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Marktwirtschaft und Moral

 

 

 

1. Einführung in die Problematik

       2. Das Prinzip der Grenzmoral

       3. Die These vom ‚race to bottom’

       4. Der Markt als  moralisch neutrale Einrichtung

       5. Marktordnung als moralische Instanz

       6. Verstärkt die Marktordnung das Eigennutzstreben?

       7. Die Kosten des moralischen Verhaltens

       8. Die Bedeutung von Strafen

       9. Die Rolle informeller Gruppierungen

     10. Die Bedeutung des Wettbewerbes

     11. Ausblick

 

 

1. Einführung in die Problematik

 

Die Marktwirtschaft gilt für viele als Paradebeispiel eines antimoralischen Systems. In einer Marktwirtschaft werde das Prinzip des Eigennutzes verherrlicht, nachdem jedes Individuum nach dem größten Eigennutz strebe; das sei auch gut so, nur auf diese Weise werde auch das Gesamtwohl maximiert. Für altruistisches Verhalten, das doch eigentlich nach christlicher Überzeugung vorherrschen sollte, sei kein Platz in einem marktwirtschaftlichen System.

 

Das marktwirtschaftliche System begünstige die Reichen und benachteilige die Armen. Wer schon reich sei, könne noch reicher werden, der Reichtum dieser kleinen Schicht erreiche einen unvorstellbaren Umfang, der weit über ein gerechtfertigtes Ausmaß hinausreiche.  Der Arme bleibe arm oder werde sogar noch ärmer.

 

Das marktwirtschaftliche System raube den einzelnen Arbeitnehmern das Recht auf einen Arbeitsplatz; der Unternehmer – so meinte vor allem Karl Marx feststellen zu müssen – stehe in einer kapitalistischen Gesellschaft unter dem permanenten Druck, die Gewinne zu investieren; dadurch würde jedoch der Mechanisierungsgrad immer größer und die bestehenden Arbeitsplätze würden auf diese Weise wegrationalisiert. Die Arbeitslosigkeit und damit das materielle Elend der Arbeitnehmer werde auf diese Weise immer größer.

 

Was für das Verhältnis der einzelnen Klassen innerhalb einer Volkswirtschaft gelte, setze sich in den internationalen Beziehungen der einzelnen Volkswirtschaften fort. Die reichen bereits entwickelten Industrienationen seien in der Lage, die ärmeren Nationen, die erst am Anfang der wirtschaftlichen Entwicklung stünden, auszubeuten, indem sie diesen die Früchte der internationalen Arbeitsteilung vorenthielten und diese in eine materielle Abhängigkeit brächten.

 

Gleichzeitig stiege mit der weltweiten Globalisierung die Macht der Konzerne; diese Macht beschränke sich nicht auf die Beziehungen der Marktpartner untereinander, sondern weite sich auf die Beziehungen zu den staatlichen Organisationen aus; der Staat – vor allem in den kleineren Volksgemeinschaften – falle immer mehr in Abhängigkeit zu den internationalen Konzernen und sei nicht mehr in der Lage, eine eigenständige Politik zu betreiben.

 

Den Konzernen und den von ihnen abhängigen Großmächten ginge es nur noch darum, die Verteilung der materiellen Ressourcen – vorrangig der Energievorräte und des Wassers - zu kontrollieren und zu verhindern, dass die reichen Nationen von diesen Ressourcen abgeschnitten würden. Vorstellungen einer gerechten Verteilung dieser Ressourcen träten in den Hintergrund.

 

Aber auch die Manager der Konzerne und die einzelnen selbständigen Unternehmer kämen nicht in den Genuss ihrer Früchte; es gelte das Prinzip des ‚Fressen und Gefressen werden’. Die mittleren Unternehmungen würden die kleineren Unternehmungen nieder konkurrieren, um dann aber selbst wiederum von den jeweils größeren Konzernen übernommen zu werden. Der intensive Wettbewerb der Unternehmungen untereinander führe zu Stress und zu einer Gefährdung der Gesundheit der im Wettbewerb stehenden  Unternehmer.

