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Die Gleichnisse der Bibel
Gliederung:
Teil I
Problemeinführung
Teil II
Gleichnisse im Alten Testament
Teil III . Die Gleichnisse Jesu
1. Gottes- und Nächstenliebe
2. Weitere
Verhaltensanweisungen
3. Frage nach dem Lohn
4. Die Rolle des Menschensohns
5. Die Bedeutung des Bittens
6. Von der Verbreitung des Glaubens
Kapitel 3.
Gottes- und Nächstenliebe Forts.
Gliederung:
1. Problemeinführung
2. Die Lehre von der allein selig machenden Gnade
3. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
4. Auf welchen Begriff der
Liebe bezieht sich dieses Gebot?
5. Handelt es sich um ein neues Gebot?
6. Wer gilt als Nächster?
7. Liebe den Nächsten wie dich selbst.
8. Liebe den Nächsten, denn er ist wie du.
9. Hilfe für den in Not geratenen
10. Füge dem Mitmenschen keinen
Schaden zu.
11. Behandle deinen Mitmenschen
als freien Mitbürger.
12. Das Gebot der Feindesliebe
13. Halte auch die andere Wange
hin
14. Liebe versus ‚Do ut Des-Prinzip‘
9. Hilfe für den in Not geratenen.
Innerhalb des
Gebotes der Nächstenliebe können drei Teilaufgaben unterschieden werden und
zwar dass man erstens den Notleidenden Hilfe gewährt, dass man den Mitmenschen
zweitens keinen Schaden zufügt und dass man schließlich drittens bereit ist,
allen Mitmenschen einen persönlichen Freiheitsspielraum zu belassen. Wir wollen
uns im Folgenden mit diesen drei Teilaufgaben des Gebotes der Nächstenliebe
etwas ausführlicher befassen, wir beginnen mit der erstgenannten Teilaufgabe:
der Hilfe für Notleidende.
Wir haben bereits
gesehen, dass diese Hilfe allen in Not geratenen Menschen, denen man persönlich
begegnet, gewährt werden soll, unabhängig davon, ob sie zu den Verwandten und
Freunden zählen oder nicht und auch unabhängig davon, ob sie zum eigenen
Volksstamm zählen oder einer anderen Nation angehören, ja sogar auch gegenüber
den Feinden.
Wer gilt nun als in
Not geraten? Jesus selbst hatte im Gleichnis vom barmherzigen Samariter das
Beispiel des von Räubern verletzten Reisenden gewählt, der auf die Hilfe des
Samariters angewiesen war. Jemand wird unberechtigterweise von seinen
Mitmenschen angegriffen und kann sich nicht selbst erfolgreich wehren, es ist
klar, er bedarf der Hilfe der anderen. Es ist weiterhin klar, dass diejenigen,
die zugegen sind, den unberechtigten Angriff miterleben und die in der Lage
sind, Hilfe zu gewähren, auch tatsächlich helfen sollen.
Im Beispiel der von
Jesus erwähnten Hilfe erfolgt die Hilfe erst nachträglich, nach dem Überfall.
Die Hilfe besteht darin, dass der Samariter dem Überfallenen sozusagen erste
Hilfe leistet, ihn verbindet und versorgt und Geld zur Verfügung stellt, damit
der Verletzte wiederum zu Kräften kommt.
Eine solche Hilfe
kann natürlich nur derjenige leisten, der auch über die materiellen Mittel
verfügt, die er dem Überfallenen zur Verfügung stellen kann. Ein Vermögender
hat es hier leichter als ein Armer, der selbst der Hilfe bedarf und nicht über
die zum Überleben notwendigen materiellen Mittel verfügt. Aber auch der Ärmere
kann in unserem Beispiel durchaus Hilfe leisten, in dem er den Verletzten
verbindet oder in dem er Helfer herbeiruft.
Inwieweit eine
konkrete Hilfe sinnvoll ist, hängt dann von den näheren Umständen ab. Es gibt
Verletzungen, die nur von geschultem Krankenpersonal behandelt werden können oder
zumindest von Personen, die einen Erste Hilfe-Kurs absolviert haben. Es ja kann
z. B. für den Verletzten gefährlich sein, ihn zu bewegen oder in bestimmte
Stellungen zu bringen. Hier besteht die notwendige Hilfe weniger darin, den
Verletzten selbst zu versorgen, sondern berufene Helfer herbeizurufen.
Wie steht es aber
mit der Hilfe dann, wenn die ‚Nächsten‘ beim Überfall zugegen sind? Sind sie
verpflichtet, dem Überfallenen zu Hilfe zu kommen und den Angreifer selbst
anzugreifen? Die Antwort hängt sicherlich entscheidend davon ab, ob der
Zuschauende überhaupt in der Lage ist, sich erfolgreich gegen die Angreifenden
zu wehren.
Im Einzelfall kann
die Gefahr bestehen, dass der Angriff eskaliert, vor allem dann, wenn die
Angreifenden über Schusswaffen verfügen und androhen, diese einzusetzen und
wenn anderseits diejenigen, die zu Hilfe eilen wollen, weder über geeignete
Waffen verfügen noch darin geübt sind, mit diesen Waffen erfolgreich umzugehen.
Hier kann ein Stillhalten und der Versuch, Hilfe von außen (z. B. von der
Polizei) herbeizurufen – sofern dies überhaupt möglich ist –, sehr viel
hilfreicher sein als ein aktives Zurückdrängen der Angreifer.
Not, die Hilfe
erfordert, liegt natürlich nicht nur dann vor, wenn jemand überfallen und
verletzt wurde. Ein Mensch kann aus den unterschiedlichsten Gründen in Not
geraten und der Hilfe bedürfen. Selbst physische Not, welche Leib und Leben
betreffen und die menschliche Existenz berühren, kann nicht nur daher rühren,
dass der Nächste von einem Mitmenschen angegriffen wurde.
Vor allem auch
natürliche Ereignisse können ohne Zutun von Menschen Not auslösen. So kann
jemand ernstlich erkranken und nur durch menschliche Hilfe überleben. Hierbei
ist einmal daran zu denken, dass der Kranke der tatkräftigen Hilfe einer
ärztlichen Fachkraft bedarf. Diese Hilfe kann zumeist nur von einer solchen
Fachkraft ausgeübt werden und wird gerade deshalb nicht von jedem einzelnen
gefordert. Trotzdem kann Krankheit zahlreiche Hilfeleistungen erfordern,
angefangen von der Betreuung und Tröstung von Kranken.
Gerade das
Stichwort ‚Tröstung‘ macht deutlich, dass Hilfe nicht nur dann notwendig wird,
wenn jemand im physischen Sinne in Not gerät. Die Not, die eine Hilfe
erforderlich macht, kann auch im geistigen oder seelischen Bereich liegen.
Jemand kann
aufgrund menschlicher Schicksalsschläge am Leben verzweifeln, weil z. B. die
Eltern ihr Kind oder die Kinder ihre Eltern verloren haben, weil kriegerische
Handlungen oder Naturkatastrophen oder schlichtweg nur der alltägliche
Wettbewerb im Beruf alles vernichtet hat, was man in mühseliger, langfristiger
Arbeit aufgebaut hat. Eine seelische Not setzt hier nicht unmittelbar voraus,
dass der Betroffene durch diese Ereignisse verarmt ist und materieller Hilfe
bedarf. Er ist unter Umständen aufgrund der Schicksalsschläge verbittert oder
verzweifelt, hat unter Umständen sogar den Willen zum Weiterleben verloren und
ist selbstmordgefährdet und zweifelt vielleicht am Sinn des Lebens.
Hier ist eine Hilfe
notwendig, die sich eben gerade nicht auf die materielle Gabe beschränkt, die
sich darum bemüht, den Lebenswillen zu stärken und wiederaufzubauen. Zu dieser
Art seelischer Hilfe kann auch zählen, jemanden, der aufgrund seiner
Schicksalsschläge den Glauben an Gott verloren hat und nun ein Gespräch sucht,
durch persönliche Gespräche zu Hilfe zu kommen.
