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Berühmte Irrtümer Teil II

 

 

Gliederung:

 

  1. Inflation Voraussetzung für Konjunkturbelebung?

  2. Macht Reichtum wirklich glücklich?

  3. Sicherheit durch Überwachung und korrektes Verhalten?

  4. Moralisches Handeln stets im Interesse jedes einzelnen?

  5. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand

  6. Lügen haben kurze Beine

  7. Abschreckungsstrategie verhindert Atomkrieg?

  8. Rationale Entscheidung stets besser als Intuition?

  9. Bilder lügen nicht

10. Wo Rauch, da Feuer

11. Angriff ist die beste Verteidigung

12. Recht auf Waffe erhöht die Sicherheit

 

Kapitel 5: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand

 

 

Gliederung:

 

1. Das Problem

2. Annahme der Vollkommenheit der Politiker

3. Schnelllebigkeit der heutigen Welt

4. Das Problem der negativen Sekundärwirkungen

5. Eigener Erfolg abhängig vom Verhalten anderer

6. Pluralistische Gesellschaft

 

 

1. Das Problem

 

Im Mittelalter herrschte die Vorstellung vor, dass derjenige, dem Gott ein Amt gegeben hat, auch über den notwendigen Verstand verfüge, den er benötigt, um dieses Amt sachgerecht auszuführen. Man könnte auch noch hinzufügen, dass der Amtsinhaber auch über die moralischen Qualitäten verfüge, um gerecht gegen alle Untergebenen vorzugehen. Das Vorbild für einen gerechten Fürsten war dann z. B. Salomon, dem – folgt man dem Text des Alten Testamentes – ein besonders weiser Richterspruch nachgesagt wurde.

 

Im ersten Buch der Könige Kapitel 3 lesen wir unter der Überschrift: das salomonische Urteil:

 

16 ‚Damals kamen zwei Dirnen und traten vor den König.

17 Die eine sagte: Bitte, Herr, ich und diese Frau wohnen im gleichen Haus, und ich habe dort in ihrem Beisein geboren.

18 Am dritten Tag nach meiner Niederkunft gebar auch diese Frau. Wir waren beisammen; kein Fremder war bei uns im Haus, nur wir beide waren dort.

19 Nun starb der Sohn dieser Frau während der Nacht; denn sie hatte ihn im Schlaf erdrückt.

20 Sie stand mitten in der Nacht auf, nahm mir mein Kind weg, während deine Magd schlief, und legte es an ihre Seite. Ihr totes Kind aber legte sie an meine Seite.

21 Als ich am Morgen aufstand, um mein Kind zu stillen, war es tot. Als ich es aber am Morgen genau ansah, war es nicht mein Kind, das ich geboren hatte.

22 Da rief die andere Frau: Nein, mein Kind lebt und dein Kind ist tot. Doch die erste entgegnete: Nein, dein Kind ist tot und mein Kind lebt. So stritten sie vor dem König.

23 Da begann der König: Diese sagt: Mein Kind lebt und dein Kind ist tot! und jene sagt: Nein, dein Kind ist tot und mein Kind lebt.

24 Und der König fuhr fort: Holt mir ein Schwert! Man brachte es vor den König.

25 Nun entschied er: Schneidet das lebende Kind entzwei und gebt eine Hälfte der einen und eine Hälfte der anderen!

26 Doch nun bat die Mutter des lebenden Kindes den König – es regte sich nämlich in ihr die mütterliche Liebe zu ihrem Kind: Bitte, Herr, gebt ihr das lebende Kind und tötet es nicht! Doch die andere rief: Es soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es!

27 Da befahl der König: Gebt jener das lebende Kind und tötet es nicht; denn sie ist seine Mutter.

28 Ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie schauten mit Ehrfurcht zu ihm auf; denn sie erkannten, dass die Weisheit Gottes in ihm war, wenn er Recht sprach.‘

 

Obwohl – wie wir gleich sehen werden – die Welt sich in der Zwischenzeit so entscheidend gewandelt hat, dass diese Feststellungen für die heutige Zeit aus mehreren Gründen nicht mehr gelten, verhalten sich die Politiker auch heute noch im Allgemeinen so, als hätte sich gegenüber dem Mittelalter nichts Entscheidendes ereignet, als sei auch heute noch in der Politik das Wichtigste, dass sich die Politiker für das Gute entscheiden und sich moralisch einwandfrei – nicht nur im öffentlichen, sondern auch im persönlichen Bereich – verhalten.

 

Der Politiker habe zu erkennen, welche öffentlichen Angelegenheiten nicht befriedigend geregelt sind, welche Ungerechtigkeiten bestehen – wobei es hier stets auf der Hand liegt, worin die Ungerechtigkeit liegt – und er müsse den Mut haben, diese Ungerechtigkeiten dadurch abzuschaffen, dass er per Gesetz diese verbietet. Und er könne dies auch dadurch, dass er auf die Rezepte zurückgreift, welche sich in der Vergangenheit bewährt haben.

 

 

2. Annahme der Vollkommenheit der Politiker

 

Aber eine solche Betrachtungsweise entspricht schon lange nicht mehr aus einer Vielzahl von Gründen den heutigen Gegebenheiten.

 

Als erstes müssen wir in Erinnerung rufen, dass nahezu kein Mensch vollkommen in dem Sinne ist, dass er stets genau das tut, was er eigentlich tun müsste, um sicherzustellen, dass sein Handeln auch zum vollen Erfolg führt.

 

Nehmen wir das Beispiel des Autofahrens. Wenn sich jeder Autofahrer an die Verkehrsregeln in jedem Augenblick halten würde und wenn darüber hinaus auch eindeutige Verkehrsregeln erlassen würden, welche festlegen, welcher Verkehrsteilnehmer jeweils die Vorfahrt besitzt, dürften sich eigentlich auch keine Unfälle im Straßenverkehr ereignen. Trotzdem finden in Wirklichkeit zahlreiche Unfälle statt.

