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Was heißt konservativ?

 

Gliederung:

1. Einführung

2. Die Unterscheidung zwischen Inhalt und Wandel der Wertesysteme

3. Liberalismus, Sozialismus und christliche Soziallehre

4. konservative versus (r)evolutionäre Leitbilder

5. Grundwerte versus abgeleitete Werte

6. Gefährdungen der beiden Systeme

7. Folgerungen

8. Historische Betrachtung

9. Schlussbetrachtung

 

 

1. Einführung

 

Anlass dieses Artikels ist die Diskussion, welche seit einiger Zeit innerhalb der CDU/CSU über den Stellenwert des Konservatismus innerhalb der Partei geführt wird. Es wird bemängelt, dass die Partei in den letzten Jahren mit ihren programmatischen Äußerungen nach links gerückt sei und dass die konservativen Zielsetzungen immer mehr in den Hintergrund gedrängt würden. Es wird darauf hingewiesen, dass die CDU/CSU eine Partei sei, in der bisher liberale, christlich-soziale wie konservative Kräfte ihre politische Heimat gefunden hätten und es wird die Gefahr heraufbeschworen, dass dann, wenn die CDU mit dieser Tendenz fortfahre, rechts von der CDU eine neue konservativ ausgerichtete und gleichzeitig rechtsradikale Partei entstünde und dass ein Teil der Bevölkerung zu dieser Partei überwechseln könnte und damit die CDU/CSU verlassen würde.

 

 

2. Die Unterscheidung zwischen Inhalt und Wandel der Wertesysteme

 

Fragen wir uns als erstes, was man denn unter einem konservativen Profil einer Partei verstehen muss. Weltanschauungen lassen sich nach zwei verschiedenen Merkmalen unterscheiden. In einem ersten Fall lässt sich zwischen Liberalismus, Sozialismus und christlicher Soziallehre unterscheiden, sofern wir unsere Betrachtung auf Europa und Amerika beschränken. Bei einer weltweiten Sicht müsste man berücksichtigen, dass an die Stelle des christlichen Leitbildes ein von der Religion her bestimmtes Leitbild treten würde, wobei innerhalb Europas und Amerikas das christliche, innerhalb Asiens und Afrika jedoch ein vom Islam oder vom Buddhismus geprägtes Leitbild treten würde. In einem zweiten Fall fragt man nach den Veränderungen, welche im jeweiligen Wertesystem im Zeitablauf eintreten. Befassen wir uns zunächst mit der erstgenannten Unterscheidung.

 

 

3. Liberalismus, Sozialismus und christliche Soziallehre

 

Dieses erste Unterscheidungsmerkmal orientiert sich am Inhalt der einzelnen Weltan­schauungen. So wird vor allem nach dem Stellenwert der individuellen Freiheit  und der sozialen Gerechtigkeit gefragt. Liberale setzen sich vor allem dafür ein, dass die individuelle Freiheit gewahrt bleibt, während der Sozialismus in erster Linie nach gerechten Lösungen fragt. Trotzdem kann man nicht behaupten, dass der Liberalismus der sozialen Gerechtigkeit gar keinen Stellenwert beimisst, genauso wenig wie man behaupten kann, dass der Sozialismus das Ziel der persönlichen Freiheit vollkommen vernachlässige. Beide Weltanschauungs­systeme streben sowohl nach sozialer Gerechtigkeit wie nach individueller Freiheit.

 

Der Unterschied zwischen beiden Parteien besteht vielmehr in folgenden drei Punkten. Erstens ist die Rangordnung beider Ziele eine andere. Das Schwergewicht eines sozialistischen Leitbildes liegt bei der Realisierung der sozialen Gerechtigkeit. Liegen beide Ziele (soziale Gerechtigkeit sowie individuelle Freiheit) in einem Zielkonflikt zueinander, können also nicht beide Ziele voll realisiert werden, wird sich ein Sozialist dafür entscheiden, die individuelle Freiheit zugunsten der sozialen Gerechtigkeit hintanzustellen, während ein Liberaler in gleicher Weise das Ziel der sozialen Gerechtigkeit hintanstellen wird, um die Ziele der individuellen Freiheit zu realisieren.

 

Ein zweiter Unterschied zwischen beiden Wertsystemen lässt sich darin feststellen, dass auch die Begriffe der sozialen Gerechtigkeit sowie der individuellen Freiheit unterschiedlich defi­niert werden. Der Sozialismus misst im Allgemeinen die Gerechtigkeit daran, wie groß die Einkommensunterschiede zwischen den Ärmsten und den Reichsten einer Nation sind. Das Einkommensgefälle gibt danach an, wieweit eine Gesellschaft dem Gerechtigkeitsideal: nämlich der absoluten Einkommensgleichheit nähergekommen ist. Je größer jedoch der Abstand der Einkommen ist, umso mehr hat sich diese Gesellschaft vom Zustand einer gerechten Gesellschaft entfernt.