 

Wir werden weiter unten sehen, dass diese weitverbreiteten Vorstellungen über die Funktionsweise der Marktwirtschaft und des internationalen Wettbewerbs zu einem großen Teil auf Missverständnissen und einer Unkenntnis der wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten beruhen und dass die zum Teil sicherlich zu beobachtenden Mängel nicht Folge einer zu großen, sondern eher einer zu geringen oder falsch verstandenen Liberalisierung der Märkte sind.

 

 

2. Das Prinzip der Grenzmoral

 

Es gibt allerdings auch moralische Vorbehalte gegen die Wirksamkeit einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die auf einer sehr viel genaueren Analyse marktwirtschaftlicher Gesetze beruhen und die durchaus ernst zu nehmen sind. So hatte Götz Briefs bereits 1920 in seiner Anti-Spengler-Schrift die These von der Grenzmoral einer marktwirtschaftlichen Ordnung entwickelt. 

 

Götz Briefs geht in seiner Analyse davon aus, dass Unternehmer, die in Konkurrenz zueinander stehen, auch nicht in der Lage sind, moralische Vorstellungen bei der Produktion zu verwirklichen, zumindest dann nicht, wenn diese nicht auch von allen Konkurrenten geteilt werden. Letztlich bestimme der Unternehmer mit den geringsten moralischen Ansprüchen das moralische Niveau aller Konkurrenten.

 

Wenn ein Unternehmer aus moralischen Erwägungen heraus z. B. gewillt sei, seinen Arbeitnehmern besondere Zuwendungen zukommen zu lassen, läuft er die Gefahr, dass Konkurrenten, die nicht von den gleichen moralischen Zielen bewegt werden, in der Lage sind, die eigenen Produkte zu niedrigeren Preisen anzubieten; dadurch erlangten diese Wettbewerbsvorteile, die schließlich dazu führen können, dass ein Unternehmer mit  moralischem Gewissen aus dem Markt gedrängt wird. Und diese Zusammenhänge gelten umso stärker, je größer der Konkurrenzkampf ist. Nur ein Monopolist könne sich leisten, – ohne Gefahr in Konkurs zu fallen – moralischen Ansprüchen nachzugeben.

 

Machen wir uns diese Gedankengänge anhand eines Beispiels aus der Geschichte des Familienlastenausgleichs in der BRD klar. Zunächst wurde in der unmittelbaren Zeit nach dem 2. Weltkrieg vor allem von Seiten der christlichen Soziallehre die Forderung erhoben, dass bei der Entlohnung der Arbeitnehmer neben der individuellen Leistung auch der Familienstand zu berücksichtigen sei. Der Arbeitnehmer, der eine Familie, vor allem Kinder zu ernähren habe, müsse auch bei gleicher Leistung einen höheren Lohn als der Ledige beziehen. Der Lohn müsse familiengerecht ausgestaltet werden.

 

Würde man nun diese Forderung ohne eine gesetzliche Verpflichtung an die einzelnen Unternehmungen als ein freiwillig einzugehendes Gebot ansehen, so würden sich entsprechend dem Prinzip der Grenzmoral für diejenigen Unternehmungen, die sich an diese freiwillige Forderung halten, Wettbewerbsnachteile gegenüber all den Unternehmungen ergeben, die sich nicht dieser Verpflichtung verbunden fühlen.

 

Nun könnte man versuchen, diese Schwierigkeit dadurch zu überwinden, dass man eben alle Unternehmungen per Gesetz verpflichtet, den Lohn nach dem Familienstand zu staffeln. Viel wäre durch eine solche Vorgehensweise nicht gewonnen. Es bestünde nämlich jetzt die Gefahr, dass einzelne Unternehmungen – eben die Unternehmer mit der Grenzmoral – versuchen würden, die Arbeitskosten dadurch zu drücken, dass sie möglichst wenige Arbeitnehmer mit hoher Kinderzahl, dagegen  vermehrt ledige Arbeitnehmer beschäftigten.

 

Dieser Gefahr könnte man nur dadurch begegnen, dass man den Unternehmungen untersagt, Arbeitnehmer wegen ihres Familienstandes zu kündigen. Aber auch dann könnte man nicht von einer befriedigenden Lösung des Familienlastenausgleichs sprechen. Unternehmer könnten unter Vorschieben anderer Gründe trotzdem den Versuch machen, Arbeitnehmern mit vielen Kindern zu kündigen; und selbst dann, wenn dieser Versuch nicht gelingen würde, bestünde die Gefahr, dass Arbeitnehmer mit Kindern kaum noch eine Anstellung fänden.

