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Christliche Religion zwischen Liberalismus und Sozialismus

 

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung

2. Gemeinsamkeiten zwischen christl. Glauben und Sozialismus

3. Unterschiede zwischen christlichem Glauben und Sozialismus

4. Unterschiede zwischen christlichem Glauben und Liberalismus?

5. Gemeinsamkeiten zwischen christl. Glauben und Liberalismus

6. Schlussbemerkungen

 

 

 

1. Einführung

 

In diesem Artikel möchte ich mich kritisch mit den Beziehungen zwischen Christlicher Religion, dem Liberalismus und dem Sozialismus auseinandersetzen. Gehen wir von der Position der christlichen Kirchenbehörden, vor allem der katholischen Kirche im ausgehenden 19. Jahrhundert aus, so wurden Liberalismus wie Sozialismus gleichermaßen verworfen und der Versuch unternommen, einen von Liberalismus und Sozialismus unabhängigen dritten Weg zu beschreiten.

 

Betrachten wir hierzu die erste Sozialenzyklika der Päpste und zwar die von Papst Leo XIII veröffentlichte Enzyklika Rerum Novarum vom 15. 5. 1891 über die Stellung und soziale Situation der Arbeiter im Industriealter. Die rivalisierenden Sozialideen des Liberalismus wie des Sozialismus wurden in erster Linie abgelehnt, da sie aufgrund ihrer atheistischen Grundauffassung wichtige Teile des christlichen Glaubensbekenntnisses in Frage stellten.

 

Das Streben nach Gewinn seitens des Liberalismus und vor allem die hedonistische Maxime nach größtmöglichem Lustgewinn für die größtmögliche Zahl wurden als dem christlichen Menschenbild abträglich gehalten, genauso wie der Versuch des Sozialismus, durch Aufhebung des Privateigentums eine Lösung der sozialen Missstände zu Beginn der Industrialisierung herbeizuführen. Diese Haltung widerspreche den natürlichen Gesetzen, seit Bestehen der Menschheit sei der wichtigste Beweggrund von Arbeit, Einsatz und Fleiß der Erwerb von Eigentum. Wandle man Privatgut in Gemeingut um, so beraube man die Arbeiter ihrer Arbeitserträge, welche dem Menschen von Natur aus zukämen. Vielmehr sei die Familie der wichtigste Träger des menschlichen Zusammenlebens, sie sei älter als der Staat und dürfe deshalb nicht von diesem abhängig werden.

 

Aber erst die von Papst Pius XI. im Jahre 1931 veröffentlichte Sozialenzyklika ‚Quadragesimo anno‘ brachte eine geschlossene Gegenposition gegenüber Liberalismus und Sozialismus. Als Maßstäbe für eine gesellschaftliche Ordnung wurden darin die Prinzipien der menschlichen Person, der Gemeinwohlverpflichtung und das Subsidiaritäts- sowohl als auch das Solidaritätsprinzip herausgestellt. Danach sei der Mensch ein soziales Wesen, das auf der einen Seite sich selbst verantwortlich sei, aber auf der anderen Seite in der Zuwendung zum Nächsten erst in der Gemeinschaft seine Sinnerfüllung erfahre.

 

Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip sollten gemeinschaftliche Aufgaben solange wie möglich von den jeweils untersten Gemeinschaftsformen erfüllt werden. Die jeweils nächstübergeordnete Gesellschaftsform solle erst dann eingreifen, wenn die untergeordnete gesellschaftliche Instanz eine Aufgabe nicht mehr allein bewältigen könne. Aber auch in diesem Falle solle die Hilfe seitens der übergeordneten Instanz sich im Wesentlichen auf eine Hilfe zur Selbsthilfe beschränken, welche auf keinen Fall die Eigeninitiative der untergeordneten Gemeinschaftsformen ersticken dürfe.

 

Das Gemeinwohlprinzip erfordert, dass alle anstehenden gesellschaftlichen Probleme letztlich am Wohl der Gemeinschaft auszurichten sind, nicht das Eigenwohl der jeweils Handelnden, sondern das Wohl der gesamten Gemeinschaft müsse der Maßstab sein, nach dem alle politischen und gesellschaftlichen Handlungen gemessen werden.

 

Das Solidaritätsprinzip hingegen bezieht sich auf das Gebot der Nächstenliebe, dass man sich also gegenüber allen Menschen, mit denen man soziale Beziehungen pflegt, solidarisch verhält, dem Nächsten keinen Schaden zufügt, ihm aber hilfreich zur Seite steht, wenn er seine eigenen Belange nicht mehr alleine bewältigen kann und deshalb der Hilfe der anderen Menschen bedürfe.