 

Der Liberalismus misst die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit in viel stärkerem Maße daran, wie groß das absolute Einkommen der Ärmsten ist. Entsprechend dem von Rawls definierten Maximin-Kriterium sind wirtschaftspolitische Maßnahmen unter Gerechtigkeitsgesichts­punkten erwünscht oder zumindest duldbar, solange diese Maßnahmen das Einkommen der ärmsten Einkommens­klasse erhöhen oder zumindest nicht verringern, auch dann, wenn die Einkommen der Reichsten durch diese Maßnahmen steigen, ja sogar stärker steigen als das Einkommen der Ärmsten. Im letzteren Falle würde entsprechend sozialistischer Normen trotz Anstiegs des absoluten Einkommens der Ärmsten der Umfang der Gerechtig­keit reduziert, da sich die relative Einkommensposition der Ärmsten verschlechtert habe.

 

In ähnlicher Weise unterscheiden sich auch die Begriffe der individuellen Freiheit zwischen Sozialisten und Liberalen. Der Sozialist interessiert sich in erster Linie um den realisierten Freiheitsgrad der Arbeitnehmer (und des einfachen Bürgers) und dieser hängt wiederum vor allem davon ab, wie hoch das durchschnittliche Einkommen der Arbeitnehmer ist. Gerade wenn das Einkommen der Arbeitnehmer ansteigt, kann sich dieser seinen individuellen Vorstellungen entsprechend individuell entwickeln. Der Liberalismus hingegen misst die persönliche Freiheit vor allem daran, inwieweit der individuelle Handlungsspielraum von Seiten des Staates eingeengt wird.

 

Aus dieser unterschiedlichen Interpretation der Freiheitsbegriffe erwächst ein weiterer, dritter Unterschied zwischen Sozialismus und Liberalismus. Der Liberalismus ­– zumindest in seiner zum Neoliberalismus weiterentwickelten Form – hält nur solche Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsprozess für erwünscht, als diese dem Kriterium der Marktkonformität entsprechen. (Der Altliberalismus hatte jeglichen Eingriff in den Wirtschaftsprozess abgelehnt.) Als marktkonform gilt hierbei eine Maßnahme dann, wenn sich der Staat darauf beschränkt, die Daten des wirtschaftlichen Handelns mit dem Ziele zu verändern, auf diese Weise auch die Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses zu beeinflussen.

 

Nehmen wir als Beispiel die Einführung einer speziellen, lediglich auf ein bestimmtes Gut erhobenen Umsatzsteuer, z. B. einer Luxussteuer. Aufgrund einer solchen steuerpolitischen Maßnahme ändert der einzelne Unternehmer unter Umständen seine Produktionsentscheidungen, da die Kosten der Produktion dieses Gutes erhöht wurden. Nachwievor entscheidet jedoch der einzelne Unternehmer, ob und in welchem Umfang er diese von der Steuer betroffenen Güter produziert. Und es ist der Konsument, der sich frei dazu entscheiden kann, wie er sein Einkommen auf den Kauf der einzelnen Güter verteilt. Der Staat hat mit seiner steuerpolitischen Maßnahme nur auf indirekte Weise den Wirtschaftsprozess beeinflusst, nachwievor liegen die eigentlichen Produktionsentscheidungen bei den Indivi­duen.

 

Nehmen wir als zweites Beispiel die Forderung nach der Einführung gesetzlich vorgeschrie­bener Mindestlöhne. In diesem Beispiel schreibt der Gesetzgeber vor, welche Höhe der Lohnsatz mindestens erreichen muss. Die Marktpartner können in diesem Falle die Fest­setzung der Löhne nicht mehr selbst entscheiden, der Staat greift unmittelbar in den Marktprozess ein. Damit besteht jedoch die Gefahr von Fehlallokationen, da nur dann mit einer optimalen Produktion gerechnet werden kann, wenn die Preisverhältnisse den Knapp­heits­verhältnissen entsprechen. Die Liberalen wenden sich hier nicht sosehr gegen die Zielsetzung, allen Arbeitnehmern ein Mindesteinkommen zu sichern, sondern allein gegen die Art und Weise, wie im Rahmen einer Mindestlohngesetzgebung dieses Ziel zu erreichen versucht wird.

