Der Mensch, das Maß aller Dinge

 

 

Gliederung:

 

0. Problemeinführung

1. Erste Interpretation:   Gültig für jeden Einzelnen

2. Zweite Interpretation: Gültig für die gesamte Menschheit

3. Dritte Interpretation:  Kein Mensch darf Mittel zum Zweck sein

 

 

 

0. Problemeinführung

 

Über der Aufklärung, welche etwa ab Ende des 17. Jahrhundert von England ausging und während des 18. Jahrhunderts die philosophischen Lehren des Abendlandes prägte, könnte der Leitspruch stehen: Der Mensch ist das Maß aller Dinge.

 

Dieser Leitsatz, auch Homo-Mensura-Satz genannt, soll als erster von Protagoras formuliert worden sein. Protagoras lebte um 485 bis ca. 415 vor Christus und war ein griechischer Philosoph aus Abdera (Thrakien). Mit etwa 40 Jahren kam Protagoras nach Athen und agierte als Lehrer und Philosoph, wobei er freundschaftliche Beziehungen zu Perikles pflegte. Er war auch der Begründer der Schule der Sophisten, welche ihre Schüler gegen Entgelt unterrichtet hatten.

 

Vor allem unterrichtete Protagoras seine Schüler in Rhetorik, wobei seine Schüler die Fähigkeit erlernen sollten, Standpunkte zu vertreten und zu verteidigen, unabhängig davon, ob sie selbst von diesem Standpunkt überzeugt waren oder nicht.

 

Protagoras war nämlich der Meinung, nichts sei absolut gut oder schlecht, wahr oder falsch, vielmehr sei der Mensch selbst das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind. 

 

Der Mensch erfahre also die Welt in der Form, in welcher sie ihm durch seine spezifisch menschliche Perspektive zugänglich sei. Deshalb sei auch das von Menschen entdeckte Wissen nicht unbedingt in einem objektiven Sinne wahr, sondern stets nur relativ, eben aus der Sicht des Menschen. Bekannt wurde Protagoras der Nachwelt durch Platon, welcher Protagoras in einem der von Sokrates geführten Dialoge auftreten ließ.

 

Einer der wichtigsten Aufklärer auf deutschem Boden war Immanuel Kant. Aufklärung bedeutet für ihn Abschied von seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Und diese bestand in dem Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen. Diese Unmündigkeit sei selbstverschuldet gewesen, da die Menschen im Abendland vor der Aufklärung nicht den Mut aufgebracht hätten, ihren Verstand und ihre Vernunft ohne Leitung eines Anderen, nämlich der kirchlichen Autorität, zu bedienen.

 

Aufgabe des Menschen sei es, nicht blind den Meinungen der Autoritäten zu folgen, sondern selbst nachzudenken. Der Mensch sei im Denken auf sich selbst gestellt, wobei seine in ihm ruhende Vernunft als Richtmaß gelte. Nur auf diese Weise gelange er zu einem besseren Verständnis seiner selbst und sei so in der Lage, die Zusammenhänge in  dieser Welt zu erkennen und auf diesem Wege auch die Lebensbedingungen zu verbessern.

 

Seine praktische Vernunft bestünde dann darin, dass er nicht nur in seinem Denken, sondern auch in all seinem Handeln autonom sei und somit die Ziele und Prinzipien seines Handelns als moralische Gesetze selbst bestimme. Insofern könne man davon sprechen, dass der Mensch frei sei. Kants Lebensphilosophie lässt sich dann auch in dem Satz „Sapere aude!” zusammenfassen: ‚Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen!‘

 

Eines der wichtigsten Folgerungen aus dieser Lehre ist die Maxime, dass der Mensch niemals Mittel für andere Zwecke gleich welcher Art sein dürfe. Der Mensch sei stets Selbstzweck, also letzter Zweck allen Handelns. Und diese Haltung bedeutet Abkehr von einer mystisch-spekulativen Tradition. Überlieferte Werte, Institutionen, Konventionen und Normen wurden also bewusst in Frage gestellt und auf ihre rationale Legitimation hin überprüft.

 

Kant scheint somit davon überzeugt zu sein, dass die Menschen lediglich durch Gebrauch ihrer angeborenen Vernunft in der Lage sind, zu erkennen, was für den Menschen gut ist und dementsprechend auch die Bewertung der Auswirkungen bestimmter Maßnahmen erkennen können. Mit Hilfe des Verstandes könne der Mensch die Wirkungen seines Handelns, mit Hilfe der Vernunft hingegen die Bewertung dieser Wirkungen feststellen.

 

Diese Schlussfolgerung gerät jedoch mit den Feststellungen Bentham’s in Widerspruch, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass es schon aus logischen Gründen nicht möglich ist, aus empirischen Sachverhalten allein normative Schlussfolgerungen abzuleiten. Eine normative Schlussfolgerung setzt stets mindestens eine normative Prämisse voraus, welche selbst wiederum ohne ausreichende Begründung eingeführt werden muss.

 

Max Weber hat dann später diese Erkenntnis zum Anlass genommen, für die Wissenschaftler das Postulat der Werturteilsfreiheit zu fordern. Danach hat sich der Wissenschaftler dann, wenn er in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler die Politiker berät, jeglichen Werturteils zu enthalten, da jede Bewertung bei den Politikern den Eindruck hervorrufen könnte, dass auch die Bewertung wissenschaftlich nachgewiesen werden könnte und damit auch in der Politik übernommen werden müsste. Natürlich hat Max Weber dem Wissenschaftler nicht verwehrt, als Bürger seine eigenen politischen Überzeugungen offen zu legen, aber in diesem Kontext kann der Meinung des Wissenschaftlers gegenüber der Meinung aller anderen Diskutanten auch kein Vorrang eingeräumt werden.