 

Wollte man auch diese Aktivitäten unterbinden, müsste man das freie Recht eines Unternehmers, Arbeitnehmer nach den betrieblichen Erfordernissen einzustellen, so stark einschränken, dass fast alle Vorteile eines freien Arbeitsmarktes verloren gingen. Dies wäre sicherlich keine befriedigende Lösung.  

 

De facto hat man in der unmittelbaren Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in der BRD aus diesen Überlegungen heraus den Schluss gezogen, eine befriedigende Lösung des Familienlastenausgleichs könne eben nur dadurch erreicht werden, dass die Unternehmungen bei der Bezahlung der Löhne nur die Leistung, nicht aber den Familienstand zu berücksichtigen haben, dass aber der zusätzliche Bedarf, der aus der Erziehung von Kindern erwachse, durch ein vom Staat gewährtes Kindergeld zu decken sei.

 

Dieses Beispiel des Familienlastenausgleichs zeigt, dass das Prinzip der Grenzmoral zwar die Grenzen aufzeigt, die ein Markt zu beachten hat, dass aber im allgemeinen trotzdem die moralischen Werte auch in einer Marktwirtschaft erfüllt werden können, eben dadurch, dass die Marktergebnisse ohne direkte Eingriffe in den Markt sehr wohl nachträglich durch staatliche Zuwendungen korrigiert werden.

 

Es wäre also falsch, wollte man aus der bloßen Tatsache der Grenzmoral den Schluss ziehen, dass eine marktwirtschaftliche Ordnung einen nach moralischen Gesichtspunkten befriedigenden Familienlastenausgleich nicht zulassen würde. Wir können zwar nicht damit rechnen, dass die reinen Marktergebnisse bereits den Forderungen eines gerechten Familienlastenausgleichs entsprechen, nichts spricht jedoch dagegen, dass eine nachträgliche marktkonforme Korrektur möglich ist.

 

 

3. Die These vom ‚race to bottom’

 

An dieser Stelle sollte noch ein zweites Prinzip erwähnt werden, das in ähnlicher Weise wie das Prinzip der Grenzmoral auf Schwierigkeiten aufmerksam macht bei dem Versuch, moralisch motivierte soziale Zielsetzungen im Rahmen einer Marktwirtschaft durchzusetzen. Hans Werner Sinn hat die These formuliert, dass in einer freien globalisierten Welt kein Staat mehr in der Lage sei, Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge nach eigenständigen sozialpolitischen Kriterien festzusetzen; vielmehr bestehe in dieser Frage ein Wettbewerb der Staaten untereinander um die Höhe der Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge.

 

Wenn ein einzelner Staat seine Steuersätze heruntersetze, stünden die andern  Staaten unter starkem Druck, diesem Beispiel zu folgen. Die Herabsetzung der Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge würde nämlich den Unternehmungen dieser Staaten Kostensenkungen bringen, mit der Folge, dass ihre eigene internationale Wettbewerbsfähigkeit steige, die der ausländischen Konkurrenten jedoch sinke. Unter diesen Umständen ständen dann die anderen Staaten unter starkem Druck, diesem Beispiel zu folgen und die Abgabensätze ebenfalls zu senken.

 

In diesem Wettbewerbskampf bestimme letztendlich der Staat, der sich die geringsten Steuer- und Sozialversicherungslasten leiste, die Höhe der international gültigen Abgaben. Da es aber nun von der Höhe der Abgaben abhänge, wie viel der Staat für Infrastrukturinvestitionen und für Umverteilungsmaßnahmen ausgeben könne, besteht in diesem Wettbewerb wiederum eine Tendenz, das Niveau der öffentlichen Ausgaben an dem Staat auszurichten, der die geringsten Ausgaben für das öffentliche Wohl plane. Also könnte man auch hier wiederum von einer Art Grenzmoral der Staaten sprechen, die durch Wettbewerb ausgelöst werde.

