen Testamentes die Aufforderung zur Reue und Umkehr und damit ist nicht nur das Zugeständnis gemeint, dass man in der Vergangenheit gesündigt hatte, sondern dass man in Zukunft alles daran setzen will, den täglichen Versuchungen zum Bösen zu widerstehen und dies setzt in der Tat aktives Handeln voraus.

 

Bei Lukas Kapitel 3,10-14 lesen wir:

 

10 ‚Da fragten ihn die Leute: Was sollen wir also tun?

11 Er antwortete ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso.

12 Es kamen auch Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir tun?

13 Er sagte zu ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist.

14 Auch Soldaten fragten ihn: Was sollen denn wir tun? Und er sagte zu ihnen: Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold!‚

 

Und bei Matthäus Kapitel 3,7-10 erfahren wir:

 

7 ‚Als Johannes sah, dass viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt?

8 Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt,

9 und meint nicht, ihr könntet sagen: Wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen.

10 Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.‘

 

Wenn das friedliche Zusammenleben zweier Menschen dadurch gestört wurde, dass der eine dem andern großen Schaden zugefügt hat, kann dieser Unfriede nur dadurch wieder geheilt werden, dass beide an einer Versöhnung arbeiten. Derjenige, welcher am andern gesündigt hat, muss seine Tat bereuen und zeigen, dass er willens ist, in Zukunft die Regeln des Zusammenlebens zu achten und derjenige, dem Böses getan wurde, muss seinerseits bereit sein, dem andern zu vergeben und mit ihm friedlich zusammenzuleben.

 

Ähnliches gilt für das Verhältnis Gottes zu den Menschen. Wenn die Menschen gesündigt haben, bedarf es zur Versöhnung mit Gott das Mitwirken beider. Der Mensch, der gesündigt hat, muss bereuen und zur Umkehr bereit sein und Gott ist willens, unsere Reue anzunehmen. Beide Akte: die Gnade Gottes wie die Reue und Umkehr der sündigen Menschen sind für eine Aussöhnung der Menschen mit Gott unerlässlich, damit die Menschen schließlich das ewige Leben erlangen können.

 

In diesem Sinne ist es in der Tat richtig, festzustellen, dass ohne die Gnade Gottes keine Versöhnung erreicht werden kann, mag sich der Mensch noch so sehr anstrengen, um seine bisherigen Sünden zu bereuen und in Zukunft nicht mehr den Versuchungen zum Bösen zu erliegen. Die Gnade Gottes kann nicht durch menschliches Handeln ersetzt werden, sie stellt eine notwendige Bedingung für eine Versöhnung dar.

 

In gleicher Weise muss aber auch festgestellt werden, dass die Gnade Gottes noch so groß sein kann, auch der Mensch muss seinen Beitrag zur Versöhnung mit Gott leisten, Reue und tatkräftige Umkehr sind genauso unerlässlich, auch sie stellen eine notwendige Voraussetzung zur Versöhnung dar. Insofern muss man also auch feststellen, dass beide Voraussetzungen allein nicht ausreichen. So lesen wir bei bei Jakobus, Kapitel 2,14-24:

 

14  ‚Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten?

15  Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot

16  und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen – was nützt das?

17  So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat……

 

20  Willst du also einsehen, du unvernünftiger Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist? 

21  Wurde unser Vater Abraham nicht aufgrund seiner Werke als gerecht anerkannt?...

22  Du siehst, dass bei ihm der Glaube und die Werke zusammenwirkten und dass erst durch die Werke der Glaube vollendet wurde…..

 

24  Ihr seht, dass der Mensch aufgrund seiner Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein.

 

 

3. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

 

Befassen wir uns nun etwas ausführlicher mit der Antwort Jesu, was er als wichtigstes Gebot erachtete. Bei Matthäus Kapitel 22,35-40 lesen wir:

 

35 ‚Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn:

36  Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?

37  Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.

38  Das ist das wichtigste und erste Gebot.

39  Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 

40  An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.‘

 

Bei Markus Kapitel 12,28–34 heißt es ähnlich:

 

28  ‚Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? 

29  Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. 