 

Vor allem im Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsidee wird oftmals die Meinung vertreten, dass die Einhaltung des Gebotes, niemand zu schaden, letzten Endes dem Eigeninteresse ebenfalls nütze, da ja dann dieses Gebot auch für die andern gilt und auch diese davon ablassen, mir selbst zu schaden. Man könne also mit Kant unter Hinzuziehung der Vernunft die obersten Werte der Gerechtigkeit eindeutig beweisen.

 

Diese Beweisführung setzt jedoch stillschweigend voraus, dass alle Handlungen der Öffentlichkeit bekannt sind. Diese Annahme entspricht jedoch keinesfalls der Wirklichkeit. Wir müssen stets mit der Möglichkeit rechnen, dass ein Verbrecher eine Tat begeht und dass es ihm gelingt, vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, dass diese Tat von ihm begangen wurde.

 

Wenn aber eine Geheimhaltung von Maßnahmen, welche anderen Personen schaden, möglich ist, ist die Schlussfolgerung, dass Jeder eigentlich ein Interesse daran habe, dass  Niemand dem Anderen schade, nicht mehr allgemein gültig. In diesem Falle stellt sich ja der Verbrecher besser, wenn auf der einen Seite alle übrigen dieses Gebot ihm gegenüber einhalten, und wenn er aber auf der anderen Seite sich selbst nicht an dieses Gebot hält und dem anderen Schaden zufügt und dadurch seinen Nutzen vermehrt.

 

Natürlich wäre es richtig, dass dann, wenn diese anderen erkennen könnten, dass der ihnen zugefügte Schaden von dem tatsächlichen Täter ausgegangen ist, diese auch ihr Wohlwollen gegenüber diesem Täter aufgeben würden und dass sich dann der Verbrecher selbst per saldo schaden würde. Er hätte zwar einen partiellen Gewinn daraus, dass er Anderen Schaden zufügt, dieser Vorteil würde aber dadurch wiederum kompensiert, dass eben nun auch die Anderen zurückschlagen und ihm ebenfalls Schaden zufügen.

 

Nun müssen wir in der Tat davon ausgehen, dass in Wirklichkeit tatsächlich ein Großteil der Verbrechen gerade deshalb nicht nur gewünscht, sondern auch ausgeführt wird, weil der Verbrecher davon überzeugt ist, dass es ihm gelingt, seine Täterschaft geheim zu halten. 

 

Nun hängt die Fähigkeit, die Täterschaft geheim zu halten, selbst wiederum von der Verteilung der Macht ab. Je mächtiger jemand ist, um so eher hat er auch die Möglichkeit, seine Täterschaft zu verheimlichen. Er kann z. B. Zeugen kaufen, welche dem Täter ein Alibi verschaffen. Ist Jemand besonders mächtig gegenüber Anderen, so ist er sogar in der Lage, die Tat öffentlich für Alle zu begehen und kann jeweils die Anderen trotzdem dazu zwingen, ihm selbst nicht zu schaden oder auch Vorkehrungen zu treffen, aufgrund derer er keinen Schaden von Anderen zu befürchten hat.

 

Im Bereich der Wissenschaften brachte die Aufklärung eine zunehmende Bedeutung der Naturwissenschaften, es galt die Natur und nicht die Schriften der griechischen und römischen Philosophen sowie die Bibel zu studieren und diese Zuwendung endete in einem außerordentlichen Siegeszug in der Erkenntnis unserer Welt.

 

Obwohl die Aufklärer die Kirchen heftig kritisierten, vertraten die Aufklärer der ersten Generation keineswegs einen reinen Atheismus, welcher die Existenz Gottes leugnet, sie waren mehrheitlich Anhänger eines Deismus, wonach zwar ein Gott die Erde und die Welt aus dem Nichts erschaffen habe, sich dann aber vollkommen zurückgezogen habe und deshalb nicht wie die christlichen und jüdischen Religionen gelehrt haben, das Geschehen hier auf Erden stets beobachte und auch durch Eingriffe in das irdische Geschehen aktiv lenke.

 

In der praktischen Politik wurde vor allem von den Initiatoren der französischen Revolution von 1789 der Versuch unternommen, die Gedanken der Aufklärung zu verwirklichen. Die Monarchie wurde abgeschafft, die offizielle Kirche entmachtet und der Leitspruch: Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit wurde als oberste Maxime postuliert. Um zu verhindern, dass sich ein radikaler Atheismus durchsetze, führte Robespierre den »Kult der Vernunft und das Fest des höchsten Wesens« als Staatsreligion ein.

 

 

1. Erste Interpretation:   Gültig für jeden Einzelnen

 

Befassen wir uns mit dem Leitprinzip, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei, etwas ausführlicher. Diese Aussage lässt sich in unterschiedlicher Weise interpretieren. Es kann erstens damit die Überzeugung formuliert sein, dass es stets der Mensch sei, der die Ziele und Zwecke menschlichen Handelns festzulegen habe, also Maß gebe und auch festlege. Er, der Mensch, bestimme den Maßstab, wonach alles Geschehen zu beurteilen sei. Negativ ausgedrückt gibt es entsprechend dieser Interpretation keine den Menschen übergeordnete göttliche Instanz, welche dem Menschen vorschreibt, was er zu tun und zu lassen hat.

 

Was verstehen wir jedoch unter dem Menschen, dessen Recht und Aufgabe es ist, die letzten moralischen Maximen festzulegen? Man könnte darunter jeden einzelnen Menschen verstehen oder auch die Menschheit in ihrer Gesamtheit, etwa vertreten durch den Staat oder auch die Staatengemeinschaft.