 

Und dieser Tatbestand hat es weniger damit zu tun, dass ein großer Teil der Autofahrer gar nicht bereit ist, die Verkehrsregeln zu beachten. Vielmehr ereignen sich die meisten Unfälle dadurch, dass einige wenige Sekunden Unaufmerksamkeit ausreichen, um unter Umständen einen schweren Unfall auszulösen.

 

Ein Autofahrer mag noch so sehr die Geschwindigkeitsbegrenzungen einhalten und auch in 99,9 % der gefahrenen Zeit die Straße vor ihm im Auge behalten, es reicht eine Sekunde der Unaufmerksamkeit aus und schon kann er unter Umständen einem plötzlich auftretenden Gegenstand nicht mehr rechtzeitig ausweichen.

 

Die überwiegende Mehrheit der Bürger ist durchaus willig, die Verkehrsregeln zu beachten und auch in der Lage, im Allgemeinen unfallfrei zu fahren, trotzdem ist der Mensch keine Präzisionsmaschine, welche in jedem Einzelfall fehlerfrei handelt. Und selbst dieses Beispiel entspricht nicht ganz der Sachlage, da es ja auch keine hundertprozentige Sicherheit bei Maschinen gibt. Die Maschinen sind nur im Allgemeinen treffsicherer als die Menschen, die sie bedienen.

 

Eine hundertprozentige Sicherheit weisen auch die Maschinen nicht auf. Die Maschinen wurden von Menschen konstruiert und hierbei können den Konstrukteuren Fehler unterlaufen, es kann weiterhin eine Materialmüdigkeit auftreten oder der Strom, welcher für das Laufen der Maschinen notwendig ist, kann Schwankungen unterliegen und auf diese Weise zeitweise zu einem Versagen der Maschine führen.

 

Und diese allgemeine Unsicherheit gilt natürlich nicht nur für das Verhalten des ‚einfachen‘ Volkes, sondern auch bei den  Führungskräften sind diese Mangelerscheinungen vorhanden, die Menschen sind eben ganz allgemein – mit ganz wenigen Ausnahmen – unvollkommen.

 

 

3. Schnelllebigkeit der heutigen Welt

 

Als zweites gilt es daran zu erinnern, dass wir im Verhältnis zum Mittelalter in einer schnelllebigen Welt leben. Unsere heutige Welt ist dadurch geprägt, dass aufgrund permanenter Veränderungen vor allem in der Technik der Produktion die Produktionsverhältnisse einem sehr schnellen Wandel unterliegen.

 

Natürlich fanden auch im Mittealter Veränderungen statt, diese entwickelten sich jedoch relativ langsam, mit der Folge, dass sowohl bei wirtschaftlichen wie auch politischen Aktivitäten im Allgemeinen auf die bisherigen Erfahrungen zurückgegriffen werden konnte.

 

Die Jugendlichen wurden im väterlichen Betrieb beschäftigt und der Vater konnte diese in die alltäglichen Arbeiten einweisen, alle Techniken, welche der Vater von seinem Vater erlernt hatte, waren auch jetzt noch gültig.

 

Auch im politischen Bereich galt, dass die Erfahrungen, welche man in der jüngsten Vergangenheit gemacht hatte, auch in der Gegenwart übernommen werden konnten. War man z. B. bei der Bekämpfung einer Seuche in der Vergangenheit erfolgreich, konnte man dieses Rezept auch in der Gegenwart mit Erfolg einsetzen, man benötigte zur Lösung der heutigen Probleme kein neues, zusätzliches Fachwissen.

 

Gegenüber früher ist in dieser Frage ein wesentlicher Wandel eingetreten. Für die wirtschaftlichen Verhältnisse gilt erstens, dass ein Großteil der Eltern über keine eigene Unternehmung verfügt und dass die Eltern deshalb auch ihre Kinder nicht mehr in die berufliche Arbeit einführen können. Selbst dort, wo die Eltern noch einen eigenen Betrieb leiten, ist es heutzutage nicht mehr selbstverständlich, dass die Kinder den elterlichen Betrieb übernehmen. Ergreifen sie aber einen anderen Beruf, so sind die Eltern auch nicht in der Lage, ihre Kinder in die ganz andere berufliche Arbeit einzuweisen.

 

Aber selbst dann, wenn die Jugendlichen den elterlichen Betrieb weiterführen, kann heutzutage nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Techniken, welche ihre Eltern einmal in der Vergangenheit erlernt haben, auch heute noch zeitgemäß sind. Die Eltern wären in diesen Fällen überfordert, ihren Kindern das notwendige berufliche Wissen beizubringen. Weder hätten sie selbst das heute notwendige Wissen früher erlernt, noch könnte man davon ausgehen, dass ihr allgemeines Wissen ausreicht, um dieses ihren Kindern zu vermitteln.

 

Diese Entwicklung brachte es mit sich, dass das Erlernen des beruflichen Wissens außerfamiliären Einrichtungen, wie allgemeinen Schulen und speziellen Ausbildungseinrichtungen, übertragen werden musste.

 

Während es zunächst Aufgabe dieser Schulen war, das Wissen zur Verfügung zu stellen, das für das spätere Leben, vor allem für den Beruf notwendig war, ist aufgrund des rapiden Wandels in der Technik auch in dieser Hinsicht ein Wandel eingetreten.

 

Es kommt nun nicht mehr in erster Linie darauf an, dass in diesen Bildungseinrichtungen konkretes Einzelwissen vermittelt wird, das unmittelbar im Beruf und im täglichen Leben eingesetzt werden kann. Oftmals ist das auf den Schulen erlernte Wissen bereits veraltet, wenn das berufliche Leben beginnt. Es ist aber auch gar nicht mehr notwendig, dass Faktenwissen erlernt wird, da man sich heutzutage Faktenwissen jederzeit aus dem Internet besorgen kann.