30  Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.

31  Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

32  Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm,

33  und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.

34  Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.‘

 

Bei Lukas in Kapitel 10, 25-37 fordert Jesus diesen Schriftgelehrten auf, selbst zu sagen, was nach dem Gesetz als wichtigstes Gebot zu gelten hat:

 

25  ‚Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? 

26  Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort?

27  Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. 

28  Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben.‘

 

29 ‚Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?

30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.

31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.

32 Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.

33 Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid,

34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.

35 Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.

36 Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?

37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!‚

 

 

4. Auf welchen Begriff der Liebe bezieht sich dieses Gebot?

 

Fragen wir uns als erstes, auf welchen Begriff der Liebe sich dieses Gebot bezieht, welche Art von Liebe denn mit diesem Gebot der Nächstenliebe angesprochen ist? Im Alltagsgebrauch verwenden wir ja den Begriff der Liebe mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen.

 

Gemeinsam ist fast allen Begriffen der Liebe, dass sie als eine Form der emotionalen Zuwendung erlebt wird, die in unterschiedlichen Epochen und Kulturen recht verschieden verstanden wurde.

 

Unter Liebe wird zunächst ein körperlich-sinnliches, von sexueller Anziehung ausgehendes Begehren verstanden, das eine sinnlich-erotische Beziehung zu dem gewählten Liebespartner anstrebt. Im Vordergrund steht hier die leidenschaftliche, auf sexueller Lust beruhende Bindung. Die griechische Philosophie spricht seit Aristoteles in diesem Zusammenhang von Eros.

 

Hierzu im Gegensatz steht eine Liebesäußerung, welche bei der Zuneigung zum geliebten Menschen auf die Sorge für einen anderen Menschen abhebt. Sie umfasst sowohl den sorgenden Umgang, den die Eltern mit ihren Kindern pflegen – also die zärtliche, Geborgenheit gewährende Bindung zwischen Eltern und Kind – ebenso wie die vielfältigen Formen der Freundschaft und der Sympathie bis hin zur Verantwortung für den Nächsten, für die eigene und auch für andere Gruppen.

 

Die griechische Philosophie spricht in diesem Zusammenhang von Agape, wobei sich das Wort ‚Agape‘ ursprünglich auf das Abendmahl bezieht, das vor allem die Frühchristen im Gedenken an das letzte Abendmahl abhielten, das Jesus vor Beginn seiner Passion mit seinen Jüngern abgehalten hatte.

 

Hiervon abgehoben findet sich in der religiös fundierten Literatur die Orientierung des Liebesbegriffs an Gott, der den Menschen liebt und die Forderung erhebt, dass die Menschen nicht nur Gott lieben, sondern sich auch gegenseitig lieben, genauso wie Gott die Menschen liebt.

 

Es ist klar, dass sich das Gebot der Nächstenliebe nicht auf die Liebe in Form des Eros bezieht, sondern dass stets mit der Forderung nach Nächstenliebe eine Liebe im Sinn der Agape angesprochen ist und dass die geforderte Nächstenliebe letztlich ihren Grund in der Liebe Gottes zu den Menschen hat.

 

Nun hatten wir unter den Begriff der Agape auch Sympathiebekundungen subsumiert. Das Gebot der Nächstenliebe verlangt jedoch sicherlich nicht, dass wir uns darum bemühen, für alle Mitmenschen, denen wir begegnen und von denen wir erfahren, Sympathie zu entwickeln.

 

Sympathie – und ihr Gegenstück Antipathie – entsteht zumeist aufgrund körperlicher Zusammenhänge. Wenn zwei Menschen sich nicht mögen, sich nicht ausstehen können, spricht man oft davon, dass ihre ‚Chemie‘ nicht stimme, dass also die Art und Weise, wie sich der andere verhält, Antipathie auslösen kann, man kann eben bestimmte Menschen nicht ‚riechen‘.