 

Nach der ersten Interpretation kann also jeder einzelne Mensch für sich bestimmen, was für ihn gut ist und was er tun darf und was er unterlassen soll. Nun müssen wir jedoch davon ausgehen, dass bei sehr vielen Handlungen das, was für den Handelnden gut ist und ihm Lust bringt, gleichzeitig für Andere eine Schädigung bringt. Wir können in der Realität nicht davon ausgehen, dass die Welt harmonisch gestaltet ist, dass also die einzelnen Handlungen sowohl dem Handelnden wie auch den Mitmenschen stets nützlich sind.

 

Die wirtschaftliche Situation hier auf Erden ist durch Knappheit bestimmt. Für die Befriedigung fast aller menschlichen Bedürfnisse sowie unserer anderen Zielsetzungen benötigen wir materielle Ressourcen und der Umfang aller dieser materiellen Ressourcen reicht bei Weitem nicht aus, alle unsere Bedürfnisse und Ziele zu befriedigen.

 

Es gibt bei dieser Interpretation auch keinen Grund dafür, dass sich der Einzelne nur deshalb zurück hält, weil einzelne Handlungen anderen Menschen Schaden zufügen. Wenn schon der Einzelne nicht bereit ist, eine göttliche Instanz über ihn anzuerkennen, dann gilt um so mehr, dass der Einzelne auch nicht bereit ist, sich Zielen und Werten anderer Menschen freiwillig unterzuordnen. Alle Menschen sind gleich und der Grundsatz, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, gilt für Jeden. Weshalb sollte man sich dann anderen Menschen unterordnen?

 

Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich dann ein Zustand, der vor allem von Thomas Hobbes beschrieben wurde. Thomas Hobbes lebte von 1588 bis 1679 und war englischer Philosoph, der sich vor allem mit der Staatslehre befasste. Auf seinen Reisen durch Frankreich und Italien lernte Hobbes unter anderem einige der bedeutendsten Aufklärer der damaligen Zeit kennen, so vor allem Galileo Galilei und René Descartes.

 

Als im Jahre 1637 in England der Verfassungsstreit zwischen König Karl I. und dem Parlament ausbrach, verfasste Hobbes eine Abhandlung zur Verteidigung des Hoheitsrechtes. Hobbes brach in seinen Schriften mit der Scholastik des Mittelalters. Er war darum bemüht, die Betrachtungsweisen der Naturwissenschaft auf die menschliche Gesellschaft zu übertragen. Er war davon überzeugt, dass die Menschen im Naturzustand aufgrund ihres Selbsterhaltungstriebes von unersättlichem Machtstreben erfüllt seien: „Der Mensch sei des Menschen Wolf”. Dieser unerträgliche Zustand sei nur dadurch überwunden worden, dass die Menschen zu einem Staatsvertrag bereit waren und der Gründung einer staatlichen Ordnung zustimmten. Nur auf diese Weise sei die Gewalt der Willkür besiegt worden und innerer Frieden erreicht worden.

 

Dies bedeutet aber, dass die erste Interpretation des Homo-Mensura-Satzes keine befriedigende und realisierbare Lösung darstellt. Die Ansicht Hobbes, dass sich in frühen Zeiten die Menschen ganz allgemein freiwillig dem Staat unterwarfen und damit darauf verzichtet haben, sich selbst die Werte zu setzen, entspricht zwar nicht der realen historischen Entwicklung. In der Mehrzahl der Fälle entstanden Staatsgebilde dadurch, dass mächtige Herrscher benachbarte Völker mit Waffengewalt bekämpften und besiegten. Es bleibt aber die Aussage, dass sich ein Zustand, in dem jeder sein Recht selbst in die Hand nimmt, auf lange Sicht nirgends aufrechterhalten werden konnte, ganz davon zu schweigen, dass ein solcher Zustand gerechtfertigt werden könnte.

 

 

2. Zweite Interpretation: Gültig für die gesamte Menschheit

 

Kommen wir somit zu der zweiten möglichen Interpretation unseres hier zu diskutierenden Leitsatzes, wonach der Mensch, der das Maß aller Dinge sein soll, als gesamte Menschheit verstanden wird. Fragen wir uns also, ob wir zu Recht davon sprechen können, dass die Menschen in ihrer Gesamtheit das Maß aller Dinge sein können und auch sein sollen.

 

Auch hier bleibt diese Aussage recht unbestimmt. Meinen wir mit dem Begriff Mensch, die gesamte auf der Erde lebende Menschheit oder denken wir nur an ein Staatsgebilde, das sich – zumindest bisher – immer nur auf einen Teil der gesamten Weltbevölkerung beschränkt hat.

 

Von der Idee her müssten wir eigentlich immer den Menschen als Inbegriff aller Menschen hier auf Erden verstehen. Warum sollten Teile der Weltbevölkerung bei der Festlegung der vom Menschen zu setzenden Maßstäbe ausgeschlossen bleiben?

 

De facto hat es allerdings noch nie eine Weltregierung gegeben, auch dann, wenn bisweilen Staaten wie z. B. das alte römische Reich den größten Teil des europäischen und weiterhin beachtliche Teile des asiatischen und afrikanischen Kontinents beherrscht hatten.