 

Im Grunde stehen bei allen drei hier zur Diskussion stehenden Weltbildern (Christentum, Liberalismus und Sozialismus) die Forderungen nach Freiheit und Gerechtigkeit und ihr gegenseitiges Spannungsverhältnis im Mittelpunkt der Diskussion und diese drei Weltbilder unterscheiden sich darin, wie sie dieses Spannungsverhältnis zu lösen versuchen. Am Anfang der neuzeitlichen Entwicklung steht die Kampfparole der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wobei sich diese Forderung zunächst einmal gegen die bevormundende Haltung der katholischen Kirche im Altertum und Mittelalter und auf der politischen Ebene sowohl gegen den Ständestaat wie auch vor allem gegen den absolutistischen Staat richtete.

 

Nach einer weitverbreiteten, aber nicht ganz korrekten Auffassung, betone der Liberalismus das Freiheitsziel auf Kosten des Ideals der Gerechtigkeit und fordere, dass sich der Staat eines Eingriffs in die Marktwirtschaft enthalten müsse, Korrekturen aus sozialen Gründen seien nicht erforderlich und insgesamt schädlich.

 

Der Sozialismus hingegen unterstreiche die Forderung nach weitgehender Gleichheit und sehe die einzige Möglichkeit, dieses Gerechtigkeitsideal zu erreichen, in einer staatlichen Planwirtschaft, welche automatisch die Freiheitsrechte seiner Bürger beschneide.

 

Folge man der christlichen Soziallehre, so verneine sie auf der eine Seite die Freiheitsansprüche des Liberalismus, unterstütze jedoch weitgehend die Forderung nach Gerechtigkeit des Sozialismus.

 

Mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser drei Weltbilder habe ich mich bereits früher in  einem hier im Internet veröffentlichten Artikel über Liberalismus, Sozialismus und christliche Soziallehre ausführlich befasst und aufgezeigt, inwieweit bereits die Begriffe der Freiheit und Gerechtigkeit bei diesen drei Grundüberzeugungen unterschiedlich definiert werden, dass aber beide Zielsetzungen im allen drei Weltbildern ihren Niederschlag finden und dass der Unterschied viel eher darin gesehen werden muss, welches Gewicht im Konfliktfalle beide Zielsetzungen erhalten und vor allem mit welchen Mitteln der Versuch gemacht wird, diese gemeinsamen Ziele zu realisieren.

 

Hier in diesem Artikel möchte ich mich vorwiegend mit der gängigen Auffassung kritisch auseinandersetzen, dass die Positionen des Liberalismus den christlichen Grundwerten eindeutig widersprechen und dass christlicher Glaube und Sozialismus im Grunde von identischen Grundwerten ausgehen. Wir wollen bei der Beantwortung dieser beiden Fragen vor allem überprüfen, welche Antworten denn aus der Heiligen Schrift entnommen werden können.

 

 

2. Gemeinsamkeiten zwischen christlichem Glauben und Sozialismus

 

Wenn man Anhänger des Kommunismus auf die zahlreichen Verbrechen der Sowjetunion aufmerksam macht, räumen sie zwar im Allgemeinen ein, dass der in der jüngsten Vergangenheit existierende reale Kommunismus verbrecherisch gehandelt habe, trotzdem wird nach wie vor die kommunistische Idee als solche als richtig und erstrebenswert verteidigt.

 

Auf diesen Einwand hin gilt es als erstes darauf aufmerksam zu machen, dass das Eintreten für die Arbeiter und für die unteren Einkommensschichten keine Erfindung des Kommunismus darstellt, die Forderung, sich für die Armen und Gebrechlichen einzusetzen, findet sich bereits im Judentum und es war vor allem Jesus, der diese Aufgabe in den Mittelpunkt seiner Lehre rückte.

 

Aber immerhin kann man von der Feststellung ausgehen, dass sich Christentum und Sozialismus in der Zielsetzung der Sorge für die Ärmeren in unserer Gesellschaft weitgehend einig sind. Es kann somit kein Zweifel bestehen, dass der christliche Glauben genauso wie wohl jeder Sozialismus den Einsatz für die Ärmeren unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner politischen Forderungen stellt und dies sind unter anderem gerade auch zu einem großen Teil Arbeitnehmer der unteren Einkommensklassen.

 

Es waren aber in der Geschichte des Kommunismus vor allem nur einige Frühsozialisten während der Französischen Revolution von 1789, welche sich die Grundsätze der frühen Urchristen in Jerusalem nach der Hinrichtung von Jesus zu eigen gemacht hatten. Die Urchristen teilten ihr Eigentum großzügig mit ihren Glaubensgenossen und bildeten somit eine Art kommunistischer Gemeinschaft.

 

Dass sie dies taten, hing jedoch mit der historischen Situation zusammen. Auf der einen Seite waren sie der Überzeugung, dass in sehr kurzer Zeit – in einigen wenigen Monaten oder höchstens Jahren – die Endzeit anbrechen würde, sodass es nicht mehr notwendig oder erwünscht gewesen sei, sich um irdische Fragen zu sorgen. Auf der anderen Seite schweißte jedoch auch die gemeinsame Verfolgung zunächst durch die jüdischen Kirchenbehörden, später aber auch durch den römischen Kaiser, vor allem Nero, die Mitglieder der christlichen Urkirche zusammen.