 

Die hier aufgezeigten Zusammenhänge des ‚race to bottom’ entsprechen sicherlich der Realität, wenn wir jedoch im Hinblick auf die Schlussfolgerungen in moralischer Hinsicht auch einige Einschränkungen anbringen müssen. Der Wettbewerb dreht sich hier um die Steuer- und Beitragssätze, das Ausgabenvolumen der Staaten wird jedoch von der Summe dieser Abgabensätze bestimmt, welche sich als Produkt aus Abgabensatz und Niveau der Bemessungsgrundlage errechnet. Es ist durchaus denkbar, dass der Staat mit den geringsten Steuersätzen trotzdem ein mit den anderen Staaten vergleichbar hohes Abgabenaufkommen aufweist.

 

In der Realität zeichneten sich in der Vergangenheit vor allem Staaten, die am Anfang der industriellen Entwicklung standen, darin aus, Anreize zu setzen, internationales Kapital und Arbeitskräfte durch ein Angebot geringer Steuersätze ins eigene Land zu locken. Das Abgabenvolumen dieser Staaten war jedoch trotzdem relativ (d. h. bezogen auf das Sozialprodukt) hoch, da ein Staat in der Anfangsphase der industriellen Entwicklung weit höhere Wachstumsraten als die bereits wirtschaftlich gesättigten Staaten aufweist. Da in  diesen Staaten zumeist auch das Lohnniveau mangels starker Gewerkschaften relativ gering ist, gelingt es diesen Staaten, Kapital zu importieren, damit die Produktivität weiter zu steigern und schließlich trotz niedriger Steuersätze besonders hohe Infrastrukturinvestitionen vorzunehmen.

 

Aus moralischer Sicht ist diese Vorrangstellung der am Anfang der Entwicklung stehenden  Staaten in diesem Wettbewerb allerdings nicht unbedingt verwerflich. Es sind ja die Staaten, die innerhalb der internationalen Einkommensskala an unterer Stelle stehen, sodass diese Verbesserung in den Startbedingungen durch eine Politik niedriger Abgabensätze moralisch durchaus begrüßt werden kann. Benachteiligt sind in diesem Wettbewerb die reichsten Volkswirtschaften, deren Wachstumsrate gerade wegen ihres bereits erreichten Wachstumsniveaus geringer ausfällt.

 

Weiterhin zeigt die Politik Ronald Reagans in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA, dass auch Staaten mit sehr hohem Wachstumsniveau unter gewissen Bedingungen durchaus in der Lage sind, den Umfang der Steuereinnahmen durch Herabsetzung der Steuersätze zu erhöhen. Wenn durch die Herabsetzung der Steuersätze konjunkturelle Aufwärtsimpulse ausgelöst werden, kann u. U. der Anstieg des Sozialproduktes höher ausfallen als der Rückgang der Steuereinnahmen pro Sozialprodukteinheit und damit das Steuervolumen sogar vergrößern. Gleichzeitig kann die Herabsetzung der Steuersätze den Umfang der Steuerhinterziehung und -umgehung vermindern, da illegale Aktivitäten sich nicht mehr so sehr wie bisher lohnen und da das bei jeder illegalen Aktion vorhandene Risiko nun von den potentiellen Steuersündern als zu hoch eingeschätzt wird.

 

Insbesondere muss jedoch ähnlich wie bei der Kritik am Prinzip der Grenzmoral auch im Zusammenhang mit der These vom ‚race to bottom’ festgestellt werden, dass durch diesen Wettbewerb zunächst nur die bisherige Steuerpolitik ineffizient wird. Änderungen in der internationalen Arbeitsteilung, wie sie durch eine weltweite Globalisierung eingetreten sind, verlangen eben auch eine Anpassung der Abgabenpolitik der Staaten.

 

In meinem Artikel über Wege zur Gerechtigkeit habe ich dargelegt, dass man das Steuersystem durchaus so reformieren könnte, dass die sozialen Ziele auch unter den Bedingungen einer Globalisierung erreicht werden. Im Hinblick auf die notwendigen Infrastrukturinvestitionen des Staates ließe sich an Wicksells Idee anknüpfen, die Steuern als Preis der öffentlichen Investitionen zu verstehen; man würde damit ein Verfahren in Gang setzen, bei dem die einzelnen öffentlichen Träger (Gemeinden, Staaten) in Wettbewerb zueinander um die Standorte der Unternehmungen eintreten; die zu zahlenden Steuern dürften keine einseitigen Belastungen bzw. die Steuernachlässe keine einseitigen Begünstigungen darstellen. Die Unternehmungen erhielten vielmehr - genauso wie beim Ankauf privater Güter - auch für die Entrichtung einer Steuer mit der in Anspruch genommenen Infrastruktur einen vollen Gegenwert.