 

Im Rahmen der UNO werden heute zwar im Prinzip für die gesamte Menschheit Beschlüsse gefasst, die UNO hat aber keinerlei staatliche Machtbefugnisse, die einzelnen Mitgliedsstaaten zu zwingen, diese Beschlüsse auch durchzuführen, sie bleiben unverbindliche Empfehlungen. Zusätzlich wird die Macht der UNO noch dadurch eingeschränkt, dass die wichtigsten im Namen der Vereinigten Nationen gefassten Beschlüsse im Sicherheitsrat gefasst werden, in denen einige wenige Großmächte (USA, England, Frankreich, Russland und China) über ein ständiges Vetorecht verfügen, das ihnen gestattet, jeden ihnen unangenehmen Beschluss zu verhindern.

 

Man könnte nun von der Vorstellung ausgehen, dass auch dann, wenn diese Idee einer Weltregierung in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart noch nie verwirklicht war, es trotzdem in hohem Maße erwünscht wäre, dass in Zukunft einmal eine solche Weltregierung gebildet werde und dass wir alles daran setzen sollten, eine solche Weltregierung herbeizuführen.

 

Es gibt jedoch gewichtige Argumente, welche gegen die Bildung einer Weltregierung sprechen. Eine solche Weltregierung wäre ja nur dann wünschenswert, wenn die Verfassung dieses – alle Länder dieser Erde umfassenden – Staates demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien für immer garantieren würde.

 

Aber gerade diese Sicherheit kann mit keiner irdischen Macht gegeben werden. Gerade weil hier eine in der Geschichte der Menschheit noch nie verbundene Machtfülle entstehen würde, ist der Anreiz einiger lokaler Machthaber sehr groß, diesen Weltstaat zu besiegen und damit über die gesamte Welt willkürlich zu regieren. Da Machtfülle fast immer zu Machtmissbrauch führt, bedarf es gar nicht eines von außen eindringenden Machthabers, schon allein der Umstand, dass die jeweils rechtsmäßig regierenden Weltpolitiker über so viel Macht verfügen, verleitet diese, diese Macht immer mehr zu ihren Gunsten auszudehnen und damit die demokratischen Kontrollinstanzen aufzuweichen.

 

In wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen ausgedrückt würde mit der Bildung einer Weltregierung ein staatliches Monopol geschaffen und damit jede Konkurrenz ausgeschaltet. Aber nur bei Vorhandensein einer Konkurrenz ist gesichert, dass Anbieter von Leistungen ihre Leistungen am Bedarf der Bevölkerung ausrichten.

 

Diese Feststellung ist zwar zunächst nur für das wirtschaftliche Subsystem unserer Gesellschaft getroffen worden. Da sich aber alle Subsysteme (die kulturellen, politischen wie wirtschaftlichen Subsysteme) der modernen Welt gleichen oder zumindest ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgen, können die Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Leistungserstellung und Realisierung der Ziele der Bevölkerung auf alle modernen Subsysteme unserer Gesellschaft übertragen werden.

 

Auch in der Politik trägt der Umstand, dass Parteien bei den allgemeinen Wahlen zum Parlament miteinander konkurrieren und dass deshalb die Wähler sich für die Partei entscheiden können, welche ihnen den größtmöglichen Nutzen verspricht, dazu bei, dass die Politiker eben nur dadurch die Wahlen gewinnen können, dass sie sich um das Wohl der Bevölkerung bemühen.

 

Wir kommen also zu dem Ergebnis, dass bei der zweiten Interpretation des Homo-Mensura-Satzes der Begriff Mensch keineswegs in dem Sinne verstanden werden sollte, dass er die gesamte Menschheit umfasst. Wir haben also bei dieser zweiten Interpretation den Begriff Mensch zwar nicht auf jeden einzelnen Menschen, ihn also sehr wohl auf eine Gesamtheit von Menschen zu beziehen, nur eben nicht auf die gesamte Weltbevölkerung, sondern stets auf Teilmengen dieser gesamten Menschheit, also z. B. auf die Bürger einer Gemeinde oder eines autonomen Staates wie z. B. der Bundesrepublik Deutschland.

 

In diesem Falle haben wir aber gegenüber der ersten Interpretation nicht viel gewonnen. Zwar entscheidet auf indirekte Weise die Mehrheit der Bevölkerung – allerdings im Rahmen einer Verfassung, welche Minderheitsrechte garantiert  – darüber, welche Ziele die Regierung im Namen der gesamten Bevölkerung verfolgen soll und worin deshalb die Maßstäbe des Handelns eines jeden in dieser Staatengemeinschaft zu liegen haben.

 

Dieser Bezug auf die Mehrheit von Personen innerhalb einer Staatengemeinschaft bezieht sich jedoch nicht mehr auf Menschen anderer Staatengemeinschaften. Und dies bedeutet, dass im Ursprungszustand im Verhältnis der Staaten untereinander genau dasselbe gilt, das Hobbes für die einzelnen Menschen innerhalb einer Bevölkerung festgestellt hat. Es herrscht Krieg aller gegen alle.

 

Einzelne Staaten, welche entsprechend dem Homo-Mensura-Satz souverain bestimmen, wie sie sich zu ihren Nachbarstaaten verhalten sollen, werden mit den anderen Nationen nur dann Verträge abschließen und einhalten, wenn diese ihnen selbst nutzen. Wenn der Versuch, sich auf Kosten anderer Nationen zu bereichern, insgesamt für die einzeln handelnde Nation vorteilhaft ist, wird sie es auch tun. Um mit Hobbes zu sprechen bedürfte es eigentlich einer Weltregierung, der sich die einzelnen Nationen bedingungslos unterwerfen. Wir haben aber oben bereits festgestellt, dass die Bildung eines echten Weltstaates weder möglich noch erwünscht ist.