 

Neben der körperlichen Konstitution dürfte vor allem auch die persönliche Lebensgeschichte des Einzelnen darüber mitbestimmen, ob man einzelne Menschen sympathisch findet oder ob sie abstoßend wirken. Oft reicht ein bestimmtes Erlebnis in der Vergangenheit (vor allem in der Kindheit), das mit Leid und Frustration auf der einen oder mit Freude auf der anderen Seite verbunden war, das – ohne dass der einzelne die Ursache dieser Empfindungen kennt – letztlich über Sympathie oder Antipathie entscheidet.

 

Nun ist es sicherlich Aufgabe einer jeden Erziehung, Antipathien zu überwinden, vor allem dann, wenn sie unberechtigt sind und nicht ihre Wurzel im Verhalten dessen hat, dem gegenüber man Antipathie empfindet. Aber viel entscheidender als die Überwindung dieser Empfindungen selbst ist die Forderung, dass man die Antipathie nicht den Mitmenschen spüren lässt, ihn also deshalb, weil man ihm gegenüber eine Antipathie hegt, ihn ungerecht behandelt und ihm unfreundlich begegnet. Es ist also in erster Linie die Achtung, welche mit dem Gebot der Nächstenliebe eingefordert wird.

 

Es ist bekannt, dass auch sehr fromme Menschen durchaus Antipathien gegenüber einzelnen Mitmenschen hegen, so sollen sich z. B. auch Petrus und Paulus ‚spinnefeind‘ gewesen sein. Aber das Gebot der Nächstenliebe richtet sich auch gar nicht in erster Linie an die Empfindungen, sondern an das Verhalten gegenüber den Mitmenschen. Man kann die im Gebot der Nächstenliebe geforderte Achtung auch sehr wohl Menschen gegenüber bringen, für die man keine Sympathie empfindet.

 

 

5. Handelt es sich um ein neues Gebot?

 

Fragen wir uns als zweites, ob es sich bei der Nächstenliebe um ein neues Gebot handelt? Bisweilen begegnet man in der Öffentlichkeit der Meinung, dass das Gebot der Nächstenliebe erst von Jesus formuliert worden sei und dass hier der wesentliche Unterschied zwischen dem Neuen und dem Alten Testament bestehe, dass also das Alte Testament die Forderung nach Nächstenliebe noch nicht gekannt habe.

 

Dies wäre jedoch ein falscher Eindruck. Jesus selbst bezog sich im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter ex pressis verbis auf die zehn Gebote Gottes:

 

‚An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten‘. (Matthäus, Kapitel 22,40)

 

In der Tat beziehen sich die zehn Gebote Gottes – das Kernstück des Alten Testamentes – einerseits auf die geforderte Gottesliebe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis oder Gleichnis machen und bete diese nicht an und diene ihnen nicht! Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest.

 

Andererseits beziehen sich die zehn Gebote Gottes auf die Achtung gegenüber den Mitmenschen: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

 

Jesus sah also in den beiden Geboten der Gottes- und der Nächstenliebe nichts anderes als eine Zusammenfassung der bereits im Alten Testament gültigen zehn Gebote Gottes. Er führte mit anderen Worten die einzelnen zehn Gebote auf die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe zurück.

 

Wenn auch im 1. Buch Moses (Exodus 20, 1-17) bei der Verkündung der zehn Gebote auf dem Berg Sinai nicht ex pressis verbis von Nächstenliebe gesprochen wird, so kennt das Alte Testament doch sehr wohl auch bereits diesen Begriff. In der Schrift Levitikus 19,18 heißt es:

 

‚An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr‘. Die korrekte Übersetzung aus dem Hebräischen dürfte vermutlich nicht lauten: ‚wie dich selbst‘ sondern eher: ‚denn er ist wie du‘.

 

Allerdings wird hier der Begriff der Nächstenliebe ganz offensichtlich auf den Volksstamm der Israelis bezogen, während Jesus in seinem Gleichnis bewusst nicht einen Israeli, also einen aus dem Stamme Juda, sondern einen Mann aus Samaria ausgewählt hat, der sich gegenüber dem von Räubern überfallenen Mann als Nächster erwies.