Notwendige
Hilfeleistungen bezogen wir bisher immer auf Angriffe, welche von privaten
Verbrechern wie z. B. von Räubern ausgingen. Wie steht es jedoch mit der
geschuldeten Hilfe, wenn einzelne Personen aufgrund von Angriffen staatlicher
Organe belangt werden. Hier dürfte die richtige Antwort nicht in einem einfachen
‚Ja‘ oder ‚Nein‘ liegen.
Noch relativ
einfach dürfte die Beantwortung der Frage sein, wenn eine Bevölkerung aufgrund
von Angriffen feindlicher Staaten Not erleidet. Hier ist sicherlich genauso
Hilfe gefordert, als wenn die Not von privaten Mitmenschen ausginge.
Schwieriger ist die
Beantwortung der Frage, wenn einzelne Bürger von den Staatsorganen verfolgt
werden und wenn ihnen Leid zugefügt wird. Hier kommt es entscheidend darauf an,
ob der Staat Personen verfolgt, welche allgemeine Straftaten wie Mord, Raub,
Entführungen begangen haben. Hier ist es die berechtigte Aufgabe des Staates,
die Verbrecher dingfest zu machen, einmal um die Verbrecher einer gerechten
Strafe zuzuführen, zum andern – vor allem bei Serienmördern – weitere
Straftaten zu verhindern. Hier wäre eine Hilfeleistung Dritter – vor allem
dann, wenn sie die Verhaftung der Verbrecher verhindern hilft – nicht nur nicht
geboten, sondern auch nicht zulässig. Ganz im Gegenteil wird von den einzelnen
Bürgern erwartet, dass sie – falls notwendig – zur Verhaftung dieser Verbrecher
gegebenenfalls durch aktives Handeln beitragen.
Hilfe dürfte jedoch
aus christlicher (religiöser) Verantwortung erlaubt, ja gefordert sein, wenn
der Staat selbst wiederum mit seiner Verfolgung verbrecherische Akte begeht und
Grundrechte eines jeden Menschen verweigert, also z. B. Personen wegen ihrer
Religion oder Rasse (wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer
Volksgemeinschaft) verfolgt und foltert und diese Personen einer Freiheitsberaubung
aussetzt.
Doch liegen die
hier angesprochenen Zusammenhänge nicht so einfach, dass man jede Verfolgung,
die in einem Rechtsstaat erfolgt, für berechtigt und jede andere Verfolgung,
die von gewaltsamen Diktaturen ausgehen, als unerwünscht ansehen kann. Auch in
Rechtsstaaten kann der Fall eintreten, dass Verfolgungen unberechtigt erfolgen
und dass einzelne Staatsbeamtete widerrechtlich handeln, genauso, wie auch in
Diktaturen von privaten Personen Verbrechen begangen werden, die verfolgt
werden müssen.
Im Einzelfall
dürfte es eine sehr schwierige Entscheidung des Gewissens jedes einzelnen sein,
in welchen Fällen bei Verfolgungen von Seiten der Staatsorgane Hilfestellungen
erlaubt oder geboten erscheinen. Auch dürfte die Beantwortung dieser Frage
davon abhängen, in welchen Beziehungen verfolgte Straftäter und Dritte stehen.
Man wird sicherlich z. B. von einer Mutter nicht verlangen können, dass sie bei
der Verhaftung ihres Sohnes oder ihrer Tochter aktiv mitwirkt und wird ihr
dann, wenn sie den Versuch unternommen hat, eine Verhaftung ihres Kindes zu
verhindern, zumindest mildernde Umstände zusprechen und eine Verfolgung der
Eltern aussetzen.
Wieweit Dritte
aufgefordert sind, nicht berechtigte Verfolgungen zu verhindern und
Hilfestellungen zu leisten, hängt weiterhin entscheidend davon ab, inwieweit
diese Dritten überhaupt physisch und psychisch in der Lage sind, erfolgreich Gefahr
von Bedrohten abzuwenden. Eine Hilfe und ein Einschreiten sind sicherlich dort
nicht gefordert, wo aufgrund der Übermacht des Angreifenden jede Hilfe erfolglos
wäre.
Auch wird man zur
Kenntnis nehmen müssen, dass manche Menschen sehr furchtsam veranlagt sind und
sich aus diesen Gründen nicht in der Lage sehen, helfend einzuspringen. Auch
Petrus hatte bekanntlich Jesus aus Angst verleugnet. Zwar ist jeder aufgerufen,
unberechtigte Angst zu überwinden. Wieweit dies jedoch dem einzelnen gelingt,
hängt ganz entscheidend einmal von der persönlichen Konstitution und von seiner
vergangenen Erziehung ab, zum andern auch von den zu erwartenden negativen
Konsequenzen, die der Hilfeleistende zu befürchten hat. Deshalb dürfte das
Unterlassen einer geforderten Hilfeleistung selbst wiederum je nach
Ausgangsituation sehr unterschiedlich beurteilt werden.
10. Füge dem Mitmenschen keinen Schaden zu.
Die zweite
Teilaufgabe des Gebotes der Nächstenliebe besteht in der Forderung, dem
Mitmenschen, dem Nächsten, keinen Schaden zuzufügen. Wie bereits erwähnt, hat
Jesus das Gebot der Nächstenliebe zusammen mit dem Gebot der Gottesliebe als
Zusammenfassung der zehn Gebote Gottes angesehen. Diese verlangen unter
anderem, dass man nicht stehlen und töten solle, dass man die Ehe nicht brechen
solle, dass man nicht den Besitz des Nachbarn begehren solle und dass man kein
falsches Zeugnis gegen Mitmenschen äußern dürfe. Alle diese aufgezählten Gebote
haben gemeinsam, dass es verboten ist, anderen Menschen Schaden zuzufügen.
Zwischen der
Forderung, dem Nächsten keinen Schaden zuzufügen und der anderen Forderung, dem
Nächsten zu helfen, wenn dieser in Not ist, besteht ein innerer Zusammenhang.
Je mehr dem Gebot entsprochen wird, dem andern keinen Schaden zuzufügen, um so
weniger bedürfen Mitmenschen der Hilfe. Es ist sicherlich besser, wenn den
Mitmenschen überhaupt erst kein Schaden zugefügt wird, als das man zulässt,
dass Menschen ihren Mitmenschen Schaden zufügen und dann diesen Schaden dadurch
mildert, dass man für die Geschädigten Hilfe einfordert.
Die Wohlfahrt einer
Gemeinschaft ist auf jeden Fall größer, wenn Schaden überhaupt vermieden wird,
als dann, wenn den Geschädigten geholfen wird. Der potenziell Geschädigte
stellt sich besser, da eine noch so großherzige und allumfassende Hilfe nicht
in der Lage ist, den Schaden vollständig zu kompensieren, zumindest verbleibt
eine psychische Belastung bestehen. Diejenigen, welche aufgefordert sind zu
helfen, müssen in diesem Falle insgesamt weniger Hilfe leisten und damit ihre
eigenen Bedürfnisse reduzieren.
Nun können wir
nicht erwarten, dass allein das Gebot, dem Nächsten keinen Schaden zuzufügen,
ausreicht, um allen Mitmenschen gerecht zu werden. Auf der einen Seite haben
wir bereits gesehen, dass Menschen nicht nur dadurch in Not geraten können,
dass sie von ihren Mitmenschen angegriffen werden. Auch Krankheit,
Naturkatastrophen und andere persönliche Schicksalsschläge können Not
verursachen und Hilfe notwendig machen. Auf der anderen Seite können wir auch
nicht erwarten, dass Gebote von allen eingehalten werden. Stets wird es
Menschen geben, die Gebote übertreten. Deshalb muss die Forderung, Mitmenschen
keinen Schaden zuzufügen, immer auch ergänzt werden durch die Forderung, den
dennoch in Not geratenen Menschen zu helfen.
Gilt nun das Gebot,
dem Nächsten keinen Schaden zuzufügen, auch für den Staat? Wir haben bereits im
vorhergehenden Abschnitt gesehen, dass der Staat sehr oft – in Diktaturen in
der Regel, aber bisweilen auch in den Rechtsstaaten – unberechtigterweise
Gewalt gegen einzelne Bürger anwendet. Auf der anderen Seite hat jedoch jeder
Staat für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung Sorge zu tragen und dies ist
nur möglich, wenn der Staat gegen diejenigen, die das Recht brechen, Strafen
androht und diese gegebenenfalls auch mit Einsatz von Gewalt durchzusetzen
versucht.