 

 

 

3. Dritte Interpretation:  Kein Mensch darf Mittel zum Zweck sein

 

Man kann jedoch den Homo-Mensura-Satz auch ganz anders interpretieren. Nach einer dritten Interpretation soll der Mensch Maßstab aller Dinge in dem Sinne sein, dass bei allen menschlichen Handlungen stets das Wohl des Menschen bzw. der Menschen als letztes Ziel beachtet werden sollte, dass der Mensch also niemals als ein Mittel zur Erreichung anderer, angeblich höherer Ziele dienen dürfe.

 

Wir haben oben bereits gesehen, dass auch die Aufklärer der Neuzeit – weniger Protagoras selbst – mit dem Homo-Mensura-Satz die Vorstellung verbunden haben, der Mensch müsse immer Selbstzweck bleiben und dürfe nicht als bloßes Mittel zur Erreichung anderer Ziele als das Wohl des Menschen selbst eingesetzt werden.

 

Der Unterschied zwischen den beiden ersten und der dritten Interpretation dieser Maxime besteht also darin, dass der hier angesprochene Mensch in den beiden ersten Interpretationen als der Maßgebende angesehen wird, also als Subjekt gilt, während bei der dritten Interpretation der Mensch das Objekt darstellt, das durch die einzelnen Handlungen beeinflusst werden soll.

 

Eine solche dritte Interpretation gerät dann auch nicht mit den religiösen Zielsetzungen des Christentums sowie aller anderen monotheistischen Religionen in Widerspruch. Denn hier wird gar nicht mehr behauptet, dass es keinen Gott gäbe, der den Menschen vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben, zu dieser Frage wird bei dieser Interpretation gar nicht Stellung genommen, es geht hier nur darum, zu postulieren, dass die einzelnen Handlungen stets danach zu beurteilen seien, inwieweit sie den Menschen Nutzen bringen.

 

Auch hier gilt es umgekehrt festzustellen, dass diese Maxime auch für die christliche Religion gilt. Als Jesus, der Begründer des Christentums von einem Schriftgelehrten gefragt wurde, welches denn das wichtigste Gebot sei, antwortete er nach Markus, Kapitel 12,29-31 bekanntlich: ‚Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.‘ Auch komme das Gebot der Nächstenliebe dem Gebot der Gottesliebe gleich.

 

Nun ist dieser letzte Satz sicherlich nicht so zu verstehen, dass im Konfliktfalle Abstriche sowohl von der Liebe gegenüber dem Nächsten wie auch gegenüber Gott zu machen sind. Für einen Gläubigen ist die Liebe gegenüber Gott im Zweifelsfalle immer über die Liebe gegenüber einzelnen Menschen zu stellen. In einem anderen Gleichnis (in dem Gleichnis vom Weltgericht, Matthäus 25,31-46) erfahren wir, wie Jesus die Gleichbedeutung von Gottes- und Nächstenliebe verstanden wissen wollte:

 

‚Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!

42 Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben;

43 ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.

44 Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?

45 Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.‘

 

Die geforderte Gottesliebe besteht eben somit gerade nicht darin, dass wir Gott Brandopfer bringen, sondern dass wir dem Nächsten in seiner Not helfen, wo immer nur möglich. Und so spricht der Schriftgelehrte, der diese Erzählung ausgelöst hatte, bei Markus Kapitel 12,32,33: ‚Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.‘

 

Diese Interpretation der Gottesliebe begegnet uns auch bereits im Alten Testameen bei Amos Kapitel 5,21-27. Darin lässt der Prophet Amos  Gott sagen: Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.‘

 

Die Maxime, bei allen Handlungen den Menschen als letzten Selbstzweck anzusehen, wurde vom Utilitarismus (so etwa von Bentham) in dem Leitsatz: das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl der Menschen zusammengefasst.

 

Bei der Interpretation dieser Maxime gilt es als Erstes die Frage zu stellen, wie denn der Begriff Glück in dieser Formel zu verstehen ist. Die Utilitaristen selbst verstanden Glück hier stets als körperlich empfundene Lust und Unglück als Gegenteil von Glück stets als körperlich empfundenes Leid.

 

Es ist klar, dass eine solche Maxime von gläubigen Menschen nicht geteilt werden kann. Lust und Leid werden hier eher als Mittel zur Erreichung der letzten Ziele angesehen. Nehmen wir das Beispiel der Geschlechtslust. Die Geburt und Erziehung von Kindern ist mit sehr viel Leid verbunden. Das Ziel der Erhaltung der Menschheit ist aufgrund dieses Leides in Gefahr.

 

Dass jedoch die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau trotzdem in ausreichendem Maße erfolgt, ist dadurch sichergestellt, dass die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau mit großer Lust verbunden ist. Weil gerade auf diesem Wege der Bestand des Lebens sichergestellt wird, ist das Vorhandensein dieser Lust durchaus positiv zu beurteilen, sie ist aber für gläubige Menschen nicht Selbstzweck, sondern selbst  Mittel zur Erreichung höherer Ziele, der Erhaltung der Menschheit.

 

Nun hat vor allem Joseph Alois Schumpeter darauf hingewiesen, dass die meisten Altliberalen ihre Lehre zwar Im Gewande des Utilitarismus dargestellt hätten, aber trotzdem die Wirtschaftstheorie nicht an den Utilitarismus verraten hätten.

 

Man kann nämlich den Inhalt dieses Leitsatzes (das höchstmögliche Glück für die höchstmögliche Zahl der Menschen) auch so uminterpretieren, dass man im Zusammenhang von Glück nicht von körperlicher Lust und körperlichem Leid, sondern von der höchstmöglichen Realisierung der letztlichen Ziele der Menschen spricht. Als Ziel kann hierbei sowohl die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse als auch jedes andere geistige Ziel verstanden werden. In diesem Sinne können auch diejenigen dieser Maxime zustimmen, welche gerade nicht in der Maximierung der körperlichen Lust das letzte Ziel eines jeden Menschen sehen. Steigt der Zielerreichungsgrad sprechen wir im Folgenden von Nutzen, sinkt jedoch der Zielereichungsgrad wollen wir von Kosten sprechen.