 

Im Hinblick auf die Umverteilungsziele ließe es sich bei grundlegender Reform der Erbschaftsgesetze durchaus erreichen, dass alle – auch die Superreichen – ein Interesse an einer Armutsversicherung besitzen, sodass die Gefahr, dass sich gerade die Reichsten um die Beteiligung an der Armutsbekämpfung drücken, stark zurückgeht. Auch im Hinblick auf die These des ‚race to bottom’ gilt also, dass auch in einer globalisierten Gesellschaft bei Durchführung notwendiger Korrekturen die marktwirtschaftlichen Ordnungen im Hinblick auf die Durchsetzung  moralischer Zielsetzungen effizient ausgestaltet werden können.

 

 

4. Der Markt als  moralisch neutrale Einrichtung

 

Wenn wir im Folgenden die Beziehungen zwischen Markt und Moral eingehender untersuchen, wollen wir zwischen drei Möglichkeiten unterscheiden. Vom Markt können erstens überhaupt keine oder zweitens positive oder schließlich drittens negative Wirkungen ausgehen. Im ersten Falle sprechen wir von einer amoralischen (moralisch neutralen), im zweiten Falle von einer moralischen (moralisch positiven), im dritten Falle schließlich von einer antimoralischen (moralisch negativen) Wirkung. Weiterhin ist im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen Moral und Markt folgendes zu unterscheiden: Will man untersuchen, ob der Markt zu Ergebnissen führt, die in moralischer Hinsicht erwünscht oder auch nicht erwünscht sind, oder will man der Frage nachgehen, ob der Markt von sich aus Einfluss auf die moralischen Vorstellungen der Marktteilnehmer nimmt.

 

Als erstes gilt es festzustellen, dass der Markt zunächst einmal in direkter Weise nichts mit Moral zu tun hat. Der Markt stellt eine Methode der Gesellschaft, wenn man will eine gesellschaftliche Einrichtung dar, um bestimmte Aufgaben so effizient und so fair wie möglich  durchzuführen. Man kann auch davon sprechen, dass der Markt in moralischer Hinsicht so gut oder schlecht ist wie die Menschen, die auf den Märkten agieren.

 

Eine Marktlösung ist immer dann angezeigt, wenn bestimmte Ziele nur unter Einsatz von knappen – vorwiegend materiellen – Ressourcen realisiert werden können. Die bewertende Einordnung der einzelnen verfolgten Ziele ist hierbei unabhängig davon, ob und in welchem Umfang knappe Ressourcen zur Zielerlangung benötigt werden. Es gibt moralisch oder kulturell sehr hoch bewertete Ziele, die ohne Einsatz materieller Mittel nicht realisiert werden können, denken wir z. B. daran, dass die Realisierung der Zielsetzung, für alle Menschen auf der Erde ein kulturelles Existenzminimum zu garantieren, einen beachtlichen Umfang an materiellen Ressourcen benötigt; auf der anderen Seite gibt es auch moralisch verwerfliche Ziele, die fast ohne Einsatz von materiellen Gütern realisiert werden können, dies mag z. B. gelten, wenn ein Mitbürger bestrebt ist, seine Mitmenschen zu schikanieren und zu beleidigen.

 

Bestünde nun die gesamte Menschheit nur aus moralisch hervorragenden Individuen, würden automatisch durch den Markt auch in moralischer Hinsicht hervorragende Ergebnisse erzielt, umgekehrt gilt, dass dann, wenn alle Teilnehmer eines bestimmten Marktes aus Verbrechern bestünden, auch die Marktergebnisse in moralischer Hinsicht verwerflich wären. Es kann kein Zweifel bestehen, dass im Rahmen der Marktwirtschaft tatsächlich eine Vielzahl verwerflicher Ziele verfolgt wird, denken wir z. B. nur an die Drogenmafia, die sich der Märkte bedient oder - um ein zweites Beispiel zu erwähnen - an Unternehmungen, die bei der Entwicklung von neuen Medikamenten nicht davor zurückschrecken, noch nicht ausreichend getestete Medikamente auf den Markt zu bringen, um auf diese Weise sonst drohenden Verlusten zu entgehen.