 

Statt Fakten zu erlernen, kommt es in den Bildungseinrichtungen immer mehr darauf an, das Lernen als solches zu lernen, also die Fähigkeit zu dränieren, neue Probleme zu erkennen und hierzu auch neue, bisher unbekannte Lösungsmöglichkeiten zu eruieren.

 

Ähnliches gilt auch für den politischen Bereich. Auch hier können wir nicht mehr davon ausgehen, dass Lösungen, die in der Vergangenheit zum Erfolg geführt haben, auch bei den heute auftretenden Problemen erfolgreich sind, auch hier müssen wir uns stets um neue Lösungsmöglichkeiten bemühen.

 

Dieser Wandel bringt es nun mit sich, dass vor jeder neuen Problemlösung als Erstes eine Ursachenanalyse notwendig wird. Probleme lassen sich auch nicht dadurch lösen, dass man einfach die als richtig empfundene Lösung per Gesetz verordnet. Ein solcher Weg führt nur in den seltensten Fällen zu einer befriedigenden Lösung.

 

Nur dann, wenn die Ursachen eines Übels bekannt sind, kann man auch Maßnahmen finden, welche eine dauerhafte Lösung herbeiführen.

 

 

4. Das Problem der negativen Sekundärwirkungen

 

Weiterhin ist davon auszugehen, dass es in der Realität kaum Maßnahmen gibt, welche keine unerwünschten Nebenwirkungen haben. Dies hängt damit zusammen, dass es in unserer modernen Gesellschaft eine Vielzahl von Verknüpfungen gibt, welche es automatisch mit sich bringen, dass jeder Eingriff in unsere Verhältnisse nicht nur Auswirkungen auf unser eigenes Wohl hat, sondern gleichzeitig die Belange Anderer positiv oder negativ berührt.

 

So mag z. B. eine individuelle Handlung einer Person A Rückwirkungen auf das Wohl einer anderen, benachbarten Person B haben. Diese wird auf diese Veränderungen reagieren und auf diesem Wege versuchen, die durch die Handlungen der Person A hervorgerufenen Minderungen im Wohlfahrtsniveau soweit wie möglich rückgängig zu machen und dieses Verhalten kann dann selbst wiederum den erwünschten Erfolg der Person A verringern.

 

Damit ist jedoch dieser Prozess noch keineswegs abgeschlossen. Das Verhalten von B kann dann selbst wiederum das Wohl einer dritten Person beeinflussen und dies gilt natürlich ceteris paribus auch für weitere dritte, vierte usw. Individuen. Und dies hinwiederum hat dann schließlich zur Folge, dass das Verhalten der Person A auch das Wohl sehr entfernter Individuen beeinflussen kann, wie auch das Wohl der Person A von Handlungen weit entfernter Individuen abhängen kann.

 

Übertragen auf die gesamte Gesellschaft bedeutet dies, dass die Maßnahmen eines Staates letzten Endes Einfluss auf entfernte Staaten haben können, welche überhaupt keine direkten Beziehungen zueinander pflegen, genauso, wie Aktivitäten entfernter Staaten selbst wiederum Einfluss auf das Wohl der eigenen Bürger nehmen können.

 

 

5. Eigener Erfolg abhängig vom Verhalten anderer

 

Die Lösung allgemeiner Probleme stößt in unserer komplexen Welt auf ein weiteres Problem. Wie effizient nämlich eine von den Politikern durchgeführte Maßnahme ist, hängt nicht allein von den Fähigkeiten der einzelnen Politiker ab. Stets hängen die Ergebnisse des politischen Prozesses durch das Zusammenwirken der politischen Handlungen mit den Reaktionen derjenigen Bürger ab, welche von diesen Maßnahmen vor allem auf negative Weise betroffen werden.

 

Wir wollen diese Problematik an zwei verschiedenen Problemen diskutieren. Beginnen wir mit den Erfolgsaussichten einer Keynesianischen Beschäftigungspolitik. Keynes hatte bekanntlich das Entstehen von Massenarbeitslosigkeit während der Rezession und Depression darauf zurückgeführt, dass die effektive Gesamtnachfrage nach Gütern in diesen Konjunkturphasen nicht ausreiche, um alle arbeitsfähigen und arbeitswilligen Arbeitnehmer zu beschäftigen.

 

Sparen die Konsumenten einen größeren Anteil ihres verfügbaren Einkommens als bisher und fragen sie deshalb weniger Konsumgüter nach, so könne man nicht – wie es die klassische Theorie getan hatte – erwarten, dass die Unternehmer die zusätzlichen Ersparnisse dazu einsetzen, zu investieren und damit ihre Produktionskapazität zu vergrößern.

 

Ein geringerer Konsum veranlasse die Unternehmer vielmehr, ihre Investitionstätigkeit zu verringern, um auf diese weise ihre Produktionskapazität an die schrumpfende Konsumgüternachfrage anzupassen. Deshalb könne in dieser Konjunkturphase auch nicht damit gerechnet werden, dass in dem Maße, wie die Konsumgüternachfrage sinke, die Investitionsnachfrage steige und somit die Gesamtnachfrage nach Gütern konstant bleibe.

 

In einer solchen Situation könne nur Massenarbeitslosigkeit mangels Güternachfrage vermieden werden, wenn der Staat die fehlende Güternachfrage dadurch ersetze, dass er in gleichem Umfang, wie die Konsumgüternachfrage Konjunktur bedingt zurückgehe, seine Ausgaben erhöhe und diese Ausgabensteigerung defizitär finanziere.

 

Eine Finanzierung dieser zusätzlichen Ausgaben über eine Erhöhung der Steuereinnahmen brächte nämlich keine Lösung, da ja im selben Ausmaß, in dem die Steuereinnahmen ansteigen, die private Konsumnachfrage erneut zurückgehen würde und sich somit an dem Umstand, dass die gesamte Güternachfrage nicht ausreiche, um alle Arbeitnehmer zu beschäftigen, nichts verändert hätte.