Hier wird zwar
gegen einzelne, welche gegen das Gesetz verstoßen, Gewalt verübt. Im
Allgemeinen dient jedoch gerade dieser Gewalteinsatz dazu, größere Gewalt zu
verhindern. Die Androhung von Strafen schafft einen Anreiz, Straftaten zu
vermeiden. Diese Abschreckungswirkung ist vor allem dort zu erwarten und auch
berechtigt, wo Serien- und Auftragsmorde vorliegen, wo also Verbrechen geplant
werden, um über verbrecherische Aktivitäten die eigene Wohlfahrt zu steigern.
Kritischer ist die
Frage zu beantworten, inwieweit auch bei Beziehungstaten Abschreckung
erfolgreich ist. Hier ist die Straftat oftmals das Ergebnis eines eskalierenden
Prozesses von Demütigungen und Mobbings und erfolgt zumeist spontan aufgrund
von Kurzschlusshandlungen. Die Tat ist dann oftmals verständlich und nur eine
Gegenreaktion gegen zahlreiche Belästigungen und Beschädigungen seitens des
Opfers der nun vorliegenden Straftat. Die in einer Wohlfahrtsminderung
bestehende Strafe ist bereits vor der Tat eingetreten. Dies bedeutet natürlich
nicht, dass die Straftat geduldet werden kann, trotzdem wird auch dann, wenn
objektiv gesehen die gleichen Strafmerkmale vorliegen, eine wesentlich mildere
Strafe angezeigt sein.
Im Zusammenhang mit
wirtschaftlichen Problemen wird auch in der Verminderung von Nutzen ein
Wohlfahrtsverlust und Schaden gesehen. Gilt das Gebot, den Mitmenschen keinen
Schaden zuzufügen, auch für Nutzenminderungen aufgrund wirtschaftlicher
Transaktionen?
Die hier zugrunde liegenden
Zusammenhänge sind recht kompliziert. Die wirtschaftlichen Aktivitäten werden
durch die Knappheit materieller Güter bestimmt. Der Vorrat der materiellen
Güter ist fast immer begrenzt und geringer als der Bedarf nach diesen Gütern.
Dies bedeutet jedoch, dass immer dann, wenn eine Person mehr materielle Güter
eines bestehenden Güterbestandes in Anspruch nimmt, notwendigerweise andere
Personen weniger von diesen Gütern erhalten können. Damit treten jedoch immer
dann, wenn bestimmte Personen ihren Anteil an einem gegebenen Güterbestand
vergrößern, bei anderen Wirtschaftssubjekten Wohlfahrtsverluste auf, diese
erleiden dann einen Schaden. Eine Wohlfahrtsmehrung des einen führt nur dann
nicht zu einem Wohlfahrtsverlust eines anderen, wenn der gesamte Güterbestand
vergrößert wird.
Der Markt löst das
allgemeine Knappheitsproblem über das Preissystem. Die Preise steigen, wenn die
Knappheit zunimmt, sie fallen hingegen dann, wenn die Knappheit zurückgeht oder
sogar Überfluss besteht. Preisvariationen führen somit stets zu
Wohlfahrtsverlusten einer Marktseite. Steigen die Preise, so können die
Haushalte weniger Gütermengen für das vorgegebene Einkommen nachfragen, die
Unternehmungen als Anbieter verbessern allerdings ihren Erlös und damit auch
ihren Gewinn. Umgekehrt gilt, dass Preissenkungen das Realeinkommen der
Haushalte erhöhen, die Gewinnlage der Unternehmungen jedoch verschlechtern.
Wollte man nun
wegen dieser partiellen Wohlfahrtsverluste, die stets einige Marktteilnehmer
erleiden, die Preise festfrieren und keine Preisänderungen zulassen, würden
entscheidende Aufgaben jedes Marktes vernachlässigt. Preisvariationen haben in
einer Marktwirtschaft die Funktion, die Knappheit zu überwinden.
Preisvariationen spiegeln die Knappheitsverhältnisse wieder.
Steigen die Preise,
weil ein bestimmtes Gut knapp geworden ist, so trägt die Preissteigerung dazu
bei, auf der einen Seite die Anbieter anzuregen, mehr von diesem Gut
anzubieten, auf der anderen Seite enthält die gleiche Preissteigerung für die
Nachfragenden einen Anreiz, ihr Einkommen vermehrt für andere Güter zu
verwenden, also die Nachfrage von diesem Gut abzuziehen.
Die Knappheit wird
auf diese Weise auf zweierlei Weise verringert, einmal dadurch dass das Angebot
steigt, zum andern dadurch, dass die Nachfrage sinkt. Die Preissteigerung mag
zwar für die Nachfrager schmerzhaft sein, sie trägt jedoch dazu bei, die
Knappheit so schnell wie möglich zu überwinden, genauso, wie z. B. das Fieber
für den Betroffenen ebenfalls schmerzhaft ist, aber ebenso dazu beiträgt, die
Krankheit so schnell wie möglich zu beenden.
Wollten wir die
Preise einfrieren, so würde die Knappheit bestehen bleiben. Da letztendlich die
Preisänderungen lediglich die Änderungen in den Knappheitsverhältnissen
widerspiegeln, würden auch bei konstant bleibenden Preisverhältnissen
Wohlfahrtsverluste eintreten, denn es ist die Knappheit, welche diese Verluste
verursacht, die Preissteigerung zeigt sie nur an.
Veränderungen in
den Knappheitsverhältnissen sind jedoch immer zu erwarten, wenn sich der Bedarf
im Zeitablauf wandelt oder wenn neue Produktionstechniken oder Güter entwickelt
werden. Aber gerade diese Änderungen sind der Garant für eine Verbesserung in
den materiellen Verhältnissen.
Wenn also
Preisvariationen in einer Marktwirtschaft durchaus notwendig sind, so heißt
dies auf der anderen Seite keinesfalls, dass jede Preissteigerung (Variation)
erwünscht ist. Damit nämlich die Preisverhältnisse die Knappheit auch realistisch
anzeigen können, bedarf es gewisser Voraussetzungen.
Die Preisverhältnisse
spiegeln nur dann die Knappheit der Güter wieder, wenn auf allen Märkten
vollständiger Wettbewerb zwischen den Unternehmungen vorherrscht. Hat ein
Unternehmer eine Monopolstellung inne, so kann er sein Angebot künstlich
verknappen und auf diesem Wege die Preise unberechtigt anheben. Hier fügt der
Unternehmer dem Nachfragenden in der Tat einen Wohlfahrtsverlust (und damit
Schaden) zu, der nicht durch die realen Knappheitsverhältnisse gerechtfertigt
ist.
Nun haben wir davon
auszugehen, dass die Wirtschaftspolitik für einen Wettbewerb auf den Märkten zu
sorgen hat und dass bei Erfolg dieser Politik diese funktionslosen
Preissteigerungen gar nicht zu befürchten sind. Wir können aber nicht davon
ausgehen, dass es der Politik stets gelingt, auf allen Märkten Wettbewerb zu
garantieren, sodass in der Realität immer wieder die Möglichkeit zu
ungerechtfertigten Preissteigerungen besteht.
Hier verlangt das
Gebot, dem Mitmenschen keinen Schaden zuzufügen, dass Unternehmer auch dann,
wenn sie aufgrund monopolistischer Verhältnisse in der Lage sind, die Preise
stärker anzuheben als es volkswirtschaftlich notwendig ist, auf diese
Möglichkeiten verzichten, genauso wie von einem Unternehmer verlangt wird, auf
Täuschung, Erpressung und anderen ungesetzlichen Handlungen auch dann zu
verzichten, wenn sie durch diese Aktivitäten ihren Gewinn erhöhen könnten.