 

Trotzdem gibt es sehr wohl einen Unterschied in der Bedeutung des Gebotes der Nächstenliebe im Alten und im Neuen Testament. Jesus spricht ganz bewusst von zwei Geboten, denen ein gleicher Rang zugesprochen wird. Ebenso wichtig wie das erste Gebot der Gottesliebe ist das zweite Gebot der Nächstenliebe. Man kann sogar davon sprechen, dass sich die wahre Gottesliebe nicht nur im Gottesdienst und in der Verrichtung ritueller Handlungen vollzieht, sondern eben vor allem darin, dass man den Mitmenschen genauso liebt, wie Gott den Menschen liebt.

 

In der Zeit, in der Jesus gelebt hatte, war ein gläubiger Jude in erster Linie darum bemüht, durch peinliche Beachtung der einzelnen rituellen Vorschriften (Brandopfer, Beschneidung, koscheres Essen etc.) dem Gebot der Gottesliebe zu entsprechen, das Gebot der Achtung der Mitmenschen galt zwar auch, aber es trat gegenüber dem Gebot der Gottesliebe oftmals in den Hintergrund.

 

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter wie in zahlreichen anderen Gleichnissen und Lehren Jesu wird das Verhalten der Priester und Pharisäer gegeißelt, dass all zu sehr nur darum bemüht war, dem Wortlaut der rituellen Vorschriften zu entsprechen, ohne dass die – durch die Einhaltung dieser Vorschriften – geforderte Gesinnung hinter diesen rituellen Handlungen zum Ausdruck komme.

 

Bezeichnender Weise ist es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter auch ein Priester und ein Levit, die an dem Überfallenen vorbei gehen und ihm nicht helfen, vielleicht weil sie bemüht sind, möglichst schnell zum Tempel und damit zur Verrichtung der geforderten rituellen Handlungen zu kommen.

 

Hier bringt Jesus in der Tat einen Wandel in der Auslegung und Befolgung der einzelnen Gebote Gottes. Es kommt nicht so sehr darauf an, dass der einzelne nach außen hin für die Mitwelt die Einhaltung der Vorschriften demonstriert, es kommt vielmehr allein auf die Gesinnung an, die den einzelnen Handlungen zugrunde liegt. Die linke Hand soll nicht wissen, was die rechte tut. (Matthäus Kapitel 6,3) Die wahre Bußfertigkeit bei Einhaltung des Fastengebotes liegt nicht im Verzicht auf Nahrung, sondern darin, dass man z. B. den Armen speist.

 

So heißt es bei Matthäus Kapitel 6 Vers 16-19:

 

‚Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler. Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber salbe dein Haar, wenn du fastest, und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der auch das Verborgene sieht; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.‘

 

Es gibt allerdings im Neuen Testament eine Stelle, in der ex pressis verbis mit der geforderten Liebe von einem neuen Gebot gesprochen wird. Im Johannisevangelium Kapitel 13,Vers 29 spricht Jesus bei seinem letzten Abendmahl, das er zusammen mit seinen Jüngern vor Beginn seiner Passion abgehalten hatte:

 

‚Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt‘.

 

Hier wird also in der Tat im Hinblick auf die geforderte Liebe von einem neuen Gebot gesprochen. Dieses ‚neue‘ liegt jedoch weniger darin, dass hier ein Gebot formuliert wird, wie es bisher im Alten Testament noch nicht gekannt wurde. Wir haben ja gesehen, dass auch im Alten Testament bereits ex pressis verbis von Nächstenliebe gesprochen wird und dass Jesus selbst im Zusammenhang mit der Formulierung der zwei wichtigsten Gebote lediglich eine Zusammenfassung der zehn Gebote Gottes sieht.

 

Das ‚neue‘ an dem Gebot der Nächstenliebe liegt vielmehr daran, dass ein Christ dieses Gebot in viel stärkerem Maße beherzigen soll als ein Jude, dass man eben gerade daran, wie Christen einander lieben und auch Nichtchristen Hilfe gewähren, erkennen kann, dass ihr ‚meine Jünger‘ seid.