 

Wir wollen im folgenden einmal vernachlässigen, dass der Rückgang im Investitionsvolumen in Wirklichkeit lediglich für Erweiterungskapazitäten gilt, dass die Rationalisierungsinvestitionen gerade in den Zeiten, in denen der Absatz zurückgeht, vermehrt eingesetzt werden, um auf diese Weise über Kostensenkungen und Qualitätsverbesserungen die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

 

Das Defizit des Staatshaushaltes wird in einer ersten Phase in der Tat dazu führen, dass die Gesamtnachfrage nach Gütern steigt und dass ceteris paribus deshalb auch mehr Arbeitnehmer seitens der Unternehmungen nachgefragt werden.

 

Auf lange Sicht wird es aber bei dieser Nachfragesteigerung nicht bleiben. Die Unternehmungen waren nämlich anfangs nur deshalb bereit, ihre Produktion wieder auszuweiten, weil mit den Erlössteigerungen auch die Unternehmergewinne ansteigen. Es sind diese Steigerungen in den Gewinnen, welche die Unternehmungen veranlassen, ihre Aktivitäten auszuweiten.

 

Gewinn- und Preissteigerungen belasten jedoch die Arbeitnehmer. Wenn die Güterpreise steigen, ohne dass die Lohnsätze nachziehen, so verringert sich die Kaufkraft der Lohneinkommen. Die Arbeitnehmer erhalten somit für ihr gleichbleibendes nominelles Lohneinkommen weniger Güter. Das Reallohneinkommen sinkt also. Gleichzeitig verringert sich auch die Lohnquote, der Anteil der Lohneinkommen am Gesamteinkommen sinkt, da ja die Gewinne gleichzeitig steigen.

 

Die Gewerkschaften werden auf Dauer diese Verschlechterung in der Einkommensverteilung nicht hinnehmen und in den nächsten Tarifverhandlungen eine Lohnanpassung fordern und diese Forderung auch aufgrund ihrer grundgesetzlich geschützten Streikmacht durchsetzen.

 

Werden jedoch die Löhne an die Preissteigerungen angepasst, so sinkt der Gewinn der Unternehmer in gleichem Maße und am Ende dieses Anpassungsprozesses haben sich die Gewinnerwartungen wiederum auf das bisherige Gewinnniveau eingestellt.

 

Und da wir unterstellt haben, dass die Unternehmer die Produktion und mit ihr auch die Nachfrage nach Arbeitnehmern nur deshalb ausgeweitet haben, weil die Gewinnerwartungen aufgrund der Beschäftigungspolitik des Staates gestiegen waren, ist es am Ende dieses Prozesses nicht gelungen, die Massenarbeitslosigkeit langfristig spürbar zu verringern.

 

Die Arbeitslosigkeit ging aufgrund der keynesianischen Defizitpolitik des Staates also nur kurzfristig zurück. In dem Maße, in dem die Gewerkschaften auf die im Zuge der Beschäftigungspolitik verringerten Reallohneinkommen reagiert haben und hierauf auch die Unternehmer ihrerseits auf dieses Verhalten der Gewerkschaften ihr Verhalten angepasst haben, bleibt der langfristige Beschäftigungserfolg aus.

 

Und dies bedeutet, dass die keynesianische Defizitpolitik im Hinblick auf die Beschäftigungslage nur solange erfolgreich ist, als die Privaten auf die staatlichen Maßnahmen noch nicht reagiert haben. De facto müssen wir jedoch davon ausgehen, dass die Privaten auf lange Sicht auf die durch die Beschäftigungspolitik ausgelöste Veränderung in der Einkommensverteilung reagieren werden.

 

Das Verhalten der Privaten war nur unter den bisherigen Verhältnissen optimal, die veränderte Situation führte automatisch dazu, dass die Privaten in eine suboptimale Lage gerieten und dass sie deshalb bestrebt sein werden, sich an die veränderte Situation so anzupassen, dass ihre private Wohlfahrt unter den gegebenen Umständen wiederum optimal ausfällt.

 

Wir können nicht erwarten, dass sich die Privaten wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen, sie werden vielmehr auf die vom Staat ausgelöste Verschlechterung ihrer Situation reagieren und nach neuen Wegen suchen, um die bisherige Einkommenssituation wieder zu erreichen.

 

Dieses Verhalten wird allerdings nur verzögert eintreten. Hierfür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Zunächst vergeht einige Zeit, bis die betroffenen Bürger die Verschlechterung ihrer Einkommenssituation überhaupt feststellen. Wir haben hierbei zu berücksichtigen, dass die aufgrund der staatlichen Maßnahme eingetretene Verschlechterung zunächst nur ceteris paribus gilt. Zur gleichen Zeit können mehrere Variationen eintreten.

 

Wenn nun die durch die staatliche Defizitpolitik hervorgerufene Verschlechterung in den Reallohneinkommen in einer bestimmten Periode von einer gleichzeitigen Produktivitätssteigerung begleitet wird, sinkt ja das Reallohneinkommen absolut betrachtet nicht, es fällt nur schlechter aus, als dann, wenn auch der Staat auf diese Defizitpolitik verzichtet hätte.

 

Und in diesen Fällen wird die durch die Defizitpolitik hervorgerufene relative Verschlechterung nicht immer sofort wahrgenommen, es geht ja den Arbeitnehmern in diesem Falle absolut betrachtet nicht schlechter.

 

Auch dann, wenn sich auch die reale und absolute Einkommenssituation verschlechtert hat und diese Verschlechterung von den Arbeitnehmern oder den Gewerkschaften erkannt wurde, vergeht weitere Zeit, bis auf die Erkenntnis hin Reaktionen erfolgen.

 

Auf der einen Seite vergeht Zeit, bis die einzelnen Privaten geeignete Maßnahmen gefunden haben, um den durch die staatliche Politik hervorgerufene Verschlechterung zu kompensieren. Auf der anderen Seite verhindern auch institutionelle Regelungen oftmals eine sofortige Reaktion. Stellen z. B. die Gewerkschaften eine Reduzierung des Reallohnes fest, so können sie angemessene Lohnforderung erst nach Ablauf der Kündigungsfrist des laufenden Tarifvertrages durchsetzen.