 

Es wird von liberaler Seite die Gefahr gesehen, dass dann, wenn ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, der nicht den Knappheitsverhältnissen entspricht, eben die Produktion der hiervon betroffenen Güter eingestellt oder verringert wird und die Arbeitnehmer, welche eigentlich aufgrund dieser Maßnahmen begünstigt werden sollten, arbeitslos werden, weil sich die Produktion dieser Güter nicht mehr rentiert.

 

Hier stellt sich aus liberaler Sicht die Frage, ob es dem Interesse der Arbeitnehmer nicht besser entsprochen hätte, wenn die Arbeitnehmer zu einem geringeren Lohn beschäftigt worden wären und die zum kulturellen Existenzminimum fehlende Einkommenshöhe dadurch erreicht würde, dass den betroffenen Arbeitnehmern die bestehende Lohndifferenz in Form von Lohnsubventionen gewährt würde. Vor allem kommt es nach liberaler Vorstellung darauf an, Maßnahmen zur Förderung der Produktivität und zur Stärkung des Wettbewerbs durchzuführen, um auf diese indirekte Weise dazu beizutragen, dass das Lohnniveau in allen Bereichen so stark ansteigt, dass es über einem bestimmten Mindestlohnniveau zu liegen kommt.

 

Das christliche Leitbild hebt sich sowohl vom klassischen Liberalismus wie auch vom Sozialismus insofern ab, als die christliche Soziallehre eine religiöse Fundierung hat, während sowohl der klassische Liberalismus wie auch der Sozialismus eine religiöse Fundierung ablehnen.

 

Ansonsten gleicht die christliche Soziallehre insoweit dem Sozialismus, als das Gerechtigkeitsziel sowie die Nächstenliebe im Vordergrund der Forderungen stehen. Gemein­sam mit dem Liberalismus ist jedoch der christlichen Soziallehre die Betonung der individuellen Freiheit. Nach Überzeugung der Christen verlangt Gott, dass sich der einzelne bewusst und freiwillig zu seinem Glauben bekennt.

 

 

4. konservative versus (r)evolutionäre Leitbilder

 

Ein zweites Einteilungskriterium liegt vor, wenn man nach der Bewertung der augen­blick­lich gültigen Weltanschauung fragt. Man spricht von Konservatismus, wenn die bestehende Ordnung positiv bewertet wird und wenn Bemühungen erfolgen, welche die bestehende Ordnung zu erhalten, also zu konservieren versuchen. Im Gegensatz hierzu spricht man von einer revolutionären oder evolutionären Haltung, wenn die bestehende Ordnung negativ bewertet wird und Versuche unternommen werden, die bisher geltenden Werte abzuschaffen und neue Werte einzuführen. Wenn diese  Bemühungen dazu führen, dieses Ziel auch mit Gewalt zu erreichen, spricht man von revolutionärer Haltung, wenn jedoch diese Zielsetzungen lediglich ohne Gewaltanwendung angestrebt werden, läge eine evolutionäre Haltung vor.

 

Bisweilen wird der Liberalismus als eine konservative und der Sozialismus als eine revolutio­näre Weltanschauung angesehen. Diese Einschätzung trifft jedoch nicht den Kern der Sache. Der Liberalismus war bei seiner Entstehung im 18. Jahrhundert durchaus eher eine evolutionäre und bisweilen sogar eine revolutionäre Bewegung, da er die damals vorherrschende Ordnung: den absolutistischen Staat zu überwinden versuchte. Umgekehrt musste man den Kommunismus, so wie er in der Nachkriegszeit im damaligen Ostblock verteidigt wurde, als eine ausgesprochen konservative Bewegung ansehen.

 

Ein und dasselbe Ordnungssystem kann somit zeitweise als revolu­tionäre bzw. evolutionäre, zeitweise aber auch als ein konservatives System auftreten. In der Anfangsphase, bei der Entstehung dieser Bewegung tritt ein Wertesystem zumeist revolutionär oder evolutionär auf, da die Grundwerte dieser anzustrebenden Ordnung noch nicht allgemein akzeptiert werden und da die bisherigen Werte überwunden werden sollen. Dann aber, wenn ein Wertesystem Fuß gefasst hat und etabliert ist, gilt es zumeist dieses System zu bewahren und zu verteidigen, also konservativ aufzutreten.   

 

Auch für die christliche Lehre gilt, dass sie in ihren Anfangsjahren eine durchaus evolutionäre Bewegung darstellte, welche das bestehende System: die römische Weltherrschaft zu überwinden versuchte, wobei in den Anfangsjahren dieses Ziel keineswegs mit Waffengewalt erreicht werden sollte. Erst in den späteren Jahrzehnten, nachdem im Jahre 313 unter Konstantin dem Großen im römischen Reich in der sogenannten Mailänder Vereinbarung Religionsfreiheit verkündet wurde und hierauf die christliche Religion schließlich zur Staatsreligion aufrückte, versuchten die christlichen Herrscher die besiegten Völker mit Waffengewalt zum Christentum zu bekennen.