 

 

6. Wer gilt als Nächster?

 

Und wer gilt als Nächster im Sinne dieses Gesetzes? Es mag zunächst verwundern, dass Jesus nicht die Beziehungen zwischen Familienangehörigen als Nächste angesprochen hat, obwohl kein Zweifel bestehen kann, dass gerade in der Beziehung zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kind viele Beispiele aufopfernder Tätigkeiten z. B. pflegebedürftiger Familienmitglieder bekannt sind.

 

Es ging jedoch in diesem Gleichnis auch nicht darum, Beispiele aufopfernder Nächstenliebe lobend hervorzuheben, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass dem Gebot der Nächstenliebe eben oft nicht entsprochen wird und diese Ermahnungen können natürlich am besten mit Beispielen verbunden werden, die auf besonders schwere Fälle einer Übertretung hinweisen.

 

Es ist deshalb auch kein Wunder, wenn in diesem Beispiel gerade ein Priester und ein Levit für Menschen hervorgehoben werden, welche dieses Gebot vernachlässigen. Es wird zwar nicht erwähnt, warum diese beiden Kirchenvertreter keine Hilfe geleistet haben. Vielleicht hatten es beide sehr eilig zum Dienst im Tempel zu gelangen oder sie waren so hochmütig, dass sie der Auffassung waren, dass solche niederen Verrichtungen Sache der Laien seien und dass sie sich zugut waren, sich zu dem Überfallenen hinunter zu beugen.

 

Jesus hätte natürlich auch die an ihn gestellte Frage einfach damit beantworten können, dass er alle Menschen als mögliche Nächste bezeichnet hätte. Immerhin wird in der aramäischen Version dieser Bibelstelle dieses Gebot damit begründet, dass alle Menschen vor Gott gleich seien (‚denn er ist wie du‘). Also läge es nahe, dass man die Forderung nach Nächstenliebe auf alle Mitmenschen bezieht, welche in Not geraten sind.

 

In diesem Zusammenhang entsteht auch die Frage, inwieweit mit diesem Gebot auch die Aufforderung nach einer weltweiten Hilfe verbunden ist. Nun gilt es zunächst daran zu erinnern, dass es zu Zeiten Jesu noch keine modernen Medien wie Hörfunk, Fernsehen oder Internet gab, sodass die einzelnen Menschen damals auch nicht so schnell und intensiv über die Not in der Welt erfahren haben.

 

Immerhin war aber Israel nicht von der übrigen Welt isoliert, es war Teil des römischen Imperiums und sehr viel Not wurde den Juden und den benachbarten Völkern gerade von der römischen Besatzungsmacht zugefügt. Auch verbanden viele Juden in der damaligen Zeit die Hoffnung auf einen Messias mit der Erwartung, dass der Messias sie von der verhassten Römerherrschaft befreie.

 

Also hätte man auch erwarten können, dass gerade in der gegenseitigen Unterstützung der Juden und in der Hilfe denjenigen gegenüber, welche von den Römern in Not gestürzt worden waren, Beispiele einer vorrangig notwendig gewordenen Nächstenliebe zu sehen sei. Jesus hat sich in anderen Gleichnissen und Reden sehr wohl mit der jüdischen Besatzungsmacht auseinandergesetzt und somit die durch die Besatzungsmächte hervorgerufene Not durchaus zur Kenntnis genommen.

 

Offensichtlich verband Jesus jedoch mit dem Gebot der Nächstenliebe die Forderung, denjenigen vor allem als Nächsten anzusehen, der einem persönlich begegnet, dessen Not und Hilfsbedürftigkeit vor Augen geführt wird. In diesem Sinne hat fast jeder, der in Not gerät, einen Nächsten, der ihm helfen kann. Und es ist sicherlich eine sehr sinnvolle Arbeitsteilung, wenn man vorrangig denjenigen zur Hilfe auffordert, der dem Notleidenden persönlich begegnet.

 

Damit wird in keiner Weise bestritten, dass auch Fernstenliebe, also Hilfe gegenüber in Not geratenen Menschen auf der ganzen Welt berechtigt und auch notwendig ist. Während aber diese Fernstenliebe zumeist nur im Zusammenhang vieler Einzelspenden überhaupt zum Tragen kommt und deshalb einer Organisation von Seiten des Staates oder caritativer Einrichtungen bedarf, liegt die Betonung bei der Nächstenliebe auf dem persönlichen Einsatz jedes einzelnen.