 

Karl Marx hatte diese Ausrichtung der Frühsozialisten als utopisch verworfen, er wollte vielmehr im Rahmen seines von ihm gegründeten wissenschaftlichen Sozialismus nachweisen, dass die tatsächlichen Entwicklungsgesetze der Geschichte notwendiger Weise zu einem kommunistischen Gesellschaftsordnung führen müssten.

 

Als Schüler Hegels war er zwar überzeugt, dass sich die geschichtliche Entwicklung in einem Dreierschritt vollziehe, einer These folge eine Antithese und aus der Auseinandersetzung zwischen These und Antithese setze sich schließlich eine Synthese durch. Marx war allerdings der Auffassung, die Hegel’sche Lehre stehe auf dem Kopf und müsse deshalb auf die Füße gestellt werden, es seien nämlich nicht die Ideen, wie Hegel vermeint habe, welche die geschichtliche Entwicklung vorantrieben, sondern die materiellen realen Verhältnisse. In diesem Entwicklungsprozess erfüllten die Ideen lediglich die Rolle einer Ideologie, welche den jeweils Herrschenden die Möglichkeit einräumt, ihre Machtposition zu festigen.

 

Karl Marx hat sehr viel über die Wirkungsweise und Mängel des kapitalistischen Wirtschaftssystems geschrieben, aber nur ansatzweise über die in einer kommunistischen Gesellschaft geltenden Wirkungszusammenhänge nachgedacht. Aber gerade dann, wenn man die Vorstellungen von Marx über die Rolle der Ideen im Rahmen eines Gesellschaftssystems auch auf den Kommunismus übertragen würde, müsste man eigentlich erkennen, dass sich die als kommunistisch bezeichneten Ideen ohne die vom Sowjetkommunismus durchgeführte Diktatur des Proletariats gar nicht verwirklichen lassen. Es ist also falsch zu meinen, dass sich ein kommunistisches System einrichten ließe, ohne dass man die Grundsätze einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie aufgibt.

 

So haben auch die Sozialdemokraten während der Weimarer Republik richtig erkannt, dass eine durchgehende, für alle Wirtschaftsbereiche vollzogene Verstaatlichung des Erwerbsvermögens der staatlichen Bürokratie eine solche Machtfülle verleihen würde, dass eine demokratische Kontrolle der staatlichen Exekutive seitens des Parlaments gar nicht mehr möglich wäre und gerade aus dieser Erkenntnis heraus beschränkten sich damals die Sozialdemokraten auf die Forderung, nur einige wenige Schlüsselindustrien zu verstaatlichen.

 

Befassen wir uns nun etwas ausführlicher mit der Frage, inwieweit bereits in den Schriften des Alten Testaments die Forderung nach einer tatkräftigen Unterstützung der Armen zu finden ist. Im zweiten Buch Moses, Exodus Kapitel 22, 24 heißt es: ‚Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern.

 

Und im 3. Buch Moses, Levitikus Kapitel 19, 10-22 lesen wir: ‚In deinem Weinberg sollst du keine Nachlese halten und die abgefallenen Beeren nicht einsammeln. Du sollst sie dem Armen und dem Fremden überlassen. Ich bin der Herr, euer Gott…. Wenn ihr die Ernte eures Landes einbringt, sollst du dein Feld nicht bis zum äußersten Rand abernten und keine Nachlese deiner Ernte halten. Du sollst das dem Armen und dem Fremden überlassen. Ich bin der Herr, euer Gott.

 

Im fünften Buch Moses, Deuteronomium Kapitel 15,11 schließlich heißt es: ‚Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem Not leidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen.‘

 

Die Verpflichtung, den Armen zu helfen, findet sich dann auch in den späteren Schriften des Alten Testamentes, so etwa bei Tobias Kapitel 2,2 und Kapitel 4,7: ‚Ich setzte mich zu Tisch; als ich aber die vielen Speisen sah, sagte ich zu meinem Sohn: Geh zu unseren Brüdern, und wenn du einen Armen findest, der dem Herrn treu geblieben ist, bring ihn her; ich warte auf dich…Allen, die gerecht handeln, hilf aus Barmherzigkeit mit dem, was du hast. Sei nicht kleinlich, wenn du Gutes tust. Wende deinen Blick niemals ab, wenn du einen Armen siehst, dann wird auch Gott seinen Blick nicht von dir abwenden.

 

Und in ähnlicher Weise heißt es auch im Buch Sirius in Kapitel 4,1-8 und 7,32: ‚Neige dem Armen dein Ohr zu und erwidere ihm freundlich den Gruß!.. Mein Sohn, entzieh dem Armen nicht den Lebensunterhalt und lass die Augen des Betrübten nicht vergebens warten!‘… Streck deine Hand auch dem Armen entgegen, damit dein Segen vollkommen sei.‘

 

Dieser Grundgedanke wird dann von Jesus im Neuen Testament aufgegriffen und vertieft. Die zentrale Rolle, die Jesus der Sorge um die Bedrängten zuerkannte, wird deutlich in der Frage eines Pharisäers nach dem obersten Gebot. Bei Matthäus Kapitel 22,34-40 lesen wir:

 

34 ‚Als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie (bei ihm) zusammen.