 

Auch gilt es zu berücksichtigen, dass die anfangs eingeleitete Verbesserung in der Beschäftigungslage selbst dafür sorgt, dass die Arbeitnehmer zunächst eine Verschlechterung in der Einkommenslage hinnehmen, dass die Unzufriedenheit erst sehr viel später einsetzt, wenn sie als Beschäftigte auch wiederum auf die Lohnhöhe achten.

 

So ist es zu erklären, dass die keynesianische Politik zunächst einmal durchaus erfolgreich war. Dies gilt sowohl für die von Roosevelt eingeleitete New Deal-Politik in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wie auch für den Versuch Karl Schillers, während der ersten großen Koalition in der BRD Ende der 60er Jahre den Konjunkturabschwung über eine Erhöhung des staatlichen Defizits zu beenden.

 

Heute, mehr als 80 Jahre nach Einführung einer keynesianischen Beschäftigungspolitik müssen wir allerdings feststellen, dass es langfristig nicht gelungen ist, auf diesem Wege die Massenarbeitslosigkeit entscheidend zu verringern.

 

Die heutige Arbeitslosigkeit in Europa ist sogar vermutlich gegenüber den Zeiten von Keynes angestiegen und dies trotzdem, obwohl nahezu alle Staaten das keynesianische Instrumentarium in reichlichem Maße eingesetzt haben, wobei gerade die Staaten, welche ein besonders hohes Defizit des Staatsbudgets praktiziert haben in besonderem Maße hohe Arbeitslosigkeit aufweisen, während die Staaten, wie z. B. die BRD, welche um eine Reduzierung der Staatsverschuldung bemüht waren, eine wesentlich geringere Arbeitslosigkeit erreicht haben.

 

Bringen wir ein zweites Beispiel: die Bekämpfung der Terroristen. Auch hier hängt die Frage, welchen Erfolg die Maßnahmen der staatlichen Behörden im Kampf mit den Terroristen aufweisen, keineswegs nur davon ab, ob sich die staatlichen Beamten korrekt verhalten und die bekannten Maßnahmen, welche im allgemeinen zum Erfolg führen, auch tatsächlich anwenden.

 

Auch hier gilt, dass der Ausgang der vom Staat eingeleiteten Maßnahmen nicht nur vom Verhalten der Behörden, sondern eben auch in gleicher Weise vom Verhalten der zu bekämpfenden Terroristen ab. Ein Misserfolg dieser Maßnahmen kann bisweilen auch dann eintreten, wenn die Behörden alles in ihrer Hand liegende richtig tun und zwar deshalb, weil die Terroristen ohne eigenes Zutun einfach in einem bestimmten Fall die besseren Karten besitzen oder aber auch deshalb, weil in diesem Fall die Terroristen einfach die besseren Fähigkeiten aufweisen.

 

Alles politische Agieren kann also als eine Art Gesellschaftsspiel aufgefasst werden und die Frage, welcher der Spieler schließlich das Spiel gewinnt, hängt sowohl von der rein zufälligen Verteilung der Karten, aber eben auch von der technischen Fähigkeit der einzelnen Spieler ab.

 

Wir können nicht davon ausgehen, dass sich die jeweils fähigsten Individuen stets für den Staatsdienst entscheiden und dass gleichzeitig die jeweils Dümmsten und Ungeschicktesten Verbrecher werden. Und dies bedeutet notwendiger Weise, dass die staatlichen Behörden auch bei vollkommen korrekten Verhalten im Kampf gegen die Terroristen nicht immer erfolgreich sein können.

 

Bringen wir zunächst ein Beispiel dafür, dass die Karten in diesem Spiel bisweilen so gemischt sind, dass die Terroristen die besseren Karten besitzen. Nehmen wir den Fall, dass vor wenigen Jahren fast eine Million Flüchtlinge die deutschen oder auch die europäischen Grenzen überschritten haben.

 

Da dieses Ereignis, vor allem der Umfang der Flüchtlingszahlen auch für Eingeweihte überraschend kam, blieb es nicht aus, dass viele Immigranten die Grenze überschreiten konnten, ohne dass sie von den Sicherungsbeamten erfasst wurden.

 

Es war nur zu verständlich, dass die Terroristen diese für sie einmalige Gelegenheit wahr genommen haben. Während ohne diesen Flüchtlingsstrom jeder, der die europäische Grenze überschreitet, genauestens auf seine Absichten hin überprüft wurde und Terroristen deshalb sehr große Anstrengungen unternehmen mussten, durch dieses Netz durchzuschlupfen und unerkannt in den europäischen Raum einzudringen, blieben ihnen nun aufgrund des immens großen Flüchtlingsstrom alle diese Bemühungen erspart, sie konnten sich unter den Flüchtlingsstrom mischen und sich als Flüchtlinge tarnen, ohne Gefahr zu laufen, als Terroristen erkannt zu werden.

 

Gerade weil viele Flüchtlinge auf der Flucht ihre Papiere verloren haben, konnten die Behörden auch nicht exakt feststellen, ob ein Immigrant tatsächlich ein Flüchtling war oder ob sich unter der Maske des Flüchtlings in Wirklichkeit ein Terrorist verbarg.

 

In einem weiteren Punkt haben Terroristen nahezu immer die besseren Karten. Während nämlich die staatlichen Beamten gehalten sind, die Gesetzte peinlichst genau zu beachten, kümmern sich Terroristen in aller Regel überhaupt nicht darum, ob ihre Handlungen aus moralischer Sicht verwerflich sind.