 

In der heutigen Zeit nimmt das Christentum eine ausgesprochen konservative Haltung ein und zwar insofern, als es das erklärte Ziel der christlichen Kirchen ist, die christliche Ordnung zu bewahren und vor Versuchen, einzelne Grundwerte abzuschaf­fen, zu schützen.

 

 

5. Grundwerte versus abgeleitete Werte

 

Nun gilt es innerhalb von Wertesystemen streng zu unterscheiden zwischen den einzelnen wenigen, innerhalb eines Systems als unverrückbar angesehenen Grundwerten und zwischen der Vielzahl einzelner Ableitungen aus diesen Grundwerten. Ein richtig verstandener Konservatismus will nur die letztlichen Grundwerte schützen. Es geht nicht darum, auch die aus diesen Grundwerten abgeleiteten Werte zu bewahren. Ganz im Gegenteil müsste eine konservative Zielsetzung eigentlich darum bemüht sein, abgeleitete Werte dem Wandel der Daten jeweils anzupassen. Denn nur dann, wenn diese Anpassung erfolgt, kann damit gerechnet werden, dass langfristig auch an den Grundwerten festgehalten wird. Gerade der Versuch, auch abgeleitete Werte zu erhalten, kann zur Folge haben, dass auch die Grundwerte von immer mehr Menschen als nicht mehr zeitgemäß angesehen und deshalb über Bord geworfen werden.

 

Wir müssen uns darüber klar werden, wie denn im Einzelnen die Ableitung konkreter Werte aus den unverrückbaren Grundwerten erfolgt. Zumeist stellen solche An­wendungen den Versuch dar, bei der Einhaltung der Grundwerte die jeweilige Situa­tion zu berücksichtigen. Jede Situation ist jedoch zeitgebunden und ändert sich mit dem immer eintretenden Wandel der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten.

 

Weiterhin haben wir davon auszugehen, dass in der Realität zumeist gar nicht von den Grundwerten gesprochen wird, dass also in der Diskussion um die Werte jeweils oder zumeist um abgeleitete Werte gerungen wird. Die eigentlichen Grundwerte werden dann für den einzelnen unter Umständen gar nicht sichtbar. Und weil dem so ist, besteht sowohl die Gefahr, dass bei einem Wandel in den abgeleiteten Werten die Meinung vorherrscht, es sollten auch die Grundwerte verändert oder verlassen werden als auch die Gefahr, dass aus dieser Haltung heraus auch an abgeleiteten, aber nicht mehr zeitgemäßen Werten festgehalten wird.

 

Da jedoch – wie erwähnt – die Anpassung an die abgeleiteten Werte an den Wandel in den politischen und wirtschaftlichen Daten notwendig ist, um eine Wertordnung auf lange Sicht zu erhalten, muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass gerade konservativ eingestellte Personen durch dieses Festhalten an abgeleiteten Werten letztlich dazu beitragen, dass die Wertesysteme veralten und deshalb in naher Zukunft verfallen.

 

Um ein Wertesystem auch bei einem rapiden Wandel in den wirtschaftlichen und politischen Daten langfristig aufrechtzuerhalten, ist es also notwendig, stets zwischen Grundwerten und abgeleiteten Werten zu unterscheiden und zu überprüfen, inwieweit die in der Vergangenheit aufgestellten Normen Grundwerte und inwieweit sie lediglich von den damals gültigen historischen Gegebenheiten abgeleitete Werte darstellen.

 

6. Gefährdungen der beiden Systeme

 

Es besteht nun die Gefahr, dass ein fanatischer Konservativer nicht nur an den Grundwerten, sondern auch an den abgeleiteten Werten festhält, obwohl eigentlich aufgrund des Wandels in den wirtschaftlichen und politischen Daten eine Anpassung der abgeleiteten Werte notwendig wäre und obwohl dieser Konservative gerade auf diese Weise dazu beiträgt, dass immer mehr Menschen eine Ablösung des gesamten Wertesystems verlangen.

 

Umgekehrt besteht natürlich auch die Gefahr, dass Gegner einer bestehenden Werteordnung auch Grundwerte bekämpfen und außer Kraft setzen möchten mit dem Argument, sie seien nicht mehr zeitgemäß. Die richtige Balance zwischen Erhaltung der überlieferten Grundwerte einerseits und der notwendigen Anpassung der abgeleiteten Werte ist also gar nicht so einfach zu erkennen und einzuhalten. Mehrere Einzelheiten erschweren diese Aufgabe.