Von kommunistischer
Seite wird die Vorstellung entwickelt, dass Einkünfte, die nicht auf Arbeit
zurückgeführt werden könnten, ungerechtfertigt seien, dass gewinnbringendes
Eigentum eigentlich einen Diebstahl an der Bevölkerung darstelle. Diese
Vorstellung verkennt, dass die Produktivität und damit die Wohlfahrt der
Gemeinschaft eben gerade auch durch den Einsatz von Kapital gesteigert werden
kann und dass dann, wenn Kapital in Händen privater Unternehmungen liegt, die
Chance für einen effizienten Einsatz des Kapitals sehr viel größer ist als bei
einer staatlich Planwirtschaft.
Der
Wettbewerbsmarkt führt dazu, dass die Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital)
zu ihren Grenzerträgen entlohnt werden und dies bedeutet, dass die Einkommen
der einzelnen dem Beitrag entsprechen, den sie zum Inlandsprodukt beitragen.
Der Umstand, dass ein Unternehmer deshalb, weil er Erfolg versprechend sein
Kapital einsetzt, auch ein überaus hohes Einkommen erzielt, sagt noch nichts
darüber aus, dass dieses Einkommen ungerechtfertigt hoch ist und nur durch
Wohlfahrtsverluste bei den Arbeitnehmer entstanden ist.
Wenn es einem
Unternehmer gelingt, durch seine Aktivitäten das Inlandsprodukt enorm zu
steigern und damit die Wohlfahrt der Bevölkerung zu mehren, ist aus Gründen der
Gerechtigkeit nichts dagegen einzuwenden, dass er auch entsprechend seinem
Beitrag zum Inlandsprodukt ein besonders hohes Einkommen erzielt, mag die
Einkommenshöhe noch so sehr vom eingegangen Arbeitsleid abweichen.
Ungerechtfertigt sind Einkommen unabhängig von ihrer Höhe nur dann, wenn die
Einkommenssteigerungen aufgrund monopolistischer Praktiken entstanden sind.
11. Behandle deinen Mitmenschen als freien Mitbürger.
Wir hatten oben
gesehen, dass in der Übersetzung aus der aramäischen Bibel das Gebot der
Nächstenliebe damit begründet wird, dass wir den Nächsten achten (lieben)
sollen, da er genauso sei wie wir. Alle Menschen sind danach Geschöpfe Gottes
und in dieser Eigenschaft gleich und Gott hat den Menschen als sein Ebenbild
erschaffen.
Dies will vor allem
heißen, dass der Mensch einen freien Willen hat, wir können uns für Gott und
das moralisch Gute entscheiden, also das Gebot der Gottesliebe und das Gebot
der Nächstenliebe aus freien Stücken befolgen oder aber wir können uns auch für
das Böse und gegen Gott entscheiden. Gott hat uns diese Freiheit belassen und
er will auch, dass wir uns freiwillig für ihn und für das Gute entscheiden und
nicht dass wir zum Glauben und zu den guten Taten gezwungen werden.
Wir werden nicht
bereits dadurch im moralischen Sinne gut, dass uns Einkommensteile auf dem Wege
von Steuern entzogen werden und mit einem Teil dieser Steuern dann den
Notleidenden geholfen wird. Eine kollektive Hilfe mag im Einzelfall durchaus
erwünscht und sogar notwendig sein, das Gebot der Nächstenliebe richtet sich
aber in allererster Linie an den Einzelnen. Dieser Freiheitsanspruch gilt also
im Hinblick auf das Gebot der Nächstenliebe zunächst in dem Sinne, dass wir aus
freien Stücken dem Nächsten eine Hilfe gewähren und darauf verzichten, dem
andern zu schaden.
Dieser
Freiheitsanspruch gilt aber nicht nur gegenüber dem Helfenden, sondern
gleichermaßen auch gegenüber demjenigen, dem geholfen werden soll. Hilfe besteht
nicht nur darin, dass die materielle Not des Hilfebedürftigen gelindert wird.
Die Hilfe sollte auch so erfolgen, dass sie auch vom Notleidenden akzeptiert
werden kann, ohne dass er sich der Hilfsbedürftigkeit schämen muss.
Hilfe kann nämlich
auch so gewährt werden, dass sie den Notleidenden erdrückt, dass sie den
Freiheitsspielraum des Beschenkten zu sehr einengt, sodass sich der Beschenkte
gedemütigt fühlen muss. Wer Behinderte genau beobachtet, stellt immer wieder
fest, dass sie sehr oft auf gut gemeinte Hilfestellungen ärgerlich reagieren
und zum Ausdruck bringen, dass sie die alltäglichen Handlungen soweit wie immer
nur möglich selbst verrichten möchten, auch dann, wenn diese Verrichtungen
oftmals nur beschwerlich durchgeführt werden können.
Das wenigste, was
diese Behinderten wünschen, ist eine Mitleidshaltung der Helfenden. Es ist
sicherlich für den Notleidenden im Allgemeinen nicht erwünscht, ständig von den
Mitmenschen daran erinnert zu werden, dass sie behindert sind. Sie wollen keine
Almosenempfänger sein, denen in jedem
Augenblick verdeutlicht wird, dass der Hilfe stellende den besseren Teil
erhalten hat und dass sich der Hilfesuchende unterzuordnen hat und übermäßig
dankbar sein muss aus Gründen, die er ja zumeist gar nicht zu vertreten hat. Er
hofft vielmehr auf eine leise, nicht mit lautem Getue angebotene Hilfe.
Gerade aus diesen
Gründen fordert die christliche Soziallehre, dass sich Hilfe – wenn immer nur
möglich – auf eine Hilfe zur Selbsthilfe beschränkt. Es ist nicht primäres oder
zumindest nicht einziges Ziel, die Not des Betroffenen – ohne dessen Zutun – zu
beseitigen. Das vorrangige Ziel besteht vielmehr darin, den Notleidenden in die
Lage zu versetzen, sich selbst aus der Not zu befreien, bzw. zumindest mit zu
helfen, dass die Not überwunden wird.
Hilfe zur
Selbsthilfe liegt z. B. darin, dass der Staat dem in Not geratenen Starthilfen
gewährt, aufgrund derer der einzelne in die Lage versetzt wird, sich selbst aus
der Not zu befreien. Es sind in der Regel gar nicht so sehr verlorene Zuschüsse
notwendig, sondern eher Kredite, wobei die Hilfe dann darin bestehen kann, dass
z. B. diese Kredite zinsvergünstigt oder sogar zinslos gewährt werden oder dass
Bürgschaften geleistet werden, welche die sonst fehlenden von den Banken
verlangten Sicherheiten ersetzen helfen.
Hilfe zur
Selbsthilfe kann auch – um ein zweites Beispiel zu bringen – bedeuten, dass
einem Arbeitslosen vorrangig nicht nur durch Gewährung eines Arbeitslosengeldes
geholfen wird, sondern primär dadurch, dass ihm bei der Arbeitsplatzsuche
geholfen wird oder dass die Gemeinden im Rahmen eines zweiten Arbeitsmarktes
Arbeitsplätze anbieten, um den Arbeitslosen in der Zeit Arbeit zu geben, bis
dieser auf dem regulären Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz gefunden hat.
Es ist klar, dass
ein solches Modell eines sekundären Arbeitsmarktes nur unter bestimmten
Bedingungen funktionieren kann. So müssen die Bezahlung und die übrigen
Arbeitsbedingungen weniger günstiger als auf dem regulären Arbeitsmarkt
ausfallen, da sonst die Gefahr besteht, dass der sekundäre Markt immer mehr den
regulären Arbeitsmarkt verdrängt mit der Folge, dass die für die Realisierung
des Sozialstaates notwendige Finanzierung nicht mehr gesichert ist.
Man kann diesen
Gedanken dann weiterführen und das Ziel verfolgen, den einzelnen in die Lage zu
versetzen, dass er überhaupt in möglichst geringem Maße in Not gerät. Nehmen
wir das Beispiel der Arbeitslosigkeit, die zu den häufigsten Ursachen zählt,
die zu einer Not führen. Wenn wir dafür Sorge tragen, dass der einzelne gar
nicht arbeitslos wird, dann haben wir – wenn wir in diesen Bemühungen
erfolgreich waren – auch gleichzeitig dafür Sorge getragen, dass die einzelnen
in viel geringeren Fällen in Not geraten und deshalb der Hilfe der andern
bedürfen. Es kommt nicht primär darauf an, dass materielle Not gemildert wird,
sondern dass Zustände geschaffen werden, aufgrund derer die Wahrscheinlichkeit
reduziert wird, aufgrund der Wechselfälle des Lebens in Not zu geraten.