 

Ganz im Gegenteil wählen sie oftmals ganz bewusst Wege, die eindeutig gegen Gesetz, Völkerrecht und Moral verstoßen. So flüchten sie sich z. B. bewusst in einem Kampf in dicht besiedelte Wohngegenden mit viel Frauen und Kindern oder sie verschanzen sich in Krankenhäusern.

 

Sie stellen die staatlichen Beamten dann vor die Wahl, entweder auf einen Angriff zu verzichten oder aber gegen die gesetzlichen Vorschriften einen Angriff zu wagen, obwohl die Gefahr besteht, dass auch Unschuldige, Frauen, Kinder und Gebrechliche, hierbei verletzt oder sogar getötet werden.

 

Obwohl die Verantwortung für solche Unglücksfälle hier eindeutig bei den Terroristen liegt, werden dann, wenn tatsächlich bei einem solchen Angriff auch Unschuldige verletzt werden, diese Handlungen in der Öffentlichkeit zumeist den staatlichen Beamten vorgeworfen und angelastet.

 

Den Terroristen gelingt es auf diese Weise einen doppelten Vorsprung zu gewinnen. Denn entweder verzichtet der Staat wegen der damit verbundenen Gefahren für Unschuldige überhaupt auf einen Angriff auf die Terroristen. Oder aber die staatlichen Beamten greifen trotz dieser Gefahr die Terroristen an und riskieren auch Opfer unter den Unschuldigen, dann erreichen die Terroristen, dass sich die Bevölkerung in immer stärkerem Maße von den staatlichen Instanzen abwendet.

 

Aber genau dies ist auch die letztliche Zielsetzung der Terroristen. Wenn sie töten oder durch ihr Verhalten erreichen, dass die staatlichen Beamten auch Unschuldige töten, dann geht es ihnen nicht primär darum Menschen zu töten, sondern einen Keil zwischen Bevölkerung und Staat zu treiben.

 

Der Staat soll auf diese Weise unglaubwürdig werden und die Gesetze, die er selbst erlassen hat, in gravierendem Maße verletzen. Der Staat tritt für eine möglichst große Freiheit der einzelnen Bürger ein, sieht sich aber aufgrund der terroristischen Aktivitäten gezwungen, eben diesen Handlungsspielraum der Individuen immer wieder einzuschränken.

 

 

6. Pluralistische Gesellschaft

 

Schließlich wollen wir auf einen letzten Unterschied zwischen der mittelalterlichen und heutigen Gesellschaft eingehen, auf den Umstand, dass Recht und Moral im Mittelalter Europas von einem einheitlichen Weltbild, der christlichen Religion, ausgingen, während heutzutage zumindest in den freiheitlichen Rechtsstaaten Europas eine pluralistische Gesellschaft vorliegt.

 

Die Gesellschaftsordnung dieser Staaten ist laizistisch, erkennt also keine einzelne Religion als Grundlage des Rechtsstaates an. In den Verfassungen dieser Staaten ist die Religionsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht anerkannt. Jeder Bürger kann frei entscheiden, welcher Religion er angehören will, er kann auch als Atheist jede religiöse Bindung des Menschen ablehnen. Keinem Bürger darf aus dieser Grundüberzeugung heraus von Seiten des Staates Nachteile erwachsen. Wir sprechen hier von einer pluralistischen Gesellschaft.

 

Allerdings bedeutet dies nicht, dass es in diesen Gesellschaften kein einheitliches Kultursystem gibt, dass also mehrere Kultursysteme gleichberechtigt nebeneinander stehen. Eine Gesellschaft kann nur Chaos vermeiden, wenn es eine für alle Bürger verpflichtende Ordnung gibt, welche festlegt, welche Werte bindend und deshalb einzuhalten sind.

 

Die Verfassung dieser Staaten benennt diese Werte und Grundprinzipien und enthält stets auch eine Regel, wie zu verfahren ist, wenn zwei oder mehrere in dieser Verfassung aufgezählten Grundrechte in einen Konflikt zueinander geraten, mit der Folge, dass nicht beide Rechte vollumfassend und gleichzeitig realisiert werden können.

 

Deshalb muss auch zwischen diesen Werten eine Güterabwägung vorgenommen werden, also festgelegt werden, wieweit die einzelnen Werte notgedrungen Abstriche zu erfahren haben. Es gibt aber dann in der Regel auch Grundrechte, welche wie z. B. das Recht auf Menschenwürde als unantastbar gelten, was nichts anderes bedeutet, als dass im Falle, dass das Recht auf Menschenwürde de facto in ein Konfliktverhältnis mit anderen Grundrechten gerät, dieser Konflikt vollständig zu Lasten des jeweils anderen Grundrechtes ausgetragen werden muss.

 

Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich übrigens auch notwendiger Weise, dass man eigentlich nicht von einem kulturellen Leitsystem sprechen kann, neben dem weitere, nachgeordnete  Kultursysteme bestehen. Es kann und darf immer nur ein einziges Kultursystem geben, es ist immer das verbindliche Leitsystem der Gesellschaft.

 

Allerdings enthält dieses einzige Leitsystem in aller Regel mehrere nebeneinander bestehende Werte, welche verpflichtend sind. So postuliert z. B. das Grundgesetz der BRD die Religionsfreiheit als Menschenrecht eines jeden Bürgers. Jeder Bürger hat damit das Recht, sein Glaubensbekenntnis selbst zu wählen und nach den Regeln dieses Systems zu leben, sofern diese Regeln nicht selbst wiederum gegen andere in der Verfassung niedergelegten und höherrangigen Grundwerte verstößt.

 

Niemand darf deshalb auch wegen der Ausübung dieses Rechtes auf Glaubensfreiheit benachteiligt werden. Dieses Grundrecht besagt jedoch nicht, dass aus diesem Grunde alle auf deutschem Boden ausgeübten Religionsgemeinschaften im gesellschaftlichen Leben einen gleichen Rang einzunehmen haben. Die Religionsfreiheit gehört zu den Menschenrechten, sie garantiert allein ein Recht gegenüber den einzelnen Individuen.