35 Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn:

36 Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?

37 Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.

38 Das ist das wichtigste und erste Gebot.

39 Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

40 An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.‘

 

Hier wird deutlich, dass für Jesus die Achtung und Sorge für den Mitmenschen für den christlichen Glauben genauso wichtig ist wie die Gottesliebe und dass er in dieser Frage mit dem Glauben der Juden übereinstimmte. Und wohl an keiner anderen Stelle des Neuen Testamentes kommt die zentrale Bedeutung des tatkräftigen Einsatzes für die Armen und Kranken deutlicher zum Ausdruck als in der Rede Jesu über das Weltgericht bei Matthäus Kapitel 25,31–46:

 

31  ‚Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen.

32  Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet.

33  Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken.

34  Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.

35  Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen;

36  ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.

37  Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? 

38  Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?

39  Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

40  Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

41  Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! 

42  Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben;

43  ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.

44  Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?

45  Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.

46  Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.‘

 

 

3. Unterschiede zwischen christlichem Glauben und Sozialismus

 

Wenn auch im Hinblick auf das Ziel der Gerechtigkeit zwischen Christlichem Glauben und dem Sozialismus weitgehend gleiche Inhalte verfolgt werden, ergeben sich im Hinblick auf die erwünschte Verwirklichung dieses Zieles zwischen diesen beiden Weltbildern beachtliche Unterschiede.

 

Der Sozialismus versucht das Ziel der Gerechtigkeit dadurch zu erreichen, dass er die wirtschaftlichen Ergebnisse im Rahmen einer vom Staat gelenkten Planwirtschaft bestimmt. Dies bedeutet auf der einen Seite, dass staatliche Pläne darüber entscheiden, wie die knappen wirtschaftlichen Ressourcen eingesetzt, welche Güter also produziert werden und welche technische Verfahren gewählt werden. Auf der anderen Seite legt der Staat aber auch fest, wie die Gesamtproduktion auf die einzelnen Bürger verteilt wird und wie deshalb auch dem Ziel der Gerechtigkeit zu entsprechen ist. Zur Finanzierung der staatlichen Ziele werden also in allererster Linie Steuern zwangsweise von den einzelnen Bürgern erhoben.

 

Nun sollte man sich darüber im Klaren sein, dass dadurch, dass die einzelnen Menschen gezwungen werden, einen Teil ihres Einkommens in Form von Steuern abzuführen und damit indirekt dazu beizutragen, dass dem Gebot der Gerechtigkeit und Fürsorge für die Armen entsprochen wird, kein Mensch auf diese Weise im moralischen Sinne bereits gut wird und seine moralischen Verpflichtungen zur Nächstenliebe und zur Fürsorge gegenüber den Armen gerecht wird.

 

Ganz im Gegenteil, es ist zu befürchten, dass gerade der Umstand, dass die Einzelnen gezwungen werden, einen beachtlichen Teil ihres Einkommens in Form von Einkommenssteuern abzuführen und auch beim Kauf der einzelnen Güter und Dienstleistungen letztendlich die an den Staat abzuführenden Umsatz- und Verbrauchssteuern im Preis zu tragen haben, kann bei einem großen Teil der Steuerzahler zu der Überzeugung beitragen, dass dem Gebot der Nächstenliebe bereits voll entsprochen sei, dass das verbleibende Nettoeinkommen nun auch guten Gewissens für den eigenen Bedarf ausgegeben werden darf. Das Gebot der Nächstenliebe hat stets zwei Seiten. Es kommt nicht nur darauf an, dass man seiner Verpflichtung zur Beteiligung an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben nachkommt, sondern dass man auch von sich aus seinem Nächsten die Hilfe und Achtung erweist, die jener bedarf.

 

Und wenn nun ein Steuerzahler davon überzeugt ist, dass der Staat ihn über Gebühr zur Steuer heranzieht, besteht sogar die Gefahr, dass er durch Anwendung fragwürdiger Praktiken selbst bemüht ist, Steuern zu hinterziehen oder zumindest zu umgehen. Wenn schon der Staat in den Augen mancher Steuerzahler zu fragwürdigen Praktiken greift, dann hält man sich auch für berechtigt, ebenfalls zu solchen Maßnahmen zu greifen und manche rechtfertigen ihr Verhalten dann damit, dass sie sich nur das wiederum zurückholen, was ihnen zuvor der Staat zu Unrecht – so meinen sie – zwangsweise abverlangt hat.