 

Aber auch nach dieser Uminterpretation der utilitaristischen Maxime bleibt diese Formel weitgehend unbestimmt. Eine eindeutige Maxime erhielten wir mit dieser Formel ja nur dann, wenn wir die Wirkungen unserer Handlungen in zwei Gruppierungen unterteilen könnten, in die Maßnahmen, welche Nutzen (im Sinne von Zielerreichung) und nur Nutzen für alle Menschen bringen und in solche, welche nur Missnutzen (im Sinne einer Verringerung der Zielerreichung) für alle Menschen bringen.

 

In der Realität sind diese beiden Klassen weitgehend leer, nahezu alle denkbaren Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur Nutzen, sondern auch Kosten hervorrufen und dass es stets Menschen gibt, welchen diese Handlungen per Saldo Kosten verursachen.

 

Befassen wir uns zunächst mit der Tatsache, dass fast alle Handlungen sowohl nutzenstiftend wie auch kostenverursachend sind. Dies bedeutet, dass wir uns in diesen Fällen nur dann ein abschließendes Urteil erlauben können, wenn wir in der Lage sind, Nutzen und Kosten gegeneinander aufzurechnen.

 

Nun hat vor allem Vilfredo Pareto darauf aufmerksam gemacht, dass wir bei der Diskussion um Nutzen (Ophelimität) zwischen einem kardinalen und ordinalen Maßstab unterscheiden müssen. Von einem nur ordinalen Maßstab sprechen wir immer dann, wenn wir uns auf die Frage beschränken, ob zwei Alternativen einen größeren oder kleineren oder gleichgroßen Nutzen hervorrufen. Ein kardinaler Maßstab würde hingegen nur dann vorliegen, wenn wir auch angeben könnten, um das Wievielfache die eine Alternative einen höheren Nutzen bringt als die andere Alternative.

 

Pareto vertrat die Auffassung, – und die meisten Ökonomen folgten Pareto in dieser Frage – Nutzeneinheiten ließen sich nur ordinal messen. Dies bedeutet, dass der Versuch der älteren Wohlfahrtstheorie, jedem Teilnutzen und jeden Teilkosten einen absoluten Wert zuzuweisen und den Gesamtnutzen durch bloße Addition und Subtraktion zu ermitteln, gar nicht möglich ist.

 

Allerdings zeigte Pareto auch, dass auf dem Umwege der Konstruktion von Indifferenz- und Kostenkurven trotzdem die Alternative ermittelt werden kann, welche den höchstmöglichen Nutzen garantiert, nur dass man eben nicht angeben kann, welchen absoluten Wert dieses Maximum aufweist.

 

Wir wollen also festhalten, dass wir davon ausgehen können: Die einzelnen Menschen können für sich allein durchaus auch dann die Alternative mit dem höchsten Nutzen bestimmen, wenn die einzelnen zur Diskussion stehenden Alternativen sowohl Nutzen wie auch Kosten verursachen.

 

Schwieriger wird die Beantwortung der Frage, wenn wir die bestmögliche Alternative für den Fall ermitteln wollen, dass dieselbe Maßnahme dem Einen nützt und dem Andern schadet. Es war wiederum Pareto, der bezweifelte, dass die Nutzenvorstellungen der einzelnen Individuen miteinander verglichen werden können. Nutzenvorstellungen seien immer nur subjektiv in dem Sinne, dass der einzelne Mensch für sich die bestmögliche Alternative mit dem höchstmöglichen Nutzen bestimmen kann, dass es aber nicht möglich ist, die Nutzenvorstellungen mehrerer Menschen miteinander zu vergleichen. Damit wird es aber auch für unmöglich gehalten, zu bestimmen, welche Alternativen vorzuziehen sind, wenn bestimmte Maßnahmen dem einen Individuum nützen und einem andern Individuum schaden.

 

Pareto kam aufgrund dieser Grundannahme der Nichtvergleichbarkeit der Nutzenvorstellungen verschiedener Menschen zu dem nach ihm benannten Paretokriterium: Eine Maßnahme ist nur dann für die gesamte Gesellschaft eindeutig wohlfahrtssteigernd, wenn sie mindestens einem Individuum per Saldo nützt und keinem anderen Individuum per Saldo schadet.

 

Nun werden die meisten Menschen durchaus zustimmen, dass unter diesen Bedingungen von einer gesamtwirtschaftlichen Steigerung der Wohlfahrt gesprochen werden kann. Die Problematik liegt nur darin, dass es hier auf Erden wohl kaum eine einzige Maßnahme gibt, welche diese beiden Voraussetzungen erfüllt. Wohl jede zur Diskussion stehende politische Maßnahme schadet einem Teil der Bevölkerung und dies bedeutet, dass es überhaupt nahezu keine Maßnahmen gibt, welche – würde man dem Paretokriterium folgen – politisch empfehlenswert wären. Die Folge bestünde dann darin, dass jede politisch durchgeführte Änderung volkswirtschaftlich als schädlich eingestuft werden müsste.