 

Will man an diesen Ergebnissen etwas ändern, so gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder versucht man die Individuen zu moralisch besseren Menschen zu erziehen, ein Versuch, der sicherlich 100% niemals gelingen dürfte; oder aber man versucht durch eine Rahmenordnung für die einzelnen Märkte die schlimmsten Auswüchse eines Marktes zu verhindern. Es ist die Überzeugung gerade liberaler (neoliberaler) Denker, dass ein Markt nur dann zu befriedigenden Ergebnissen gelangen kann, wenn das Marktgeschehen einem ordnenden Rahmen unterworfen wird. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen unmittelbaren Eingriffen des Staates in den Markt, die von liberaler Seite abgelehnt werden, da sie eine Verhinderung der zu bekämpfenden Tatbestände im allgemeinen nicht bewirken können und da sie darüber hinaus zumeist neue zusätzliche Ungerechtigkeiten nach sich ziehen.

 

Der Staat hat nach liberaler Auffassung aber sehr wohl die Aufgabe und das Recht, die Ergebnisse des Marktes über die Festlegung einer Rahmenordnung im Sinne moralischer und gemeinwohlpolitischer Zielsetzungen zu beeinflussen. Auch ein glühender Anhänger einer Marktwirtschaft wird sich nicht dafür aussprechen, dass Unternehmer bei ihren Entscheidungen die allgemeinen Strafgesetze übertreten dürfen. Eine Rahmenordnung kann und wird darin bestehen, dass bestimmte faktisch mögliche Handlungen verboten werden, und zwar immer dann, wenn sie gegen die allgemeinen moralischen Vorstellungen einer Volksgemeinschaft verstoßen. Insbesondere besteht jedoch eine Rahmenordnung darin, Anreize zu schaffen, aufgrund derer die Marktteilnehmer aus freien Stücken genau das tun, was auch aus Gemeinwohlbetrachtungen  heraus erwünscht ist.    

 

 

5. Marktordnung als moralische Instanz

 

Damit kommen wir zu einer ganz neuen Beziehung zwischen Markt und Moral. Der Liberalismus geht bekanntlich von der Annahme aus, dass sich die Menschen in ihrer Vielzahl nicht vorwiegend von altruistischen Zielvorstellungen leiten lassen, sondern vielmehr vorwiegend - wenn auch nicht ausschließlich - von Eigennutz getrieben werden.

 

Es geht hierbei nicht darum, dass behauptet wird, dass alle Menschen ausschließlich vom Eigennutz getrieben werden oder dass es sogar erwünscht sei, dass sie allein eigennützig handeln. Vielmehr will der Liberalismus nachweisen, dass eine Marktwirtschaft ihre Aufgaben – auch ihre Gemeinwohlaufgaben -  selbst dann erfüllen kann, wenn sich die Menschen vorrangig eigennützig verhalten. Der Liberalismus will nachweisen, dass altruistisches Verhalten – auch das der wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte – nicht Voraussetzung dafür ist, dass der Markt (unsere Gesellschaft) zu befriedigenden Ergebnissen führt.

 

Der Liberalismus geht also von der Auffassung aus, dass die Menschen im Allgemeinen von Eigennutz getrieben werden und diese Annahme dürfte viel besser der Wirklichkeit entsprechen als die Annahme eines durchgehend altruistischen Verhaltens. Es wird somit nicht davon ausgegangen, es sei erwünscht, dass sich der Mensch eigennützig verhalte. Ganz im Gegenteil wird nach einer befriedigenden Ordnung gesucht, die auch dann zu akzeptablen Ergebnissen führt, wenn man nicht mit einem allgemein altruistischen Verhalten der Menschen rechnen kann.

 

Damit gewinnt der Markt eine ganz neue moralische Qualität. Wir haben unsere eingangs formulierte These, dass der Markt so gut ist wie die Menschen, die sich der Methode des Marktes bedienen, dahingehend zu korrigieren, dass der Markt durchaus bessere Ergebnisse im Hinblick auf das Gemeinwohl liefern kann, als es das an für sich unter Umständen niedrige moralische Niveau der Marktteilnehmer erwarten lässt. Der Markt kann somit durchaus auch besser sein als seine Teilnehmer.