 

Schon immer bestanden gewisse Vorstellungen darüber, wie hoch denn der Anteil des persönlichen Einkommens maximal sein solle, der an die Gemeinschaft abzuführen ist. So wird im Alten Testament schon sehr früh die Forderung erhoben, ein Zehntel seines Einkommens an die Gemeinschaft abzuführen. So heißt es im 5. Buch Moses, Deuteronomium Kapitel 14,22: ‚Du sollst jedes Jahr den Zehnten von der gesamten Ernte geben, die dein Acker erbringt aus dem, was du angebaut hast‘.

 

Im Buch Tobit Kapitel 1,7-8 wird sogar von mehreren Zehnten gesprochen, die der Einzelne aufbringen sollte: ‚Den ersten Zehnten aller Feldfrüchte gab ich den Leviten, die in Jerusalem Dienst taten. Den zweiten Zehnten verkaufte ich und verwendete den Erlös alljährlich für meine Wallfahrt nach Jerusalem. Den dritten Zehnten gab ich denen, für die er bestimmt war, wie es Debora, die Mutter meines Vaters, geboten hatte.‘

 

Auf jeden Fall hielt sich bis weit ins Mittealter die Vorstellung, dass der einzelne nicht verpflichtet werden sollte, im Normalfall wesentlich mehr als etwa ein Drittel seines Einkommens an die Gemeinschaft zu zahlen, wobei selbstverständlich davon ausgegangen wurde, dass der Reichere auch entscheidend mehr zu entrichten habe als derjenige, der über ein geringeres Einkommen verfügt. Aus dieser Sicht mag es durchaus erklärbar (natürlich nicht gerechtfertigt!) sein, dass viele Bürger sich überfordert halten, wenn der Staat im Rahmen der direkten und indirekten Steuern weit mehr als 50% ihrer Einkommen fordert.

 

Jesus hat sich nun an keiner Stelle gegen die Entrichtung des Zehnten gewandt, er geißelte jedoch ein Verhalten, in dem lediglich – möglichst buchstabengetreu – die gesetzlichen Verpflichtungen eingehalten wurden, darüber aber viel wichtigere Gebote Gottes wie das der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit  hintangestellt wurden. Bei Lukas Kapitel 11,37-54 erfahren wir:

 

37 ‚Nach dieser Rede lud ein Pharisäer Jesus zum Essen ein. Jesus ging zu ihm und setzte sich zu Tisch.

38 Als der Pharisäer sah, dass er sich vor dem Essen nicht die Hände wusch, war er verwundert.

39 Da sagte der Herr zu ihm: O ihr Pharisäer! Ihr haltet zwar Becher und Teller außen sauber, innen aber seid ihr voll Raubgier und Bosheit.

40 Ihr Unverständigen! Hat nicht der, der das Äußere schuf, auch das Innere geschaffen?

41 Gebt lieber, was in den Schüsseln ist, den Armen, dann ist für euch alles rein.

42 Doch weh euch Pharisäern! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Gewürzkraut und allem Gemüse, die Gerechtigkeit aber und die Liebe zu Gott vergesst ihr. Man muss das eine tun, ohne das andere zu unterlassen.

43 Weh euch Pharisäern! Ihr wollt in den Synagogen den vordersten Sitz haben und auf den Straßen und Plätzen von allen gegrüßt werden.

44 Weh euch: Ihr seid wie Gräber, die man nicht mehr sieht; die Leute gehen darüber, ohne es zu merken.

45 Darauf erwiderte ihm ein Gesetzeslehrer: Meister, damit beleidigst du auch uns.

46 Er antwortete: Weh auch euch Gesetzeslehrern! Ihr ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum tragen können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür.

 

Und im Jakobusbrief Kapitel 2,2-6 heißt es: ‚Wenn in eure Versammlung ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung kommt, und zugleich kommt ein Armer in schmutziger Kleidung, und ihr blickt auf den Mann in der prächtigen Kleidung und sagt: Setz dich hier auf den guten Platz!, und zu dem Armen sagt ihr: Du kannst dort stehen!, oder: Setz dich zu meinen Füßen, macht ihr dann nicht untereinander Unterschiede und fällt Urteile aufgrund verwerflicher Überlegungen? … Ihr aber verachtet den Armen.‘

 

Schließlich wird bei Matthäus Kapitel 6,1-4 das heuchlerische Verhalten bei der Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe gebrandmarkt:

 

1 ‚Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen; sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten.

2 Wenn du Almosen gibst, lass es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten.

3 Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.

4 Dein Almosen soll verborgen bleiben und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.‘

 

Die Art und Weise, in der Jesus das Erfüllen der Nächstenliebe sieht, kommt deutlich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Lukasevangelium Kapitel 10,29-37 zum Ausdruck:

 

29 ‚Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?

30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.

31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.

32 Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.

33 Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid,

34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.

35 Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.

36 Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?

37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso! 