 

Welche Rechte den Religionsgemeinschaften selbst gewährt werden sollen, diese Frage hat sich im Verlaufe der Geschichte langsam entwickelt und es ist unbestritten, dass die europäischen Staaten in stärkerem Maße von den christlichen Werten als von nichtchristlichen Religionen geprägt wurden. Auch die Aufklärung zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich in Auseinandersetzung mit dem Christentum und wäre nicht zu verstehen, wenn man sie nicht als eine Auseinandersetzung mit christlichen Werten und als eine Weiterentwicklung der christlichen Werte auffassen würde.

 

Wenn die heutigen in Europa verwirklichten Ordnungen als pluralistisch bezeichnet werden, bedeutet dies, dass wir heute nicht mehr davon ausgehen können, dass die gesamte Bevölkerung in allen Grundwerten übereinstimmt, dass sich also die einzelnen Bürger z. B. in religiösen Fragen unterscheiden und dass aus diesen Gründen auch die politisch anstehenden Fragen nicht mehr insgesamt und immer auf einheitliche Grundwerte zurückgeführt werden können.

 

Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass in einer Bevölkerung in allen Grundfragen unterschiedliche Werte angesteuert werden. Wir erwähnten bereits, dass es für jede Gesellschaft ein für alle verbindliches Kultursystem gibt, dass die jeweilige Verfassung diese Grundwerte festlegt und dass deshalb alle politischen Streitpunkte gemäß der in der Verfassung niedergelegten Grundwerte entschieden werden müssen.

 

Da allerdings in pluralistischen Gesellschaften im Gegensatz zum Mittelalter nicht in allen Grundwerten Übereinstimmung besteht, kann auch nicht mehr damit gerechnet werden, dass bei politischen Fragen stets eine Lösung gefunden wird, welche sich aus diesen gemeinsamen Grundwerten ergibt und die deshalb auch für alle verbindlich ist.

 

In einer nichtpluralistischen Gesellschaft können Meinungsverschiedenheiten auftreten, wenn die einzelnen politischen Kontrahenten unterschiedliche Interessen vertreten oder wenn die Grundwerte anfangs unterschiedlich interpretiert werden.

 

Die gemeinsame Diskussion, in der um einen Kompromiss gerungen wird, führt jedoch dann schließlich dazu, dass fehlerhafte Interpretationen ausgeräumt werden oder dass Interessen zurückgesteckt werden müssen, weil sie den gemeinsamen Grundwerten nicht entsprechen.

 

Die Kompromissfindung im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft ist jedoch sehr viel schwieriger als in einem Staat mit nur einem für alle Bürger gültigen Weltbild. Soweit allerdings die in der Verfassung niedergelegten Grundwerte betroffen sind, gelten die gleichen Überlegungen wie für einen nichtpluralistischen Staat.

 

Auch hier gilt, dass bestimmte in der Verfassung niedergelegte Grundwerte bisweilen falsch interpretiert wurden oder dass zunächst aufgrund unterschiedlicher Interessen grundgesetzlich nicht erlaubte Positionen vertreten wurden.

 

Die Diskussion wird schließlich dazu führen, dass die fehlerhaften Interpretationen aufgegeben wurden oder dass Interessenstandpunkte verlassen werden, da sie eindeutig der Verfassung widersprechen.

 

Und wenn die Diskussion nicht in der Lage ist, diese Fragen zu klären und eine Übereinstimmung herbeizuführen, sieht die Verfassung zumeist vor, dass die obersten Gerichte letztendlich entscheiden, welche Interpretation als die richtige anzuerkennen ist.

 

In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es immer auch Grundwerte, welche nicht in die Verfassung aufgenommen wurden. So besteht z. B. Uneinigkeit in der Frage, ob ein Lohn dann als gerecht zu gelten hat, wenn gleiches Arbeitsleid mit einem gleichen Lohn entlohnt wird oder wenn die Höhe des Lohnsatzes daran gemessen werden soll, welchen Nutzen die Konsumenten letztendlich aus einem Produkt erfahren.

 

In diesen Fällen lässt sich auch nicht dadurch ein Kompromiss erzielen, dass geklärt wird, welche Interpretation dem Grundgesetz entspricht. Das Grundgesetz lässt diese Fragen in einer pluralistischen Gesellschaft offen.

 

Relativ leicht lässt sich eine Lösung dann finden, wenn die Regierung aus einer einzigen Partei gebildet wird. Diese Regierung kann sich auf eine Mehrheit im Parlament stützen und kann die von ihr vorgeschlagene Lösung auch dann durch Mehrheitsbeschluss durchsetzen, wenn bei der Beratung dieser Gesetzesvorlage im Parlament keine Einigung in dieser Frage zwischen Regierung und Opposition erzielt werden kann.

 

Natürlich wird es im Allgemeinen auch bei einer Volkspartei, welche über eine Mehrheit der Stimmen im Parlament verfügt, mehrere unterschiedliche Positionen geben, eine Volkspartei kann ja im Allgemeinen gerade deshalb bei den Wahlen die Mehrheit erringen, weil sie die Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen vertritt.

 

Trotz dieser Unterschiede im Einzelnen fühlen sich jedoch alle Mitglieder einer Volkspartei bestimmten Grundpositionen verpflichtet. Und Meinungsverschiedenheiten zwischen diesen Gruppen können dann in aller Regel dadurch aufgelöst werden, dass auf diese gemeinsamen Grundwerte rekurriert wird.

 

Diese gemeinsamen Grundwerte einer Partei erfüllen dann bei der Findung eines tragfähigen Kompromisses die gleiche Rolle, welche die in der Verfassung verankerten Grundwerte erfüllen. Falsche Interpretationen werden aufgrund der innerparteilichen Diskussion aufgegeben und auf die Durchsetzung bestimmter Partikularinteressen wird zugunsten der gemeinsamen Grundwerte verzichtet. Und da die Regierungspartei in diesem Falle im Parlament über die Stimmenmehrheit verfügt, reicht auch dieser Kompromiss aus, im Parlament die Regierungsvorlagen zu verabschieden.