 

Es kommt ein weiteres hinzu. Ein System wie die staatliche Planwirtschaft kann nur dann funktionieren, wenn zumindest ihre Führungskräfte von einem hohen moralischen Niveau getragen werden. Dieses System läuft leicht Gefahr, dass es bei Vorhandensein minderwertiger Moral zu einem heuchlerischen Verhalten kommt. Nach außen wird der Anspruch an jeden Einzelnen heran getragen, sich stets entsprechend den moralischen Geboten ausschließlich altruistisch zu verhalten und eigennützige Zielvorstellungen hintanzustellen.

 

Da der einzelne aber in Wirklichkeit gar nicht so gut ist und mit einem solchen Anspruch oftmals überfordert ist, werden die Führungskräfte in einer staatlichen Planwirtschaft zwar nach außen hin Altruismus vortäuschen, in Wirklichkeit aber durchaus eigennützig handeln. Da natürlich die Bürger dieses Verhalten eines Tages durchschauen, vermindert sich die Bereitschaft, sich für die Allgemeinheit einzusetzen, es entstehen starke Anreize, sich antimoralisch zu verhalten. 

 

   

6. Verstärkt die Marktordnung das Eigennutzstreben?

 

Im Allgemeinen wird die Befürchtung geäußert, dass gerade von der Marktwirtschaft und nicht von der staatlichen Planwirtschaft vermehrte Anreize ausgehen, sich eigennützig zu verhalten. Es wird oftmals folgende Meinung vertreten: Der Umstand, dass im Rahmen des Liberalismus der Eigennutz zumindest als ungefährlich angesehen werde, führe automatisch dazu, dass auch vermehrt Eigennutz praktiziert werde. Umgekehrt gelte, dass der Umstand, dass in staatlichen Planwirtschaften die Forderung erhoben werde, das Eigenwohl zugunsten des Gemeinwohls hintanzustellen, dazu beitrage, dass altruistische Ziele vermehrt auftreten.

 

Diese Auffassung scheint auf den ersten Blick konträr zu der oben entwickelten These des Liberalismus zu stehen. In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsordnung und Moral vielschichtiger. Man wird durchaus einräumen können, dass das Aufstellen moralischer Standards positive Effekte auf das Verhalten der Individuen auslöst. Bilden wir zwei Gruppen von Menschen, wobei einer ersten Gruppe moralische Standards vorgegeben werden, einer zweiten Kontrollgruppe jedoch nicht, so wird man durchaus erwarten können, dass sich die erste Gruppe in stärkerem Maße den moralischen Zielsetzungen entsprechend verhält als die zweite Kontrollgruppe. Insoweit kann man also die in diesem Abschnitt entwickelte These durchaus bejahen.

 

Dieser positive Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und Moral gilt jedoch sicherlich nicht unter allen Bedingungen. Das Ausmaß dieser moralischen Anforderungen dürfte entscheidend sein, ob und wie oft sich die einzelnen Individuen an diese Standards halten. Es gibt sicherlich so etwas wie eine moralische Überforderung; dies bedeutet, dass eine Verschärfung der moralischen Anforderungen von einer kritischen Grenze an dazu führt, dass die Bereitschaft den Normen zu folgen nachlässt, ja sogar von einer weiteren kritischen Grenze an in ihr Gegenteil umschlägt, also dazu führt, dass die moralischen Gebote weniger befolgt werden als dann, wenn überhaupt keine oder in geringerem Umfang moralische Standards aufgestellt würden.

 

Moralische Standards werden somit nicht immer und in vollem Umfange akzeptiert und inwieweit  sie akzeptiert werden, hängt vor allem davon ab, ob die einzelnen überhaupt in der Lage sind, diese Normen zu erfüllen. Fühlt sich der Einzelne überfordert, so verliert die Norm nicht nur ihren positiven Einfluss (das allein ergibt sich bereits aus einem tautologischen Zusammenhang: wer nicht kann, wird es auch nicht tun), sie kann sogar das Gegenteil bewirken, sodass bei Überforderung der Einzelnen das praktizierte moralische Niveau zurückgeht. Genau dies ist der Zusammenhang, auf den der Liberalismus hingewiesen hat.