 

Dieses Gleichnis macht deutlich:

 

1. Das Gebot der Nächstenliebe richtet sich in aller erster Linie an den Einzelnen und verlangt persönlichen Einsatz, im Dienst am Nächsten. Dies bedeutet nicht, dass eine kollektiv durchgeführte Hilfe gar nicht notwendig ist: ‚Man muss das eine tun, ohne das andere zu unterlassen.‘ Die Hilfe gegenüber dem Nächsten darf sich aber nicht darin erschöpfen, dass man sich an einer kollektiven Hilfe beteiligt, also z. B. regelmäßig die geforderte Steuerschuld entrichtet.

 

2. Der Grund dafür, dass eine kollektive Hilfe nicht ausreicht, dass es vielmehr darüber hinaus auch eines persönlichen Einsatzes jedes Einzelnen bedarf, liegt darin, dass ein kollektives Hilfssystem niemals so perfekt sein kann, dass jede erforderliche Hilfe auch gewährt werden kann. Jedes kollektive System ist aus mehreren Gründen unvollkommen und bedarf der Ergänzung.

 

Die Unvollkommenheit ergibt sich hierbei einmal daraus, dass stets damit gerechnet werden muss, dass einzelne, welche im Auftrag der Gemeinschaft tätig werden, entweder aus Unvermögen, bisweilen aber auch aus Boshaftigkeit handeln und damit die beabsichtigen Gemeinwohlziele verfehlen. Zum andern würde jedoch selbst dann, wenn man nicht mit solchen Unzulänglichkeiten rechnen müsste, immer noch gelten, dass die gesellschaftlichen Zusammenhänge so komplex sind, dass es gar nicht möglich ist, jedem einzelnen Hilfsbedürftigen vollkommen gerecht zu werden. Schließlich leben wir in einer dynamischen Welt, in der sich die Ausgangsbedingungen immer wieder ändern, sodass eine gesetzliche Regelung immer hinter der tatsächlichen Entwicklung hinterherhinkt und auf diese Weise immer wieder von Neuem Ungerechtigkeiten hervorruft.

 

3. Im Rahmen des christlichen Glaubens geht es nie nur um die Regelung irdischer Probleme. Das Gebot der Nächstenliebe erfüllt nicht nur die Aufgabe, das Los der Armen zu verbessern, sondern dient vor allem dem Zweck, dass die Menschen ein solches Verhalten erlernen, um dann auch am ewigen Leben, am Reich Gottes teilnehmen zu können.

 

4. Bei der Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe kommt es nicht nur, vielleicht noch nicht einmal primär darauf an, wie viel materielle Hilfe im Einzelnen gewährt wird. Genauso wichtig oder vielleicht sogar wichtiger ist die Art und Weise, wie die Hilfe gewährt wird. Sie muss von Herzen kommen, sie muss zum Ziel haben, dem andern tatsächlich zu helfen und nicht etwa, das Ansehen des Spenders in den Augen der Mitmenschen zu fördern. Auch eine Hilfe, welche lediglich darin besteht, den anderen zu trösten, ihm seelischen Beistand zu gewähren, in ihm den Eindruck zu erwecken, dass er in seiner Not nicht allein ist, kann das Gebot der Nächstenliebe erfüllen.

 

Der Sozialismus und die christliche Religion unterscheiden sich weiterhin in der Rolle, welche dem Eigentum zugedacht wird. Ein Kommunist ist davon überzeugt, dass das Privateigentum am Erwerbsvermögen letztendlich lediglich dazu dient, die Arbeiterklasse auszubeuten.

 

Dem Privateigentum des Kapitalisten ist es entsprechend des von Karl Marx entwickelten wissenschaftlichen Sozialismus zu verdanken, dass der Unternehmer dem Arbeiter als Lohn nicht den gesamten Ertrag der Arbeit aushändigen muss, sondern nur den Wert der Arbeitskraft, der wie der Wert jeder Ware – auch der Arbeitskraft – nur den notwendigen Herstellungskosten der Ware entspricht und dies bedeutet bei der Regeneration der Arbeitskraft nur das Existenzminimum, das zur Erhaltung der Arbeitskraft unerlässlich ist.

 

Dem Privateigentum ist es dann zu verdanken, dass dem Kapitalgeber ein Mehrwert (die Differenz zwischen dem vom Arbeiter erzeugten Wert und dem Wert der Arbeitskraft) zufällt. Um diese Ausbeutung zu vermeiden, wird im Rahmen des Sozialismus die Forderung erhoben, das gesamte Erwerbsvermögen zu verstaatlichen. Nur auf diese Weise lasse sich der gesamte Wirtschaftsapparat von einer zentralen staatlichen Planungsbehörde aus lenken und kontrollieren.

 

Im Alten Testament wird hingegen im Gegensatz hierzu dem Privateigentum eine entscheidende Bedeutung zuerkannt. In den zehn Geboten Gottes, welche Moses dem Volk Israel vom Berge Sinai auf zwei steinernen Tafeln mitgebracht hatte und welche sozusagen die Magna Charta des jüdischen wie auch später des christlichen Glaubens darstellen, wird der Schutz des Eigentums sogar zweimal erwähnt, obwohl sich diese Anweisungen Gottes im Hinblick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen gerade nur in sieben Geboten äußern: Das siebte Gebot verlangt, dass die Menschen nicht stehlen sollen, sie also nicht das den Einzelnen zugesprochene Eigentum rauben sollen, während das 10. Gebot den Menschen verbietet, das Hab und Gut der jeweils anderen Menschen zu begehren.