 

 

7. Liebe den Nächsten wie dich selbst

 

Wir kennen zwei Interpretationen des Gebotes der Nächstenliebe. Zumeist wird dieses Gebot in dem Sinne interpretiert, dass man den Nächsten so lieben solle, wie man sich selbst liebt. Eine zweite Interpretation des Gebotes der Nächstenliebe geht von dem aramäischen Wortlaut aus und Jesus hatte sicherlich in hebräisch oder auch aramäisch zu seinen Zuhörern gesprochen; danach begründet Jesus die Forderung nach Nächstenliebe damit, dass der andere dir gleiche: ‚Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du‘. Wenden wir uns zunächst der ersten Interpretation zu.

 

Man könnte die Aufforderung, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, zunächst in dem Sinne verstehen, dass jeder den andern genauso stark lieben sollte, wie sich selbst, dass also in dieser Interpretation gleichzeitig der Maßstab für den Umfang der Nächstenliebe angegeben sei.

 

Jeder wird zubilligen, dass dies aber eine sehr heroische Forderung darstellen würde, die sehr große Selbstüberwindung verlangen würde. Auf jeden Fall wird man feststellen müssen, dass die Masse der Christen, auch der gläubigen Christen, die sehr wohl willens sind, sich an die Gebote Gottes zu halten, für den anderen zumeist etwas weniger zu geben bereit sind als für sich selbst.

 

Im Mittelalter wurde eine Maxime entwickelt, dass von den Einkünften, die der einzelne durch gewerbliche Arbeit verdiene, etwa ein Drittel an den Staat, an die Kirche und für die Armen gegeben werden sollte, das heißt etwas mehr als zehn Prozent für den Staat, zehn weitere Prozente für die Kirche und schließlich zehn Prozente für die Armen verwandt werden sollten. Für den Eigenbedarf bliebe somit immerhin 2/3 der Einkünfte, also etwa 66% übrig.

 

In Wirklichkeit wird bei einer solchen Regelung noch mehr für die eigenen Bedürfnisse übrig bleiben, da ja ein Teil der Abgaben an den Staat und sicherlich auch an die Kirche nichts anderes darstellt als eine Gegenleistung für die von Staat und Kirche angebotenen Kollektivleistungen.

 

Nun wird man allerdings bedenken müssen, dass der orientale Menschenschlag gerne zu Übertreibungen neigt und dass seine Aussagen in der Regel pointiert zugespitzt werden. Der Sinn dieser Zuspitzung besteht dann darin, die Angesprochenen wachzurütteln, da die Gefahr besteht, dass ohne diese Übertreibung die Masse der Zuhörer die Ermahnungen gar nicht beachten würde. Wenn man also die Hälfte verlangt, kann man vielleicht erreichen, dass de facto etwa 30% für das Allgemeinwohl aufgewendet wird.

 

Man kann auch diese Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe so verstehen, dass hier der Idealzustand umschrieben wird, auf den wir uns zu bewegen sollen, den man jedoch nie oder kaum je hundert prozentig erreichen wird. Es wird gezeigt, in welche Richtung man sich bewegen soll und dass man sich immer wiederum erneut darum bemühen sollte, sich diesem Idealzustand anzunähern, dass man also nie an das Ende der Bemühungen gelangen kann, von dem ab es nichts mehr Gutes zu tun gibt, da alles schon erreicht sei.

 

Bei unseren bisherigen Überlegungen haben wir die Forderung, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, in dem Sinne verstanden, dass Eigenliebe genauso groß sein müsse wie Nächstenliebe. Man kann jedoch das Gebot der Nächstenliebe auch weniger strikt auslegen. Die Betonung liegt dann nicht mehr auf dem Wörtchen ‚genauso‘, sondern es wird lediglich darauf hingewiesen, dass der Mensch bei seinem Handeln beide Aspekte, das eigene Wohl wie das Wohl der Gemeinschaft und der Mitmenschen zu beachten habe, ohne dass bereits eine Aussage darüber gemacht wird, in welchem quantitativen Verhältnis Eigenliebe und Nächstenliebe stehen sollten. Und sicherlich dürften in der Tat nahezu alle unsere Handlungen eben nicht nur unser Eigenwohl, sondern eben auch das Wohl anderer Menschen – positiv oder negativ – berühren.