 

Komplizierter gestalten sich die Verhältnisse, wenn die Regierung aus mehreren Parteien zusammengesetzt ist und oder wenn die Regierungsvorlage in der zweiten Kammer (in der BRD also im Bundesrat) mitentschieden werden muss und wenn im Bundesrat diejenigen Parteien die Mehrheit bilden, welche sich im Bundestag (in der ersten Kammer) in der Opposition befinden.

 

Hier können sich im Allgemeinen die verschiedenen Regierungsparteien nicht auf die gemeinsamen Grundwerte ihrer Partei berufen, da eben die einzelnen Parteien unterschiedliche Grundwerte anstreben.

 

Natürlich kann man zumeist davon ausgehen, dass auch zwei verschiedene Parteien durchaus gewisse gemeinsame Werte anerkennen, welche über die im Grundgesetz aufgezählten Werte hinausgehen.

 

Man einigt sich dann bei der Abfassung eines Koalitionsvertrages auf jene Reformmaßnahmen, welche von beiden Parteien verfolgt werden und schließt jene Ziele aus, welche von dem jeweils anderen potentiellen Koalitionspartner nicht geteilt werden. Eine Einigung kommt hier nur dann zustande, wenn beide Parteien in ausreichendem Maße gemeinsame Ziele verfolgen.

 

Allerdings stellten sich in den letzten Jahren bei diesen Gesprächen Gepflogenheiten heraus, deren Berechtigung bezweifelt werden muss. Es gibt keinen Sinn, wenn sich eine Partei zunächst zur Wahl stellt und deshalb den Wählern kundtut, dass sie sich um die Übernahme der Regierung bemüht und wenn dann, wenn der Wähler so wählt, dass eine Partei bzw. eine Koalition von mehreren Parteien die Mehrheit erreicht und somit vom Wähler gewissermaßen zur Übernahme der Regierung beauftragt wurde, dann plötzlich verkündet, dass sie es sich anders überlegt habe und nun doch nicht zur Regierung bereit sei.

 

Auch ist es aus mehreren Gründen fragwürdig, ob es demokratischen Gepflogenheiten entspricht, wenn der zwischen mehreren Parteien vereinbarte Koalitionsvertrag von den Parteimitglieder gebilligt werden muss.

 

Erstens wird mit dem Begriff Demokratie die Entscheidung des gesamten Volkes verstanden und wenn der Souverain, also das Volk gesprochen hat, sollte nicht ein kleiner Teil dieses Volkes, die Mitglieder einer Partei, entscheiden dürfen, ob dem Volkswillen (dass mehrere bestimmte Parteien eine Regierung bilden) tatsächlich entsprochen werden soll.

 

Zweitens verschiebt eine solche Mitgliederbefragung die Gewichte einseitig zugunsten dieser Partei, wenn nicht zur gleichen Zeit alle potentiellen Regierungsparteien eine nachträgliche Befragung ihrer Mitglieder vornehmen. Die jeweils andere Partei, welche keine Mitgliederbefragung vornimmt, kann hier erpresst werden und zu Zugeständnissen gezwungen werden, welche nicht mehr die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung widerspiegeln.

 

Der Wählerwille wird hier eindeutig verfälscht. Zu den demokratischen Grundrechten zählt die Gleichheit jeder Stimme, bei einem solchen einseitigen Verfahren hat jedoch de facto die Stimme der Wähler der einen Partei ein stärkeres Gewicht erhalten.

 

Drittens entspricht die im Grundgesetz verankerte Demokratie der Form einer repräsentativen Demokratie. Die Verfassungsgeber haben sich bewusst gegen eine durchgehende direkte Demokratie ausgesprochen, weil eine echte Mitwirkung der Wähler an den Sachentscheidungen voraussetzt, dass die Bürger ganz allgemein das Wissen mitbringen, das eine sachgerechte Entscheidung notwendig macht und darüber hinaus auch die Zeit haben, sachgerecht zu entscheiden.

 

Beide Voraussetzungen sind im Allgemeinen zumindest auf Landesebene und erst recht auf Bundesebene nicht gegeben. Die zu lösenden Probleme sind so komplex, dass man Spezialwissen aufweisen muss, um diese Problem sachgerecht zu lösen, Spezialwissen, das der einfache Wähler nicht aufweisen kann. Nicht, dass er überhaupt über kein Fachwissen verfügt, sondern dass sich sein Wissen auf andere Bereiche (z. B. auf Wissen am Arbeitsplatz) bezieht.

 

Darüber hinaus geht der größte Teil der Wähler einer beruflichen Tätigkeit nach und hat gerade deshalb auch nicht die Zeit, welche er für eine sachgerechte Beschäftigung mit den anstehenden politischen Fragen benötigt.

 

Schließlich spricht gegen den Versuch, politische Fragen ganz allgemein basisdemokratisch zu lösen, der Umstand, dass hier jegliche Verantwortung für politische Lösungen aufgegeben wird. Für eine falsche Entscheidung des Volkes kann niemand zur Verantwortung gezogen werden, vor allem auch deshalb nicht, weil es zu den wichtigsten Voraussetzungen einer echten demokratischen Wahl zählt, dass die Stimmabgabe geheim erfolgt und der Wähler nicht für seine Wahl zur Verantwortung gezogen wird.

 

Diese grundsätzlichen Entscheidungen zugunsten einer repräsentativen Demokratie gelten natürlich auch für Abstimmungen innerhalb einer Partei. Für die Fragen, welche eine Partei entscheiden muss, gilt gleichermaßen, dass es sich um komplexe Entscheidungen handelt und dass Fachwissen für eine sachgerechte Entscheidung notwendig ist. Auch fehlt wiederum dem einzelnen Parteimitglied zumeist die Zeit, welche er für eine sachgerechte Entscheidung benötigt.