 

Zwar kennt das Alte Testament die Einrichtung des Jubeljahres, in welcher das Eigentum an Sklaven wie auch an sachlichen Gütern nach 50 Jahren wiederum an den bisherigen Besitzer zurückgegeben werden soll. Dass gerade nach allen 50 Jahren ein neues Jubeljahr und damit auch ein neuer Anfang beginnen soll, hängt mit dem Schöpfungsbericht der Genesis zusammen. Der Schöpfungsbericht im ersten Buch Moses erzählt über die Erschaffung der Welt und berichtet über die Entwicklung dieser Schöpfung, in dem die einzelnen Entwicklungsphasen bildhaft in sieben Tagen zusammengefasst werden.

 

Und genau so, wie Gott bildlich gesprochen die Welt in sieben Tagen erschaffen hat und für den siebten Tag (dem Sabbath) auch den Menschen einen Ruhetag verordnet hat, genau so soll nun auch nach sechs Jahren ein siebtes, ein Sabbath-Jahr eingehalten werden und nach dem wiederum sieben Sabbath-Jahre vergangen sind, soll mit der Einfügung eines Jubeljahres dieser gesamte Zyklus von sieben mal sieben Jahren neu beginnen.

 

Was aber auf den ersten Blick als ein Hinweis darauf erscheinen mag, dass nach Ablauf eines halben Jahrhunderts die durch wirtschaftliche Aktivitäten erworbenen Vermögensunterschiede wiederum aufgehoben werden sollen, erweist sich bei näherem Hinsehen eher als eine Bestätigung der Eigentumsordnung.

 

Vor allem sollte die Bedeutung des Jubeljahres nicht überschätzt werden. Es wird erstens bezweifelt, ob in der langen Geschichte des Judentums diese Vorschriften auch tatsächlich jemals eingehalten wurden, es wird bisweilen auch davon gesprochen, dass diese Einrichtung für jene Zeit angedacht war, nachdem der von den Propheten verheißene Messias erschienen und das Volk der Juden endgültig von der Besatzung fremder Mächte befreit worden sei.

 

Zweitens sollen ja nach diesen Bestimmungen nur jene Vermögen zurückgegeben werden, welche von anderen Personen erworben wurden, es wird nicht davon gesprochen, dass auch das an die Kinder vererbte Vermögen sowie das gesamte Vermögen, das durch eigene Anstrengungen, z. B. Landnahme jungfräulichen Bodens, welcher bisher niemandes Eigentum war, umzuverteilen ist.

 

Nun wird man davon ausgehen müssen, dass mit dieser Bestimmung in allererster Linie jene Fälle angesprochen werden, bei denen ein Vermögender in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war und sich seiner Schulden nur dadurch erwehren konnte, dass er seinen gesamten Besitz an seine Gläubiger verkaufen musste. Aus diesem Blickwinkel betrachtet tragen die Bestimmungen des Jubeljahres lediglich dazu bei, dass diejenigen, welche vielleicht aus Gründen, die sie gar nicht zu vertreten haben, in Not geraten waren und eventuell aus diesen Gründen sogar versklavt wurden, nicht ins Uferlose abstürzen und dass diese Not vor allem nicht auf die Kinder und Kindeskinder weitervererbt wird.

 

Damit ist zugleich ein weiterer Unterschied zwischen dem jüdischen und christlichen Glauben und den kommunistischen Ideen angesprochen. Wenn auch zumindest der real existierende Kommunismus der jüngsten Vergangenheit zu keinen Zeiten den Versuch unternommen hat, das gesamte Einkommen und Vermögen im Sinne einer Egalität vollkommen gleich zu verteilen, zeichnet sich der Sozialismus doch darin aus, dass Unterschiede zwischen den individuellen Einkommen und Vermögen nur in begrenztem Maße erlaubt sein sollten, zu große Unterschiede werden als Diebstahl am Volksvermögen gebrandmarkt und deshalb über eine umverteilende Steuerpolitik bekämpft.

 

Demgegenüber lassen sich in der Heiligen Schrift keine Ansätze dafür finden, dass der Unterschied zwischen den individuellen Einkommen und Vermögen als solche unerwünscht und deshalb zu bekämpfen sind. Betrachten wir hierzu das Gleichnis vom anvertrauten Geld. Bei Matthäus Kapitel 25,14-30 lesen wir:

 

14 ‚Es ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging: Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an.

15 Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten. Dann reiste er ab. Sofort

16 begann der Diener, der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu.