 

Interessant bei der Betonung auf zwei Zielsetzungen (Eigenwohl und Wohl der anderen) ist offensichtlich die Feststellung, dass die Beachtung des Eigenwohls sehr wohl erwünscht oder erlaubt ist, dass also die Nachfolge Christi keinesfalls verlangt, dass man nur auf das Wohl der anderen achten solle und die eigenen Bedürfnisse soweit wie nur möglich zu unterdrücken habe.

 

Jesus selbst hat sehr wohl auch an Feierlichkeiten teilgenommen und damit sicherlich zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch sehr wohl das Recht hat, fröhlich zu sein und zu feiern und dass in Fröhlichkeit allein noch nichts sündhaftes liegt, wie einzelne christliche Sekten im Verlauf der Geschichte immer wieder gepredigt haben.

 

Eine solche die Fröhlichkeit bejahende Moral hat auch durchaus Sinn. Auf der einen Seite wird im Allgemeinen nur derjenige dem andern helfen und Freude bereiten können, der am eigenen Leib bereits Freude erfahren hat. Das Gebot der Nächstenliebe dürfte auch sehr viel leichter zu vermitteln sein, wenn der einzelne durchaus auch das Recht hat, für sein eigenes materielles Wohl zu sorgen, als dann, wenn er nur an das Wohl der andern zu denken hat.

 

Es ist auf der anderen Seite einfach wirklichkeitsfremd, wollte man erwarten, dass die Mehrzahl der Bevölkerung bei ihrem Tun immer nur das Allgemeinwohl im Auge hätte. Ein solcher Anspruch führt zumeist dazu, dass der einzelne nach außen heuchlerisch vorgibt, allein das Gemeinwohl im Auge zu haben, in Wirklichkeit aber sehr wohl fast nur an sein eigenes Wohl denkt. Wohltaten zeichnen sich dann in der Regel dadurch aus, dass sie zwar aus der Sicht des Spenders als wohltuend, aber aus der Sicht des Beschenkten als lästig, als eine die Freiheit beraubende Handlung angesehen werden.

 

Einem verwandten Begriff der Nächstenliebe begegnen wir bei Emanuel Kant im sogenannten kategorischen Imperativ. Kant versteht darunter ein unbedingt gültiges sittliches Gebot. Er stellt diesen Begriff in seiner ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ in Gegensatz zum hypothetischen Imperativ, einer Forderung, die nur unter gewissen Bedingungen postuliert wird. In der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ findet sich eine Definition des kategorischen Imperativs: ‚Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne‘.

 

Der einzelne hat sich also entsprechend diesem Prinzip bei all seinen Handlungen zu fragen, ob er sich gegenüber den anderen genauso verhält, wie er es selbst von anderen ihm gegenüber erwartet. Mit anderen Worten: Der Einzelne soll das Interesse seines Mitmenschen genauso bei seinen Aktivitäten berücksichtigen wie das eigene Interesse.

 

In ähnlichem Sinne lässt der Evangelist Lukas Jesus in Kapitel 6, Vers 27 – 36 im Zusammenhang mit der Feindesliebe sagen:

 

‚Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen‘.

 

 

8. Liebe den Nächsten, denn er ist wie du

 

Wir erwähnten bereits, dass der aramäische Bibeltext auch eine etwas andere Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe zulässt: ‚Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du‘. Der andere ist genauso wie ich ein Mensch und keine Sache und sollte deshalb auch niemals wie eine Sache behandelt werden. Anders formuliert: Ein Mensch sollte niemals nur als Mittel irgendeiner Zielsetzung behandelt werden. Er ist immer auch Selbstzweck.