 

Als erstes gilt es festzustellen, dass die tradierten Grundwerte oftmals ­– und dies gilt insbesondere für das Christentum sowie für den Islam – uns in einer fremden Sprache überliefert sind. Es gilt also in einem ersten Schritt die fremdländischen Texte in die eigene Sprache zu übersetzen. Nun lehrt uns die Sprachwissenschaft, dass es nicht möglich ist, den genauen Wortlaut und Sinn eines Textes in eine andere Sprache zu übersetzen. Bisweilen gibt es in der eigenen Sprache gar kein Pendant zu einem Wort in einer fremden Sprache. Wir haben davon auszugehen, dass die Entstehung und Bildung der einzelnen Worte davon abhängt, vor welchen Problemen die Völker bei der Entstehung dieser Worte gestanden haben. So verwundert es nicht, dass sich oftmals Übersetzungen Heiliger Schriften des Christentums und des Islams unter­scheiden und nach Auskunft von Exegeten den eigentlichen Sinn einer Textstelle nicht korrekt wiedergeben. So wird z. B. das Gebot der Nächstenliebe zumeist so übersetzt, dass man den Nächsten so lieben solle wie sich selbst, obwohl die korrekte Übersetzung lauten müsste, ‚achte deinen Nächsten, denn er ist so wie du‘.

 

Zweitens müssen wir uns darüber klar werden, dass in den damaligen Zeiten, in denen diese Texte – und dies gilt vor allem für die Zeit des Alten Testamentes – entstanden sind, noch keine eigentlichen Staaten in unserem Sinne bestan­den und dass vor allem noch keine klare Trennung zwischen dem Religions­stifter und dem Gesetzgeber eingehalten wurde. So finden sich in den Heiligen Texten dann auch konkrete Bestimmungen, die nicht über religiöse Inhalte und damit auch nicht über letztliche Grundwerte eine Aussage machen, sondern ganz einfach lediglich das Zu­sam­­men­leben der Menschen in einem Staatsgebilde regeln.

 

Dies gilt vor allem für Fragen, welche die Gesundheit der Personen berühren. Nehmen wir das im Islam und bei den Juden geltende Verbot, Schweinefleisch zu essen. Dieses Verbot ist sicherlich nicht von letztlichen religiösen Grundwerten abgeleitet. Wir haben davon auszugehen, dass nach damaliger Vorstellung das Essen von Schweinefleisch das Überleben der damaligen Menschen gefährdet habe, unter anderem wohl deshalb, weil Völker, welche in der Wüste leben und keinen festen Wohnsitz hatten, auch nicht die heutigen Möglichkeiten kannten, gesundheitliche Gefahren, welche von dem Essen bestimmter Güter ausgehen, abzuwenden.

 

Drittens gilt es zu berücksichtigen, dass diese heiligen Schriften in einer Zeit entstan­den, in welcher andere Gebräuche als heute vorherrschten, dass damals Grundüber­zeugungen, welche nichts mit den letztlichen religiösen Grundwerten zu tun haben, wie selbstverständlich auch in die Heiligen Schriften Eingang fanden, ohne dass damit betont worden wäre, dass ein solches Verhalten aus religiöser Sicht als notwendig anzusehen sei. Man hat sich einfach nicht mit diesen Fragen befasst.

 

Nehmen wir den Umstand, dass die Staatsgebilde von einem Herrscher geführt wurden und dass es eine kleine Gruppe (Adlige) gab, welchen Vorrechte eingeräumt wurden oder auch die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft oder den Tatbestand, dass besiegte Völker als Sklaven gehalten wurden; all diese Tatbe­stände flossen dann oftmals wie selbstverständlich in die Heiligen Texte ein, nicht weil sie nach Auffassung der Religionsstifter als geboten erschienen, sondern einfach deshalb, weil sie in der damaligen Zeit als selbstverständlich und unproblematisch angesehen wurden.

 

Viertens wurden die Heiligen Schriften wie vor allem beim Judentum und im Christen­tum nicht von den Religionsstiftern selbst oder auch von unmittelbaren Zeugen dieser verkündeten Gesetze niedergeschrieben, sondern zunächst nur mündlich weiter überliefert und dann sehr viel später erst nach 30 bis 50 Jahren ­– wie beim Neuen Testament – aufgeschrieben. Hier verwundert es nicht, dass diese Aufzeich­nungen teilweise unterschiedlich erfolgten und auch Texte übernommen wurden, welche nicht unbedingt als authentisch angesehen werden können.