Natürlich ist dies
in erster Linie eine Aufgabe, die vom Staat oder der Gemeinschaft angegangen
werden muss, es obliegt dem Staat, dafür Sorge zu tragen, dass auch jeder
Arbeitsfähige und Arbeitswillige einen Arbeitsplatz findet. Trotzdem kann auch
jeder einzelne zu der Erfüllung dieser Aufgabe beitragen. Nehmen wir den Fall,
dass Arbeitnehmer arbeitslos werden, weil bestimmte Waren angeblich aufgrund
eines Lohndumpings im Ausland wesentlich billiger hergestellt werden können.
Nicht immer erfordert
die Rentabilität einer Unternehmung, dass Arbeitsplätze deshalb ins Ausland
verlegt werden und inländische Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren. Es
ist oftmals für einen Unternehmer durchaus möglich, denn Wettbewerb mit Waren
aus dem Ausland dadurch zu gewinnen, dass man die Qualität der angebotenen
Produkte verbessert und den Bedürfnissen der Konsumenten anpasst.
Genauso hat sich
der Konsument zu fragen, ob er tatsächlich seinen Nutzen dadurch erhöht, dass er
stets die billigsten Waren kauft und nicht berücksichtigt, dass dem höheren
Preis der im Inland erzeugten Waren auch eine höhere Qualität und auch
bisweilen ein geringeres Risiko entspricht. Man muss sich darüber im Klaren
sein, dass die Unternehmer dann, wenn sie Produktionen ins Ausland verlegen,
dies zumeist deshalb tun, weil die Konsumenten die im Ausland produzierten
billigeren Waren bevorzugen.
Die Verantwortung
für die so entstehende Arbeitslosigkeit haben deshalb nicht nur die
Unternehmer, sondern zum Teil auch die Konsumenten. Dabei geht es nicht darum,
entgegen seinem eigenen Interesse stets Waren zu kaufen, die im Inland
produziert wurden, auch dann, wenn diese Waren wesentlich teurer angeboten
werden. Schließlich trägt der internationale Handel auch dazu bei, dass auch
Arbeitnehmer in den Entwicklungsländern Arbeit finden können.
Bei unseren
bisherigen Überlegungen haben wir uns darauf beschränkt zu überprüfen,
inwieweit die Hilfe gegenüber Notleidenden unter Umständen dem Freiheitsanspruch
des Beschenkten zuwiderläuft. Wir haben jedoch bereits gesehen, dass eine
zweite Teilaufgabe des Gebotes der Nächstenliebe darin besteht, dem Nächsten
keinen Schaden zuzufügen.
Als Schaden muss
jedoch auch angesehen werden, wenn dem einzelnen Bürger nicht der ihm
zustehende Freiheitsspielraum belassen wird. Eine Wirtschaftsordnung, in der
eine staatliche Planbehörde alle wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen,
angefangen von der Berufswahl, über die Auswahl eines geeigneten
Arbeitsplatzes, weiterhin der Entscheidung für eine Wohnung bis hin zu der
Verwendung des Einkommens dem einzelnen vorschreibt, verletzt in gravierender
Weise die Freiheitsrechte der Betroffenen und fügt ihnen somit Schaden zu.
Dies bedeutet
natürlich nicht, dass der Staat alle wirtschaftlichen Entscheidungen seiner
Bürger dulden muss, es gibt immer wiederum Fälle, bei denen bestimmte
Entscheidungen dem Gesamtwohl der Gesellschaft so stark schaden, dass der Staat
bestimmte Entscheidungen verbieten muss. Denken wir z. B. an den Waffen- oder
Drogenhandel. Wichtig in diesem Zusammenhang ist allein, dass die Menschen nur
dann menschenwürdig leben können, wenn es einen bestimmten Raum gibt, innerhalb
der der einzelne frei entscheiden kann, auch dann, wenn andere der Meinung
sind, dass diese Entscheidung auch für den Betroffenen falsch sei. Es gibt auch
die Freiheit, Fehler zu machen.
12. Das Gebot der Feindesliebe
Befassen wir uns
schließlich mit dem Gebot der Feindesliebe. Im Matthäusevangelium Kapitel 5,
Vers 43 heißt es:
‚Ihr habt gehört,
dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben (3.Mose 19,18) und deinen
Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die
euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt
seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und
Ungerechte‘.
Jesus bezieht sich
hierbei auf das 3. Buch Moses, auf Levitikus Kapitel 19, Vers 18:
‚An den Kindern
deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr‘.
In diesem Text wird
zwar nicht davon gesprochen, dass die Feinde gehasst werden sollen oder
zumindest dürfen. Trotzdem entsprach es weitgehendem Selbstverständnis der
Juden, die Feinde zu verfolgen, zu hassen und ihnen Schaden zuzufügen. Im Psalm
139,21f. heißt es z. B.:
‚Soll ich die nicht
hassen, Herr, die dich hassen, die nicht verabscheuen, die sich gegen dich
erheben? Ich hasse sie mit glühendem Hass; auch mir sind sie zu Feinden
geworden‘.
Und lesen wir nicht
wiederholt im Alten Testament, dass Gott seine Feinde vernichtete und sollte es
den Menschen als Ebenbilder Gottes deshalb nicht auch erlaubt sein, Ihre Feinde
zu hassen und zu verfolgen? Im Deuteronomium 28,7 lesen wir:
‚Der Herr stößt die
Feinde, die sich gegen dich erheben, nieder und liefert sie dir aus. Auf einer
Straße ziehen sie gegen dich aus, auf sieben Straßen fliehen sie vor dir‘,
und bei Micha 5,8
heißt es:
‘Du wirst die Hand gegen
deine Feinde erheben und alle deine Gegner werden ausgerottet‘.
Somit scheint es,
dass zumindest das Gebot der Feindesliebe im Gegensatz zum Gebot der
Nächstenliebe im engeren Sinne von Jesus als ein neues Gebot eingeführt wurde.
Wir haben allerdings oben gesehen, dass das Gebot der Nächstenliebe damit
begründet wird, dass wir alle von Gott geschaffen und in dem Sinne gleich sind.
Diese Begründung gilt natürlich für alle Menschen, also auch für unsere Feinde.
In diesem Sinne
müsste eigentlich auch die Feindesliebe unter das Gebot der Nächstenliebe
fallen und die von Jesus geforderte Feindesliebe wäre ebenfalls bereits im
Alten Testament verankert. Das Alte Testament unterscheidet nämlich deutlich
zwischen den feindlichen Völkern, welche Gott und das auserwählte Volk der
Juden bekämpfen, hier wird stets darum gebeten, dass Gott diese Feinde
vernichte. Ganz anderes gilt jedoch für den persönlichen Feind des Einzelnen.
Hier lesen wir bereits im Alten Testament:
‚Wenn du dem
verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier
zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Gegners unter der Last
zusammenbricht, dann lass ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!‘
(Exodus, Kapitel 23, 3-5)
‚Einen Fremden
sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist;
denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.‘(Exodus Kapitel 23,8-9)
‚Freu dich nicht
über den Sturz deines Feindes, dein Herz juble nicht, wenn er strauchelt.‘
(Sprüche Kapitel 24,17)
‚Hat dein Feind
Hunger, gib ihm zu essen, hat er Durst, gib ihm zu trinken; so sammelst du
glühende Kohlen auf sein Haupt und der Herr wird es dir vergelten.‘ (Sprüche
Kapitel 25,21-22)
‚Wenn ich am
Unglück meines Feinds mich freute und triumphierte, dass Unheil ihn traf – habe ich doch meinem Mund zu sündigen
verboten, sein Leben mit Fluch zu verwünschen.‘ (Hiob Kapitel 31,29-30)
Der Unterschied
zwischen dem Alten und dem Neuen Testament bestünde also in der Frage der
Feindesliebe weniger darin, dass das Alte Testament einen Feindeshass, das Neue
Testament hingegen die Feindesliebe gebietet, sondern eher darin, dass Jesus
die Feindesliebe stärker betonte als dies im Alten Testament geschah.