 

Eine solche Haltung muss schon deshalb als fragwürdig angesehen werden, weil ja permanent Änderungen in den Umweltbedingungen stattfinden und bei dieser konservativen Haltung noch nicht einmal die doch stets notwendigen Anpassungen an diese Datenänderungen vollzogen werden könnten. Es wäre also in diesem Falle nicht nur kein Fortschritt gegenüber der Vergangenheit zu erzielen. Da in diesem Falle auch keine Anpassungen an die Datenveränderungen stattfinden könnten, ginge das Wohlfahrtsniveau auch stetig zurück.

 

Eine solche konservative Haltung würde übersehen, dass auch das Festhalten an den bestehenden Zuständen oftmals mit sehr hohen Wohlfahrtseinbußen verbunden ist, die wesentlich höher sind als die partiellen Verschlechterungen in der Wohlfahrt einzelner Gruppen, welche zu erwarten sind, wenn im Rahmen der Politik Maßnahmen ergriffen werden, die zwar dem größten Teil der Bevölkerung Nutzensteigerungen bringen, aber einzelne Individuen auch schlechter stellen.

 

Angesichts dieses Dilemmas wurde im Rahmen der paretianischen Wohlfahrtstheorie unter dem Stichwort der Kompensationskriterien nach Lösungen aus dieser Ausweglosigkeit gesucht. Diese Diskussion wurde mit dem von Kaldor und Hicks formulierten Kriterium eröffnet. Das Kaldor-Hicks-Kriterium spricht auch dann von einer gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtssteigerung, wenn zwar das Paretokriterium nicht erfüllt ist (es gibt also einige Individuen, welche benachteiligt werden), wenn jedoch die Gewinner dieser Maßnahme in der Lage sind, die Verlierer voll zu entschädigen. ***

 

An diesem Kriterium wurde Kritik geübt, da bereits dann von einer Wohlfahrtssteigerung gesprochen wird, wenn eine Kompensation möglich ist, aber nicht unbedingt ausgeführt wird. Es wurde provokativ gefragt, ob denn z. B. eine Gewinnsteigerung bei den Superreichen, welche de facto zu einer beachtlichen Minderung der Wohlfahrt der Ärmeren führe, bereits als erwünscht gekennzeichnet werden könne, wenn die Reichen an und für sich aus ihrem zusätzlichen Gewinn die Ärmeren voll entschädigen könnten, dies aber nicht täten.

 

Natürlich würde Kaldor in diesem Falle sicherlich nicht von einem Wohlfahrtsgewinn sprechen. Dass Kaldor, dem ja sicherlich keine asoziale Haltung vorgeworfen werden kann, trotzdem bereits bei der Möglichkeit einer Kompensation von Wohlfahrtszuwächsen spricht, liegt daran, dass mit den Methoden einer empirischen Wissenschaft niemals über die Erwünschtheit von Umverteilungen geurteilt werden könne.

 

In dem Falle, in dem eine mögliche Kompensation zu unerwünschten Umverteilungen führen würde, wäre es eben Aufgabe der Politik, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen. Das Kaldor-Hicks-Kriterium weist nur darauf hin, dass dann, wenn eine mit einer politischen Maßnahme verbundene Umverteilung erwünscht ist, bei einer Kompensationsmöglichkeit politische Maßnahmen als wohlfahrtssteigernd angesehen werden können, obwohl in diesen Fällen das Pareto-Kriterium verletzt wird.

 

Von größerer Bedeutung sind jene Beiträge (z. B. von Scitovsky und anderen), welche nachgewiesen haben, dass in bestimmten Fällen im Zusammenhang mit dem Kaldor-Hicks-Kriterium widersprüchliche Folgerungen abgeleitet werden könnten. Scitovsky gelang es nämlich nachzuweisen, dass in bestimmten Fällen entsprechend Kaldor und Hicks nicht nur die Einführung politischer Maßnahmen, sondern auch das Rückgängigmachen dieser Maßnahme als wohlfahrtssteigernd angesehen werden müsste.

 

Es ist hier nicht der Ort, an dem wir diese Diskussion vollständig nachzeichnen können. Es reicht an dieser Stelle der Hinweis, dass zwar diese Diskussion den Bereich der möglichen wohlfahrtssteigernden Maßnahmen vergrößern konnte, dass aber trotzdem nach wie vor die Klasse der nur wohlfahrtssteigernden Maßnahmen äußerst gering ist.

 

Trotz dieses ernüchternden Ergebnisses der nachparetianischen Wohlfahrtstheorie und obwohl der größte Teil der Wirtschaftswissenschaftler den Schlussfolgerungen Paretos folgte, wurde vor allem im Rahmen der modernen Außenwirtschaftstheorie – aber nicht nur dort – mit kollektiven Indifferenzkurven gearbeitet, obwohl die Konstruktion gesamtwirtschaftlicher Indifferenzkurve eigentlich voraussetzt, dass man die Wohlfahrt der einzelnen Individuen miteinander vergleichen kann.

 

Paul Samuelson hat sich deshalb mit der Frage befasst, unter welchen einschränkenden Bedingungen denn widerspruchsfrei von der Existenz kollektiver Indifferenzkurven gesprochen werden kann. Er zeigte auf, dass nur unter drei Voraussetzungen die Anwendung kollektiver Indifferenzkurven widerspruchsfrei denkmöglich sei. Entweder steht an der Spitze einer Volkswirtschaft ein Diktator, der allein darüber entscheidet, was für die einzelnen Bürger vorteilhaft ist, er ist natürlich in der Lage, eindeutig zu bestimmen, wie er selbst den unterschiedlichen Nutzen der einzelnen Bürger einschätzt.

 

Eine zweite mögliche Voraussetzung für eine widerspruchsfreie Konstruktion kollektiver Indifferenzkurven wäre dann gegeben, wenn die individuellen Bedarfsstrukturen aller Bürger identisch wären. In diesem Falle wären die Nutzenvorstellungen aller Bürger ex definitione gleich und deshalb auch miteinander vergleichbar.