 

Fünftens wurde die Darstellung von Ereignissen in diesen Schriften keinesfalls so verstanden, dass hier ein stenografisches Protokoll der Vorgänge und Verlaut­ba­rungen der Religions­stifter angefertigt werden sollte, sondern es war zumeist die Absicht derjenigen, welche diese Texte aufzeichneten, Glaubenswahrheiten weiterzu­geben, welche dann eingekleidet wurden in Erzählungen, welche lediglich dem Sinn nach der Aussage der Religionsstifter entsprechen sollten, so wurden oftmals Worte in den Mund eines Religions­stifters gelegt, die dieser in dieser Form vermutlich nie gesagt hatte, die aber dem Sinn nach sehr wohl dem entsprachen, was diese Religionsstifter eigentlich sagen wollten.

 

Schließlich gilt es sich sechstens daran zu erinnern, dass sowohl das Christentum wie auch der Islam in Volksgemeinschaften entstanden sind, in denen ohnehin Aussagen gerne so ausgedrückt werden, dass sie nicht wortwörtlich zu verstehen sind, dass es vielmehr darum ging, durch bewusste Überspitzung bestimmter Aussagen den Kern des zu ermittelnden Textes auch dem einfachen Volk besser klarzumachen. Die biblische Aussage: „eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Himmelreich kommt“, ist sicherlich nicht wörtlich gemeint. Es soll hiermit lediglich in besonders eindringlicher Weise darauf hingewiesen werden, dass es in bestimmten Bereichen ein Reicher sehr schwer hat, so zu leben, wie es die Heilige Schrift vorschreibt. Selbstverständlich war auch Christus nicht der Auffassung, dass Reiche per se nicht in den Himmel kommen könnten.

 

 

7. Folgerungen

 

Aus all diesen Überlegungen ergibt sich, dass es nicht möglich ist, die Texte Heiliger Schriften in dem vorgefundenen Wortlaut wörtlich zu nehmen. Es ist vielmehr in jedem Einzelfall zunächst zu klären, was tatsächlich in der Sprache des Urtextes gesagt worden war. Darüber hinaus verhalten sich diese Aussagen wie eine Gleichung mit zwei Unbekannten: x verhält sich zu y, wie a zu b; will sagen, x steht hierbei für die den heutigen Lesern gültige Aussage, im Vergleich zu der im Urtext aufgeführten Aussage y und diese Aussagen sind stets daraufhin zu überprüfen, wie sich die heutigen Verhältnisse (a) zu den Verhältnissen der damaligen Zeit (b), in der diese Texte aufgeschrieben wurden, verhalten.

 

Es gilt also in einem ersten Schritt zu klären, wieweit die Stelle in der Heiligen Schrift (Bibel, Koran etc.) richtig übersetzt wurde, was dieser Text damals tatsächlich besagte. In einem zweiten Schritt ist dann zu klären, welche Grundwerte hinter dieser Aussage stehen und welche Teile dieser Aussage nur eine Anwendung auf eine ganz bestimmte historische Zeit waren. Schließlich gilt es zu überprüfen, inwieweit sich die äußeren Umstände in der Zwischenzeit verändert haben und mit welchen konkreten Forderungen dem Grundwert heute am besten entsprochen wird.

 

Grundwerte sind niemals zeitgebunden. Es gibt keinen Sinn, zu sagen, dass ein Grundwert nicht mehr der Zeit entspreche und deshalb über Bord geworfen werden muss. Grundwerte sind immer zeitlos. Die Frage, ob es einen Gott und ein Leben nach dem Tod gibt, oder auch die andere Frage nach dem letzten Sinn des Menschen auf Erden, stellt sich zu allen Zeiten. Nur ihre Anwendung bezieht sich auf eine konkrete Situation. Und wenn sich diese ändert, ist auch die konkrete Forderung an diese Veränderungen in den Daten der Umwelt anzupassen.

 

Atheisten reisen gerade in der heutigen Zeit wiederum herum und verkünden, dass es wissenschaftlich gesehen mit einer an 100% grenzenden Wahrscheinlichkeit keinen Gott gäbe. Hier muss daran erinnert werden, dass eine empirische Wissenschaft gar nicht in der Lage ist, solche Aussagen zu treffen.

 

Die empirische Wissenschaft kommt zu ihren Aussagen allein dadurch, dass man zunächst aus der Erfahrung heraus Hypothesen bildet. Man hat festgestellt, dass ein bestimmtes Ereignis zeitlich gesehen immer wieder dann beobachtet wird, wenn ein anderes Ereignis diesem Ereignis voranging. Man bildete aus diesen Erfahrungswerten dann in einem ersten Schritt eine vorläufige Hypothese, dass das Ereignis y stets das Ereignis x auslöst. In einem zweiten Schritt wird dann in zahlreichen Untersuchungen überprüft, ob wirklich in jedem Einzelfall – unter den unterschiedlichsten Nebenbedingungen – dieser Wirkungszusammenhang gilt. Man versucht sozusagen diese zu untersuchende Hypothese dadurch zu wiederlegen, dass Beispiele gefunden werden, bei denen dieser Zusammenhang nicht gilt.