Fragen wir uns nun
weiter, wer denn als unser Feind zu gelten habe. Zwei Antworten sind möglich.
Es kann erstens an die persönlichen Feinde im Alltagsleben gedacht sein, also
z. B. an konkurrierende Unternehmer oder Arbeitnehmer, an rivalisierende
Parteien oder schließlich an die alltäglichen Streitigkeiten zwischen Nachbarn.
Zweitens kann hier jedoch auch das Verhalten gegenüber den Mitgliedern anderer
Volksstämme angesprochen sein, mit denen unsere Volksgemeinschaft in
kriegerischen Auseinandersetzungen steht.
Im 6. Kapitel des
Lukasevangeliums sagt Jesus unter anderem:
‚Ihr aber sollt
eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür
erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten
sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen‘.
Dieser Passus deutet
darauf hin, dass Jesus in erster Linie an die persönlichen Feinde im
Zusammenhang mit der Forderung nach Feindesliebe denkt.
Es fällt immerhin
auf, dass Jesus in diesem Zusammenhang nicht von den damaligen Feinden der
Juden, nämlich den Römern, der damaligen Besatzungsmacht Israels gesprochen
hat, obwohl die Römer zur Zeit Jesu die eigentlichen nationalen Feinde der
Juden waren, die sie unterjocht hatten und deshalb von den Juden auch in
besonderem Maße gehasst wurden. Die Erwartungen der damaligen Juden an den
Messias bestanden ja gerade darin, dass sie von dem Joch der Römer befreit
werden, dass also die Römer vernichtend geschlagen werden.
Natürlich bedeutet
dies nicht, dass nach christlicher Auffassung nationale Feinde gehasst und deshalb
auch vernichtet werden dürften (sollten). Nach christlicher Überzeugung – aber
nicht nur nach ihr – sind kriegerische Auseinandersetzungen nur in
Ausnahmefällen erlaubt, dann nämlich, wenn feindliche Staaten ein Volk
überfallen und dieses Volk nur dadurch seine Existenz retten kann, dass es sich
mit Waffengewalt zur Wehr setzt. Nach christlicher Überzeugung sind Angriffskriege
immer unerwünscht, selbst dann, wenn die feindlichen Regierungen den Geboten
Gottes zuwiderhandeln.
Heilige Kriege in
diesem Sinne entsprechen nicht der christlichen Lehre, wonach Gott dem Menschen
die Freiheit gelassen hat, sich für ihn oder gegen ihn zu entscheiden. Gott
wünscht, dass sich der Mensch freiwillig für ihn entscheidet und nicht dass er
über eine kriegerische Unterwerfung zum Glauben gezwungen werde.
Fragen wir uns im
Weiteren, in welchen Handlungen sich die Feindesliebe äußert. Im 6. Kapitel
Vers 27 – 36 des Lukasevangeliums spricht Jesus von der Vergeltung und von der
Liebe zu den Feinden:
‘Euch, die ihr mir
zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet
die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich
auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den
Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir
jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet,
das tut ebenso auch ihnen‘.
13. Halte auch die
andere Wange hin
Besondere Beachtung
dieser Bibelstelle erfuhr hierbei die Forderung, ‚dem, der dich auf die eine
Wange schlägt, halt auch die andere hin‘. (Lukas Kapitel 6,29) Wir wollen uns
mit dieser Forderung etwas ausführlicher befassen. Sie hat aus mehreren Gründen
Widerspruch erfahren.
Als erstes kann man
feststellen, dass sich die Menschen im Allgemeinen nicht nach dieser Maxime
verhalten. Dies gilt gleichermaßen für das Verhalten der einzelnen Menschen
untereinander, also für persönliche Feindschaften wie auch für die Beziehungen
feindlicher Völker. Es wird davon gesprochen, dass sich allenfalls Heilige in
dieser Weise verhalten und dass man von normalen Menschen nicht erwarten könne,
dass sie sich entsprechend dieser Maxime verhalten.
Zweitens wird in
der öffentlichen Diskussion im Allgemeinen – vor allem auch im Völkerrecht –
davon ausgegangen, dass die Menschen auch das Recht haben, sich zu verteidigen,
sich also zu wehren und zurückzuschlagen, wenn sie angegriffen werden. Auch
diese Überzeugung gilt sowohl für die persönlichen Beziehungen einzelner
Menschen zueinander wie für die Beziehungen feindlicher Völker zueinander, wenn
auch in Beziehung zu den persönlichen Feinden der einzelne nicht das Recht
selbst in die Hand nehmen darf.
Drittens lässt sich
auch zeigen, dass ein wehrhaftes Verhalten dazu beiträgt, Gewalt unter den
Menschen zu reduzieren. Die Bereitschaft, sich zu wehren und sich nicht alles
gefallen zu lassen, führt im Allgemeinen dazu, dass der Erfolg des Angreifers
verringert wird und dass gerade der Umstand, dass der Angreifer über das
wehrhafte Verhalten der Angegriffenen Bescheid weiß, diesen davon abhält, einen
Angriff zu wagen.
Diese Beweisführung
mag zwar auf den ersten Blick überzeugend erscheinen, sie ist jedoch nur unter
bestimmten Annahmen gültig. Zu den wichtigsten Annahmen dieser Beweisführung,
die zumeist stillschweigend gemacht werden, zählt die Annahme, dass sich beide
Konfliktparteien rational verhalten und dass der Angreifer das Ziel verfolgt,
seinen Reichtum und seinen Einfluss zu vergrößern, während der Angegriffene
seine Unabhängigkeit verteidigt und bemüht ist, sowenig wie möglich materielle
Einbußen zu erfahren. Es wird weiterhin unterstellt, dass die Konfliktparteien
über das Verteidigungs- bzw. Angriffspotenzial und darüber hinaus über das
Verhalten des Gegners informiert sind.
Unterstellen wir
diese Annahmen, dann wird der Angegriffene – bevor er sich zur Wehr setzt –
überdenken, ob seine Verteidigung erfolgreich sein kann. Wenn die Übermacht des
Feindes überwältigend ist, wenn fest damit gerechnet werden muss, dass der
Angegriffene schließlich eine Niederlage hinnehmen muss, gleichgültig ob er
Widerstand leistet oder nicht, dann ist es entsprechend diesem Kalkül auch für
den Angegriffenen zweckmäßig, auf Widerstand zu verzichten, mag er noch so sehr
im Recht sein und der Angriff dem Völkerrecht bei nationalen
Auseinandersetzungen oder der allgemeinen Rechtslage bei persönlichen
Streitigkeiten entsprechen.
Der Verzicht auf
einen bewaffneten Widerstand bringt nämlich dem Angegriffenen einen zweifachen
Vorteil. Auf der einen Seite hat er ohne Widerstand geringere Verluste an
Menschenleben und Besitz zu beklagen, da nahezu jeder Widerstand dazu führt,
dass Menschen getötet und dass materielle Ressourcen vernichtet oder
aufgebraucht werden.
Auf der anderen
Seite kann der Unterlegene damit rechnen, dass er dann, wenn er auf den
Widerstand verzichtet, bei den Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen
auch bessere Bedingungen erreichen kann. Der Angreifer wird nämlich ebenfalls
dann, wenn es zu Kämpfen kommt, im Allgemeinen Verluste an Menschen und
Material erleiden.
Er wird sich also
dann, wenn er seine Angriffsziele auch ohne Kampf erreichen kann, besser
stellen. Die Aussicht, die Angriffsziele ohne kriegerischen Einsatz, also mit
geringeren Kosten lediglich auf dem Verhandlungsweg zu erreichen, macht es auch
für den potenziellen Angreifer vorteilhaft, dem Feind gewisse Zugeständnisse zu
machen für den Fall, dass dieser sich ohne Gegenwehr ergibt.