 

Eine letzte, dritte Möglichkeit für eine widerspruchsfreie Konstruktion kollektiver Indifferenzkurven wäre dann gegeben, wenn jede durch politische Maßnahmen ausgelöste Änderung in der Allokation der materiellen Ressourcen keinerlei Einflüsse auf die Einkommensverteilung hätte und somit auch nicht die Wohlfahrt der einzelnen Bürger unterschiedlich beeinflussen würde.

 

Auch im Hinblick auf diesen Beitrag von Samuelson müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass nicht viel im Hinblick auf die Möglichkeit gewonnen wurde, politische Maßnahmen wohlfahrtspolitisch zu beurteilen. Die Lösung eines Diktators ist für einen demokratischen Rechtsstaat nicht akzeptabel, weiterhin ist es fast ausgeschlossen, dass die Bedarfsstrukturen aller Individuen identisch sind oder auch, dass alle zur Diskussion stehenden politischen Maßnahmen keinerlei Auswirkungen auf die Einkommensverteilung nehmen. Diese letzte Annahme entspricht schon deshalb nicht der Wirklichkeit, weil in einer Marktwirtschaft stets Allokation und Distribution uno actu erfolgen, verändern sich die Preisrelationen, wird in aller Regel nicht nur die Allokation, sondern eben auch die Einkommensverteilung geändert.

 

Trotz dieses negativen Urteils ist das Ausmaß der Ausweglosigkeit unterschiedlich groß, je nachdem der Betrachter einem marktwirtschaftlichen oder planwirtschaftlichen Credo folgt. Wer grundsätzlich marktwirtschaftliche Lösungen ablehnt und davon überzeugt ist, dass eine staatliche Planwirtschaft der Marktwirtschaft überlegen ist, wird von dem oben aufgezeichneten Dilemma sehr viel grundsätzlicher getroffen als ein Anhänger marktwirtschaftlicher Regelungen.

 

Der Leiter einer staatlichen Planungsbehörde kann nur dann verantwortungsvolle Entscheidungen treffen, wenn er auch in der Lage ist, die mit einer geplanten Maßnahme verbundenen Vor- und Nachteile einzelner Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzurechnen. Für den Erfolg einer staatlichen Planwirtschaft ist es tödlich, wenn diese Aufrechnung gar nicht möglich ist, zumindest dann, wenn man trotz der Kritik an der Marktwirtschaft die Ideale eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates bejaht.

 

Für denjenigen hingegen, der von den Vorteilen einer Marktwirtschaft überzeugt ist, wiegt dieses Dilemma geringer. Er geht ja davon aus, dass der Markt von sich aus die Produktion so lenkt, dass im Endergebnis die Produktion am Bedarf der Konsumenten ausgerichtet wird. Politische Maßnahmen werden hier nur dann notwendig, wenn die Ordnung und mit ihr das Anreizsystem des Marktes so verändert wird, dass auch der Markt automatisch die erwünschten Veränderungen ansteuert. Kein Politiker oder Bürokrat hat hier vor der politischen Änderung zu überprüfen, wie sich diese Maßnahmen unterschiedlich auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen auswirken.

 

Es bleibt allerdings die Notwendigkeit, dass kollektive Indifferenzkurven an und für sich gebildet werden können, wenn man nachträglich überprüfen will, ob die wirtschaftliche Entwicklung zu einer Steigerung oder zu einer Minderung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt geführt hat.

 

Hier ist es vielleicht hilfreich, wenn man eine Lösung heranzieht, welche im Rahmen des politischen Subsystems beschritten wurde. Prinzipiell geht man auch hier zunächst von der Wunschvorstellung aus, dass eigentlich vor einer politischen Entscheidung eine Diskussion zwischen den einzelnen Betroffenen bzw. ihrer parlamentarischen Vertreter solange stattfinden sollte, bis schließlich alle Teilnehmer (Volksvertreter) der geplanten Maßnahme zustimmen können.

 

De facto muss man jedoch zur Kenntnis nehmen, dass eine solche Einstimmigkeit fast bei keinen Problemen erreicht werden kann und dass man deshalb bei Aufrechterhaltung des Prinzips der Einstimmigkeit zum politischen Nichtstun verurteilt wäre. Da aber gleichzeitig in aller Regel das Nichtstun ebenfalls zu Wohlfahrtsverlusten führt und dieser Wohlfahrtsverlust oftmals sogar größer ist als der partielle Verlust, welcher mit den einzelnen politischen Maßnahmen verbunden ist, hat man sich im Sinne einer Second-best-Lösung geeinigt, den Willen der Bevölkerung am Willen der Mehrheit zu messen. 

 

Auch hier gibt es die Möglichkeit des Patts, aber im Allgemeinen bringt der demokratische Prozess durchaus in der Mehrzahl der Fälle eindeutige Ergebnisse. Man könnte nun diese Überlegungen auch auf das Problem des Arbeitens mit kollektiven Indifferenzkurven übertragen und im Sinne einer Second-best-Lösung den Verlauf der kollektiven Indifferenzkurven als Ergebnis einer fiktiven Befragung der Bevölkerung bei Berücksichtigung des Mehrheitswillens auffassen.

 

Fassen wir also zusammen: Der Homo-Mensura-Satz in seiner dritten Interpretation wird heute allgemein anerkannt. Bei der Bestimmung, was denn der gesamten Menschheit nützt, entstehen zwar beachtliche Schwierigkeiten, welche sich jedoch im Wesentlichen ausräumen lassen.