 

Während bei der zuerst behandelten Interpretation auf die Beziehungen zwischen der Eigen- und der Nächstenliebe abgehoben wird, findet sich hier in dieser zweiten möglichen Interpretation eine Begründung für die Nächstenliebe.

 

Warum soll ich meinen Nächsten lieben? Als Antwort und Rechtfertigung wird darauf hingewiesen, dass er – der andere Mensch – ja wie du ist. Es wird hier offensichtlich darauf abgehoben, dass alle Menschen von Gott erschaffen wurden und dass Gott alle Menschen – gleich welcher Rasse oder welchen Geschlechts – gleich zugetan ist. Deshalb sollen sich auch die Menschen unter einander wie seines gleichen behandeln.

 

In der christlichen Philosophie wird der Mensch als persönliches Wesen gekennzeichnet. Damit sind insbesondere zwei Wesensmerkmale verbunden. Der Mensch ist auf der einen Seite – im Gegensatz zum Tier – ein Wesen, das über seine Belange weitgehend frei entscheiden kann. Er soll nicht zum Glauben und zur Gottes- und Nächstenliebe gezwungen werden. Es steht ihm frei, sich für Gott und für das Gute oder gegen Gott und für das Schlechte zu entscheiden.

 

Gleichzeitig ist der Mensch aber auch ein soziales Wesen, das nicht isoliert neben den anderen Menschen vor sich hinlebt, sondern in die Gemeinschaft hineingeboren wurde. Nur durch eine liebevolle Pflege seitens seiner Eltern kann der neugeborene Mensch überhaupt überleben und nur durch sie und später durch den Besuch der Schule lernt er überhaupt erst all die Verhaltensweisen, die er für sein späteres Leben unbedingt benötigt.

 

Genauso, wie der Mensch vor allem in seiner Kindheit, aber auch später in Notzeiten des anderen Menschen bedarf, genauso soll auch er die empfangene Liebe und Achtung weitergeben, an seine Ehegatten und an seine Kinder, an Nachbarn und Freunde, an Berufskollegen und an Verunglückte sowie Überfallene.

 

Der Fortschritt der Menschheit vollzog sich vor allem in der Gemeinschaft. Durch Arbeitsteilung konnte der Mensch sich spezialisieren und seine Fähigkeiten steigern. Arbeitsteilung setzt jedoch voraus, dass ein Austausch der Güter und Handlungen stattfindet. Wer sich spezialisiert, kann nicht mehr für seinen Gesamtbedarf aufkommen, er beschränkt sein Handeln auf die Erstellung weniger Güter und Leistungen, er bedarf also Güter und Leistungen, welche von andern erzeugt wurden. Andererseits stellt er sehr viel mehr Güter und Leistungen her als er für seinen Eigenbedarf benötigt, er erhält damit auch die Möglichkeit, selbst erstellte Waren im Austausch gegen Waren, die er benötigt, anderen anzubieten.

 

Das soziale Umfeld des Menschen beschränkt sich jedoch nicht darauf, in der Gemeinschaft der Familie und in den schulischen Einrichtungen auf das spätere Leben vorbereitet zu werden und später im Beruf innerhalb einer Unternehmung die materiellen Voraussetzungen für das wirtschaftliche Leben zu produzieren. Der Mensch ist vielmehr auch in kultureller und religiöser Hinsicht sozial eingebunden. In der Gemeinschaft beim Abendmahl erfährt er die Nähe Gottes. Im Matthäusevangelium Kapitel 18, Vers 20 erfahren wir:

 

‚Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen‘.

 

Der Sinn des menschlichen Lebens besteht also nach Überzeugung der christlichen Religionen nicht etwa in einer Maximierung der materiellen Wohlfahrt, überhaupt nicht in irdischen Dingen, sondern in einer Vorbereitung auf das Leben nach dem Tode. Das irdische Leben ist also eine Art Bewährungszeit, wobei die Bewährung darin besteht, dass man in Befolgung der Gebote Gottes in der Gemeinschaft der Christen denjenigen eine Hilfe gewährt, die der Hilfe bedürfen.

 

 

Fortsetzung folgt!