Für den Angreifer gilt,
dass sich nicht jeder Angriff lohnt. Wenn sich die Angegriffenen wehren und die
Verteidigungsmacht groß ist, so besteht die Gefahr, dass der Angreifer
geschlagen wird und damit das Ziel des Angreifers verfehlt wird. Da jeder
Angriff auch für den Angreifer mit hohen Verlusten an Menschenleben und an
materiellen Ressourcen verbunden ist, wird ein rational handelnder Politiker
nur dann zum Angriff übergehen, wenn er davon überzeugt ist, dass er reelle
Chancen zum Siegen hat.
Er wird also auf
einen Angriff verzichten, wenn er entweder befürchten muss, im Kampf nicht
erfolgreich zu sein, also besiegt zu werden oder wenn die Kosten, die eine
kriegerische Auseinandersetzung mit sich bringt, höher veranschlagt werden als
die Wohlfahrtsmehrung, die sich der Angreifer mit seinem Angriff erhofft.
Hierbei kann die Wohlfahrtsmehrung einmal darin bestehen, dass der Angreifer
Zugriff auf materielle Ressourcen erhält, zum andern aber auch darin, dass er
das Verhalten des unterlegenen Staates beeinflussen kann und damit in Zukunft
jene Aktivitäten des anderen verhindern kann, die seine eigene Wohlfahrt
beeinträchtigen.
Wir können also
festhalten, dass der Versuch der potenziell Angegriffenen, sich zur Wehr zu
setzen und eine Verteidigungsmacht aufzubauen, nicht nur dazu beiträgt, dass
Angriffe abgewehrt werden können, sondern auch, dass es insgesamt zu einer
geringeren Zahl von Angriffen kommt und damit letzten Endes die Wohlfahrt
beider Konfliktparteien erhöht wird.
Die in diesem
Modell unterstellten Annahmen entsprechen jedoch keinesfalls immer der
Wirklichkeit. Es gibt mehrere Gründe dafür, dass sich bei konkreten
Auseinandersetzungen die Konfliktparteien nicht immer in diesem Sinne rational
verhalten.
Als erstes muss
bezweifelt werden, ob die Konfliktpartner in jedem Falle die Informationen über
ihre Gegner besitzen, die notwendig sind, sich im obengenannten Sinne rational
zu verhalten. Wiederholt hat sich im Verlaufe der Geschichte der Aggressor
maßlos überschätzt und Angriffe begonnen, obwohl bei rationaler Überlegung es
eigentlich hätte klar sein müssen, dass der Angriff erfolglos bleiben wird.
Zweitens sind bei
feindlichen Auseinandersetzungen immer auch Emotionen im Spiel, welche ein
rationales Kalkül unterbinden. Gerade die Tatsache, dass bei der kriegerischen
Auseinandersetzung Menschen verletzt und getötet werden, bringt es mit sich,
dass die Gegner gehasst werden und dass man auf Rache sinnt und auch dann zum
Gegenangriff ‚bläst‘, wenn ein solcher Angriff irrational erscheint und die
eigenen Erfolgsaussichten verschlechtert.
Es kommt dann sehr
leicht zu einer Spirale der Gewalt. Ein erster Schlag hat zu Menschenverlusten
geführt, die geschlagene Seite schlägt zurück. Um gegenüber dem Angreifer einen
Anreiz zu setzen, in Zukunft auf weitere Angriffe zu verzichten, wird in
stärkerem Maße zurückgeschlagen, als eigene Verluste zu beklagen waren. Auch
diese Gegenangriffe werden durch weitere erneut verstärkte Gewalttaten
beantwortet.
Es wird dabei außer
Acht gelassen, dass die Angriffe des Verteidigers nur aus einer Reaktion auf
die anfänglichen Übergriffe des Angreifenden zustande kamen. Es kommt dann sehr
schnell zu einem Zustand, bei dem gar nicht mehr klar ist, wer den anderen
angreift, wer sich nur verteidigt. Auch dann, wenn bei rationaler Überlegung
den Konfliktparteien klar würde, dass es in beiderseitigen Interesse der
Konfliktparteien läge, den gegenseitigen Kampf zu beenden, ist keine Partei
bereit, den ersten Schritt zu wagen, weil dieser leicht als Schwäche eingestuft
wird und auf diese Weise die Gefahr mit sich bringt, dass bei zukünftigen
Verhandlungen derjenige den Kürzeren zieht, der diesen ersten Schritt wagt.
Selbst dann, wenn
sich beide Seiten aus einem rationalen Kalkül heraus zu einer Beendigung der
kriegerischen Auseinandersetzungen und zu Verhandlungen bereit finden, besteht
immer noch die Gefahr, dass dieser Einigungsprozess schnell wiederum beendet
wird, da es immer kleine terroristische Gruppen gibt, die gar nicht an der
Einigung interessiert sind und die auf eine Zerstörung aller überkommenen
Ordnungen aus sind. Es ist also dann immer zu befürchten, dass einige kleine
terroristische Gruppen erneut Angriffe durchführen und dass sich dann auch die
rational denkenden Politiker gezwungen sehen, diese Angriffe erneut durch
Gegenangriffe zu beantworten.
Im Allgemeinen wird
man unterstellen können, dass gute Politiker durchaus Herr ihrer Emotionen
sind, dass sie ihre Ziele nicht durch Ausbruch von Emotionen verraten.
Emotionen werden von Politikern vielmehr oftmals lediglich dafür eingesetzt, um
ihre Ziele besser zu erreichen und ihre eigenen Landsleute zu dem Kampf mit dem
Feind zu verpflichten. Sie spielen mit den Emotionen ihrer Untergegebenen wie
auf einem Klavier.
Es ist jedoch zu
befürchten, dass sie die Emotionen ihrer Untergebenen dann nicht mehr zügeln
können, wenn ein rationales Handeln eine Beendigung der kriegerischen
Handlungen nahelegt. Es besteht dann die Gefahr, dass sie gegen besseres Wissen
mit den kriegerischen Handlungen fortfahren müssen, da sie sonst die Kontrolle
über ihre eigenen Landleute verlieren würden und diese eine friedfertige
Politik nicht verstehen.
Rationales Handeln
im oben definierten Sinne liegt auch bei den religiös motivierten
Selbstmordattentätern keinesfalls vor. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass
der Tod zumindest der eigenen Landsleute als größter Verlust angesehen wird und
dass deshalb im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen das Ziel
verfolgt wird, solche Verluste zu vermeiden oder wo dies nicht möglich ist, so
klein wie möglich zu halten. Die Selbstmordattentäter stürzen sich jedoch
selbst in den Tod. Sie können auf diese Weise nicht nur ihr Ziel, den Gegner zu
vernichten besser erreichen, sie werden auch gegenüber den Feinden
unangreifbar. Die Gegenseite kann nun nicht mehr darauf bauen, dass ihr Feind
alles tun wird, um eigene Menschenverluste zu vermeiden und deshalb auch zu
einem Nachgeben gezwungen werden kann, wenn solche Verluste vermieden werden
könnten.
Die Belohnung,
welche den Selbstmordattentätern für solche Taten versprochen wird, bezieht
sich nicht mehr auf irdische Güter und auf persönliche Freiheiten. Es wird
ihnen vorgegaukelt, dass Gott selbst zu diesen Taten aufgerufen habe, es sei
ein heiliger Krieg gegen die Ungläubigen und die Belohnung der Täter bestehe darin,
dass sie unmittelbar nach ihrem Tod in den Himmel aufgenommen würden.
Rationales
Verhalten im obengenannten Sinne kann unter diesen Voraussetzungen nicht mehr
erwartet werden. Es wird deshalb auch fragwürdig, ob eine bloße Gegenwehr gegen
diesen Terror dazu beiträgt, die Terroristen dazu zu bewegen, den Angriff zu
beenden.
Natürlich
widerspricht ein terroristisches Verhalten diametral den Geboten Gottes. Und
dies gilt nicht nur im Hinblick auf christliche Religionen. Da Gott gerecht und
barmherzig ist, wird er niemals das Abschlachten von unschuldigen Menschen, vor
allem von Kindern gutheißen, terroristische Akte sind das Gegenteil dessen, was
in den Geboten der Nächstenliebe einschließlich der Feindesliebe gefordert wird
und solche Handlungen ausgerechnet im Namen Gottes zu verüben, ist wohl die
größte Beleidigung Gottes, die man sich vorstellen kann.