17 Ebenso gewann der, der zwei erhalten hatte, noch zwei dazu.

18 Der aber, der das eine Talent erhalten hatte, ging und grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn.

19 Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück, um von den Dienern Rechenschaft zu verlangen.

20 Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazugewonnen.

21 Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!

22 Dann kam der Diener, der zwei Talente erhalten hatte, und sagte: Herr, du hast mir zwei Talente gegeben; sieh her, ich habe noch zwei dazugewonnen.

23 Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!

24 Zuletzt kam auch der Diener, der das eine Talent erhalten hatte, und sagte: Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast;

25 weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder.

26 Sein Herr antwortete ihm: Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe.

27 Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten.

28 Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!

29 Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.

30 Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.‘  

 

Nun dürfen wir natürlich dieses Gleichnis nicht dahin gehend missverstehen, dass hier sozusagen ein Verhaltenskodex über die in den Bildern der Gleichnissen angesprochenen Handlungen formuliert werden soll. Gleichnisse erfüllen stets die Funktion, etwas Unbekanntes und auch schwer Verstehbares dem Zuhörer dadurch näher zu bringen, dass man auf bereits Bekanntes hinweist und dass das zu Erklärende durch diese bekanten Tatsachen verstehbar werden soll. Dabei gilt, dass Vergleiche zumeist auch hinken, also missverständlich wirken, wenn sie wortwörtlich genommen werden und wenn versucht wird, alle Aspekte des bekannten Bildes auf die zu erklärende Problemgröße anzuwenden.

 

Übertragen auf das hier angeführte Gleichnis vom anvertrauten Geld soll also hier keine Aussage darüber gemacht werden, wie Vermögen auf die einzelnen Menschen verteilt werden sollen. Es geht in diesem Gleichnis auch gar nicht primär um die Verteilung des Vermögens hier auf Erden, das Bild von der Verteilung der Vermögen an die einzelnen Verwalter will vielmehr darauf aufmerksam machen, dass auch die Menschen im Hinblick auf die Fähigkeiten, Gottes Botschaft aufzunehmen und zu befolgen, sehr wohl Unterschiede aufweisen.

 

Während der eine vielleicht den Glauben bereits in die Wiege gelegt bekam und durch seine ganze Konstitution und durch seine Eltern und Bekannten auch nur in sehr geringem Maße zu sündhaftem Verhalten verführt wurde, ist ein anderer vielleicht starken Trieben und immer wiederkehrenden Versuchungen ausgesetzt, sodass er sehr viel mehr an sich arbeiten muss, um trotzdem letzten Endes zum Glauben zu finden.

 

Trotz dieser Begrenzung der Aussage dieses Gleichnisses wird man sich jedoch fragen müssen, warum Jesus wie selbstverständlich davon ausgeht, dass der Gutsbesitzer seinen Verwaltern unterschiedliche Vermögen anvertraut und warum nicht dann, wenn sogar bei der viel wichtigeren Frage nach der Sorge für das ewige Leben von unterschiedlichen Veranlagungen ausgegangen wird, auch bei der viel weniger wichtigen Frage nach der Verteilung der irdischen Güter es so verwerflich sein soll, dass den Menschen unterschiedliche Vermögen anvertraut werden.

 

Vielleicht ist es der vollkommen falsche Blickpunkt, wenn man die Verteilung der Vermögen in erster oder sogar ausschließlicher Linie als eine Verteilung von Rechten ansieht. Vielleicht soll uns dieses Gleichnis auch darauf hinweisen, dass eine unterschiedliche Verteilung der knappen Ressourcen in allererster Linie eine Verteilung von Pflichten darstellt. Wenn ein Einzelner eine höhere Begabung aufweist als ein anderer oder auch von seinen Eltern ein höheres Vermögen geerbt hat als ein zweiter, so bedeutet dies zunächst nur, dass er überdurchschnittliches bewirken kann und dass er auch die Verpflichtung hat, die ihm geschenkten Fähigkeiten für das Gemeinwohl einzusetzen. Dass dann mit den höheren Verpflichtungen auch höhere Rechte übertragen wurden, ist nur die Folge davon, dass die Ausführung dieser Verpflichtungen selbst wiederum voraussetzt, dass er von diesen Rechten Gebrauch macht.

 

Diese Sichtweise, stärker auf die übertragenen Pflichten als auf die damit verbundenen Rechte zu achten, wird auch in dem oben bereits erwähnten 10. Gebot sichtbar. Das Gebot: ‚Du sollst nicht begehren deines nächsten Hab und Gut‘ heißt zunächst, du sollst nicht in erster Linie auf die besseren Voraussetzungen des anderen neidisch sein, sondern bedenken, dass größerer Besitz auch größere Pflichten gegenüber der Allgemeinheit miteinschließt und dass es sehr viel sinnvoller ist als neidisch auf den Besitz des anderen zu schielen, sich darum zu kümmern, seine eigenen Fähigkeiten und Mittel zu entfalten und so effizient wie möglich einzusetzen.

 

 

Fortsetzung folgt!