 

Hat man solche Beispiele gefunden, bedeutet dies, dass auf jeden Fall nicht mehr gesagt werden kann, dass in jedem Falle x durch y verursacht wird. Die Hypothese in der ersten Form muss also als widerlegt gelten. Dies bedeutet nicht, dass man die den in der Hypothese behaupteten Wirkungszusammenhang vollkommen verwirft; schließlich wurde ja diese Hypothese aufgrund tatsächlich beobachteter Erfahrungen gebildet. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass zwar Zusammenhänge zwischen den beiden Ereignissen x und y bestehen, dass sich aber der Zusammenhang sehr viel komplizierter darstellt, dass weitere Bedingungen hinzukommen müssen, damit das Ereignis y das Ereignis x auslöst.

 

Also bildet man eine weitere Hypothese, derart, dass y nur unter bestimmten weiteren Ereignissen z das Ereignis x auslöst. Auch diese Hypothese gilt es wiederum empirisch zu testen. Und erst dann, wenn es nicht mehr gelingt, eine Hypothese zu widerlegen, spricht man von einer vorläufig gültigen Theorie; vorläufig deshalb, weil es natürlich in Zukunft durchaus denkbar ist, dass neue Fakten gefunden werden, welche der Theorie widersprechen. In diesem Falle muss man dann erneut die Theorie modifizieren, damit auch die neuesten Befunde mit der Theorie übereinstimmen.

 

Wichtig ist hierbei die Erkenntnis, dass nur empirische Befunde in der Lage sind, Hypothesen zu bestätigen oder auch zu widerlegen. Metaphysische Aussagen wie z. B. die Aussage „es gibt keinen Gott“ lassen sich auf diese Weise nicht untersuchen genauso wenig natürlich, wie die Aussage „es gibt einen Gott“. Man kann zwar die Existenz eines Gottes nicht empirisch beweisen, man kann sie aber auch nicht empirisch widerlegen. Metaphysische Aussagen kann man nur glauben oder nicht glauben. Eine wissenschaftliche Bestätigung kann es nicht geben.

 

Wittgenstein hat einmal davon gesprochen, dass man über die Dinge, die man nicht beweisen könne, schweigen solle. Dies mag in der Tat für die allgemeinen Gegenstände wissenschaftlicher Erforschung richtig sein. Es gilt jedoch gerade nicht für die Frage nach dem Sinn des Lebens, da es von der Beantwortung dieser Frage abhängt, wie sich jeder einzelne Mensch sein Leben einrichtet, welche Verhaltensweisen er als erlaubt und als verboten ansieht.

 

Oftmals wird eine konservative Haltung auch damit verbunden, dass der Zuzug von Personen, welche einem anderen Kultursystem angehören, gestoppt werden sollte. Man wendet sich gegen ein multikulturelles System. Rein äußerlich wird hier das bestehende und in Europa überkommene Wertesystem verteidigt.

 

Nun muss man sich darüber klar sein, dass es gerade zu den Merkmalen der tradierten europäischen Kultur gehört, dass die individuelle Freiheit einem jeden garantiert wird, dass vor allem jeder selbst bestimmen kann, wo er sich niederlassen will und weiterhin, ob er überhaupt einer Religionsgemeinschaft angehören will und welches Glaubensbekenntnis er wählt. Die Religionsfreiheit ist in unserer Verfassung garantiert, jeder kann selbst bestimmen, welcher Religion er angehört.

 

Nun gibt es und gab es sicherlich in der BRD keine Verfolgung von Personen, die einem nichtchristlichen Glauben wie etwa dem der Juden oder der Moslems angehören. Zur Religionsfreiheit zählt aber auch, dass der einzelne seinen Glauben leben darf und hierzu zählt natürlich auch z. B., dass eine islamische Glaubensgemeinschaft auch islamische Gotteshäuser bauen darf und dass er sich so kleiden darf, wie es sein Glauben vorschreibt.

 

Eine wichtige Ausnahme besteht hierbei allerdings. Die Ausübung des Glaubens darf nicht dazu führen, dass die in der Verfassung verankerten Grundwerte verletzt werden. So kann natürlich nicht geduldet werden, jemand wegen religiöser Vergehen von den Religionsgemeinschaften selbst zu verfolgen, dass also z. B. nicht eine Frau von ihren Angehörigen umgebracht werden darf, weil sie entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern einen Angehörigen einer anderen Religionsgemeinschaft geheiratet hat. Die Verfassung gilt für jeden, welcher sich auf dem Boden der BRD aufhält, es gelten die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten für jedermann, gleichgültig, welcher Religionsgemeinschaft er angehört.