Heilige Kriege
wurden im Mittelalter auch im Namen des christlichen Gottes angezettelt, heute
werden Angriffskriege aller Art von allen christlichen Kirchen – mit Ausnahme
einiger radikaler Sekten – eindeutig
verurteilt; leider wird auch heute noch im Namen des islamischen Gottes
zumindest vereinzelt von islamischen Religionsführern und Politikern zu
heiligen Kriegen aufgerufen.
Die moderne
Konflikttheorie hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Innenverhältnis
zwischen Führen und Geführten auch das Konfliktverhalten nach außen
mitbestimmt. Besteht die Gefahr, dass aufgrund innerer Konflikte die Gefolgschaft
in Frage gestellt wird, brechen die Führer oftmals einen äußeren Konflikt vom
Zaun, um von den inneren Schwierigkeiten abzulenken. Es besteht zumeist
Einigkeit darüber, dass dann, wenn eine Gemeinschaft von außen bedroht wird,
innere Zwistigkeiten zu schweigen hätten.
Wenn aber innere
Schwierigkeiten zum Ausbruch von kriegerischen Handlungen mit Nachbarvölkern
führen können, kann nicht mehr damit gerechnet werden, dass auf feindliche
Angriffe dann verzichtet wird, wenn sie bei rationaler Überlegung dem
angreifenden Staat per Saldo Wohlfahrtsverluste bringen. Das Wohl der
Gemeinschaft spielt dann in dem Kalkül der Herrschenden eine geringere Rolle,
entscheidend ist dann vielmehr, ob die Herrschenden darauf hoffen, durch
Ausbruch kriegerischer Handlungen nach außen ihre Position im eigenen Land zu
stärken.
Bei der Bewertung
und Auslegung der Aufforderung, auch die andere Backe hinzuhalten, sollten wir
uns darüber hinaus auch an das erinnern, was wir bereits weiter oben im
Zusammenhang mit der Bedeutung der Gleichnisse festgestellt haben. Wir haben
dort gesehen, dass bestimmte Feststellungen nicht wörtlich auszulegen sind,
dass also z. B. die Aussage, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe als
ein Reicher ins Himmelreich, sicherlich nicht so zu verstehen ist, dass es
einem Reichen vollkommen unmöglich ist, ins Himmelreich einzugehen. Es sollte
eben nur darauf hingewiesen werden, dass es für einen Reichen außerordentlich
schwer ist, sich stets moralisch richtig zu verhalten. Es entspricht
orientalischer Denkweise und auch der Intention von den in der Bibel erzählten
Gleichnissen, dass der Grundgedanke pointiert hervorgehoben und zugespitzt
formuliert wird, um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Übertragen auf die
Forderung, auch die andere Backe hinzuhalten, bedeutet es sicherlich nicht, dass
die Christen aufgefordert sind, sich bei jedem Angriff wehrlos zu ergeben oder
auch wegzulaufen und sich zu verkriechen. Wer seinem Gegner die andere Backe
hinhält, läuft aber auch gerade nicht weg, er stellt sich, er beschämt unter
Umständen den Angreifenden, in dem er durch sein Verhalten das Unrecht des
Angreifenden für alle deutlich macht. Gleichzeitig stellt die Aufforderung
einen Weg dar, wie man bei kriegerischen Auseinandersetzungen aus dem oben
geschilderten Zirkel der Eskalation der Gewalt wiederum ausbrechen kann.
14. Liebe versus ‚Do
ut Des-Prinzip‘
Das in dem Gebot
der Nächsten- und Feindesliebe geforderte soziale Verhalten wird von Jesus
selbst in Gegensatz zu einem Verhalten gestellt, das dem ‚Do ut Des-Prinzip‘
entspricht. Bei dem Do ut Des-Prinzip entsprechen sich Leistung und
Gegenleistung. Der einzelne hat einen Anspruch darauf, von seinem Partner
genauso viel als Gegenleistung zu erhalten, wie er selbst dem Partner an Leistung
gebracht hat. Bei wirtschaftlichen Handlungen sprechen wir hierbei vom
Leistungsprinzip, wonach eine gerechte Entlohnung immer dann gegeben ist, wenn
der Preis für die angebotene Leistung dem Beitrag zum Inlandsprodukt und damit
der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsvermehrung entspricht.
Auch innerhalb der
Rechtsordnung begegnen wir diesem Prinzip. Hat ein Bürger eine Straftat
begangen, so soll er in dem Umfang, in dem er das Wohl anderer Menschen
verletzt hat, bestraft werden. Diesem Grundgedanken begegnen wir bereits im
Alten Testament, im 2. Buch Moses, im Exodus, Kapitel 19 Vers 23-25 heißt es:
‚Entsteht ein
dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um
Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um
Wunde.‘
Das Gebot der
Nächsten- und der Feindesliebe wird von Jesus deutlich vom diesem Prinzip
abgehoben. So spricht Jesus im 6. Kapitel des Lukasevangeliums:
‚Wenn ihr nur die
liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben
die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch
Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn
ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen
Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles
zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und
leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt‘.
Während also nach
dem ‚do ut des Prinzip‘ Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem und zwar in
möglichst gleichem Umfang entgolten wird, wird im Rahmen der Nächsten- und
Feindesliebe ganz im Gegensatz hierzu die Forderung erhoben, Böses mit Gutem zu
vergelten und Gutes auch dort zu tun, wo wir keine Gegenleistung erwarten
können. Wenn jemand einem anderen gegenüber etwas Gutes getan hat, so soll er
nicht erwarten, dass dieser andere ihm dies wiederum zurückzahle. Wenn der
andere ihm Unrecht getan hat und Schaden zugefügt hat, so soll er ihm
verzeihen.
Allerdings erwartet
Jesus nicht, dass der einzelne nicht doch für seine guten Taten einen Lohn zu
erwarten hat, die Belohnung erfolgt allerdings nicht im irdischen Leben,
sondern erst nach dem Tode und der Auferstehung im himmlischen Reich. Bei Lukas
heißt es:
‚Dann wird euer Lohn
groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein‘. (Lukas Kapitel 6,35)
Und als
Rechtfertigung für die Forderung nach diesem altruistischen Verhalten wird
gesagt:
‚Denn auch er
(Gott) ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch
euer Vater ist‘. (Lukas Kapitel 6,35-36)
Es gibt also sehr
wohl auch bei der Befolgung der Nächstenliebe letztendlich eine Belohnung,
nämlich im Himmel. Wir sollten nur nicht für jede einzelne gute Tat eine
Belohnung unmittelbar danach erwarten. Das Prinzip der Nächstenliebe besteht
also dann nicht darin, dass die Aufrechnung für jedes einzelne Handeln erfolgt,
sondern darin, dass jeder soviel gibt wie er kann und immer dann, wenn ein
Mitmensch der Hilfe bedarf. In dieser Forderung werden alle gleich behandelt.
Nun wird man die
Forderung nach Nächsten- und Feindesliebe sicherlich nicht so verstehen dürfen,
dass Jesus das in der Realität praktizierte Prinzip des ‚Do ut des‘ ersetzen
und abschaffen wollte. Man wird eher davon sprechen können, dass das Prinzip
des ‚Do ut des‘ durch das Gebot der Nächstenliebe einschließlich der
Feindesliebe ergänzt werden sollte, genauso wie Gott nicht nur gerecht ist und
den Bösen bestraft, sondern auch barmherzig ist und dem Sünder verzeiht und
zwar nicht nur einmal oder zweimal, sondern immer wieder.
Auch von den
Menschen verlangt Jesus, dass wir unseren Mitmenschen vergeben und nicht nur
ein- oder zweimal. Bei Matthäus 18, 21 lesen wir:
‚Da trat Petrus zu
ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt,
vergeben? Genügt es siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht
siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal‘.
Und dies bedeutet
natürlich, dass wir unseren Mitmenschen immer wieder vergeben sollen.
(In diesem Kapitel
wurden Ausschnitte aus meinem Internet-Artikel Nächstenliebe übernommen.)