 

Die Vorstellung, dass mehrere Kultursysteme nebeneinander bestehen könnten, ist sicherlich dann falsch und zu verwerfen, wenn oder insoweit die einzelnen Grundwerte sich widersprechen. Dies gilt insbesondere für die in der Verfassung verankerte Gleichheit vor dem Gesetz, für die Gleichberechtigung der Frau, für die Achtung gegenüber dem Mitmenschen, gleichgültig welcher Religionsfreiheit er oder sie angehören, weiterhin auch für das wiederum in der Verfassung niedergelegte Monopol des Staates auf Gewalt und Verfolgung einzelner Straftaten, für den Schutz jeglicher Minderheiten, schließlich auch für das Verbot, Tiere zu quälen.

 

Sofern ein anderes Kultursystem diese angesprochenen und in der Verfassung garantierten Werte also Rechte und Pflichten verneint, können nicht zwei sich in einzelnen Fragen widersprechende Kultursysteme in der BRD nebeneinander bestehen. Ein Wertesystem muss immer widerspruchsfrei sein. Soweit sich einzelne Teile verschiedener Kultursysteme in einzelnen Bestimmungen widersprechen, können und dürfen sie nicht nebeneinander bestehen, sie müssen sich auf dem Boden der BRD bzw. Europas insofern in diesen einzelnen Punkten an das geltende Wertesystem anpassen.

 

 

8. Historische Betrachtung

 

Nun mag es richtig sein, dass sich im Verlaufe der vergangenen Jahrhunderte in der Tat auch Wertesysteme, die anfänglich widersprüchlich waren, vermischt haben. Man sollte sich jedoch hierbei daran erinnern, dass dieser Prozess Jahrhunderte dauerte und sehr viel Leid gebracht hatte. Zunächst hatten die Römer auf der einen Seite ganze Völker wie die Germanen und Kelten unterjocht und deren Führer versklavt, auf der anderen Seite die Christen innerhalb des römischen Reiches verfolgt und gemordet. Trotzdem setzten sich einige Bräuche und Werte der unterlegenen Volksgruppen im Verlaufe der Jahrhunderte durch.

 

Unter Konstantin dem Großen wurde dann das Christentum zur Staatsreligion erklärt, aber trotzdem wurde die der Grundaussage des Christentums entsprechende Gleichstellung der Armen und Reichen, der Freien und Versklavten und der Achtung eines jeden, da alle als Geschöpfe Gottes gleich sind, Jahrhunderte lang bis zur Reformation und zur Aufklärung geleugnet und es wurden genauso wie im römischen Reich Völker überfallen und unterjocht.

 

Erst mit Luther begann dann ein mühseliger Reinigungsprozess, man erinnerte sich an die eigentlichen Lehren von Christus, in der katholischen Kirche begann dieser Prozess allerdings sehr viel später. Die Aufklärung hat dann schließlich dazu geführt, dass die alten monarchischen Systeme zumeist auf dem Wege einer Revolution abgelöst wurden und dass schließlich ein Wertesystem entstand, auf das sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika, als auch die europäischen Staaten stolz sind und als freiheitliche, demokratische Ordnung verteidigen.

 

9. Schlussbetrachtung

 

Fassen wir zusammen: Ein recht verstandener Konservatismus ist bestrebt, die Grundwerte eines Kultursystem zu erhalten, während die konkreten Bestimmungen aufgrund des Wandels der Gesellschaften immer wieder angepasst werden müssen. Dem Konservatismus drohen somit zweierlei Gefahren: Auf der einen Seite besteht die Gefahr, dass Andersdenkende bemüht sind, unter dem Vorwand, die überkommenen Werte seien nicht mehr zeitgemäß, auch die dahinterstehenden Grundwerte abschaffen wollen. Auf der anderen Seite erwächst dem Konservatismus jedoch auch aus den eigenen Reihen eine große Gefahr und zwar dadurch, dass man an den einzelnen abgeleiteten Werten krampfhaft festhält, obwohl die Veränderungen in Technik und Bedarf sich gewandelt haben. Diese Gefahr besteht deshalb, weil nämlich gerade das krampfhafte Festhalten an den abgeleiteten Werten das gesamte Wertesystem unglaubhaft werden lässt, es widerspricht dann in der Tat der entwickelten Gesellschaft und immer mehr Menschen wenden sich aus diesem Grunde gegen dieses Wertesystem als solches und bringen es auf diese Weise zu Fall.

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