 

 

7. Die Kosten des moralischen Verhaltens

 

Ob und in welchem Umfang moralische Standards eingehalten werden, ist auch eine Frage der Kosten. Ob sich ein Individuum an einen moralischen Standard hält, hängt entscheidend davon ab, welche Nutzenveränderungen der Einzelne aufgrund der Befolgung moralischer Standards erfährt. Es kann vermutet werden, dass die Bereitschaft zum Einhalten moralischer Standards in dem Maße zurückgeht, in dem der Nutzenentgang aufgrund der Befolgung einer Norm ansteigt bzw. in dem Maße auch ansteigt, indem der Nutzen wächst.

 

Hierbei lassen sich die Nutzeneinheiten mit Hilfe des Konzepts der Opportunitätskosten bestimmen. Danach wird die Höhe der Kosten einer Aktivität daran gemessen, wie viel Nutzen einem Individuum dadurch entgeht, dass es sich nicht für die abgewählte, sondern eben für die tatsächlich gewählte Alternative entscheidet.  Man geht hierbei davon aus, dass sich ein Individuum stets zwischen mehreren Alternativen entscheiden muss. Im Falle einer moralisch relevanten Entscheidung geht es hierbei stets um die Frage, ob sich ein Individuum für die Einhaltung oder für die Nichtbeachtung einer Norm entscheidet.     

 

Hierbei sind diese Zusammenhänge allerdings nicht so einfach, dass es hierbei nur auf den durch Befolgung der Norm entstandenen materiellen Schaden ankommt. Sicherlich ist es richtig, dass der Umfang des  materiellen Schaden sehr wohl die Moralität eines Individuums in praxi stark beeinflusst. Es wäre jedoch falsch zu unterstellen, dass jeder materielle Schaden – auch ein noch so geringer – die Bereitschaft zum Einhalten einer Norm vermindert oder sogar zur totalen Verweigerung führt.

 

Es kommt vielmehr auf die näher zu bestimmenden Faktoren an, wie stark die Bereitschaft zum Einhalten einer Norm ist. Auch bei sonst gleichem Niveau einer Nutzenänderung wird das einzelne Individuum doch anders entscheiden je nach Erziehung, die der einzelne in seiner Kindheit und Jugendphase erfahren hat. Die Befolgung von Normen wird bei den Menschen, die schon in ihrer Kindheit angehalten wurden, Normen zu beachten, stärker ausgeprägt sein als bei denjenigen, die in ihrer Kindheit nicht zur Beachtung von Normen angehalten wurden. Andererseits kann auch immaterieller Schaden das Verhalten beeinflussen.

 

Auch die Frage, inwieweit konkrete Normen der anerzogenen Grundhaltung eines Menschen entsprechen, dürfte die Frage der Einhaltung von konkreten Normen beeinflussen. So dürfte z. B. eine religiös erzogene Person ein starkes Motiv haben, solche Normen zu befolgen, die sich auch aus seiner religiösen Grundüberzeugung ableiten lassen; während umgekehrt Normen, die in Widerspruch zu seiner religiösen Grundüberzeugung stehen, nicht oder zumindest weniger beachtet werden.        

 

 

8. Die Bedeutung von Strafen

 

Ein Staatsgebilde sorgt im Allgemeinen über die Androhung und Verhängung von Strafen dafür, dass die Normen auch befolgt werden. Es ist ganz klar, dass die Einhaltung von Normen wesentlich davon abhängt, ob Strafen bei Nichtbefolgung einer Norm angedroht werden. Dieser Zusammenhang ergibt sich unmittelbar aus dem im letzten Abschnitt entwickelten Nutzen-Kostenkalkül. Eine Strafe stellt einen Schaden - wenn man so will einen Nutzenentgang - dar und dies bedeutet, dass bei Befolgung von Normen die Opportunitätskosten zurückgehen, also ein Anreiz gesetzt wird, Normen auch zu befolgen. Die Alternative zur Befolgung von Normen besteht wie gesagt darin, diese Normen nicht zu beachten; befolgt man also eine Norm, so verringert sich der Umfang an angedrohten Strafen, dies ist gleichbedeutend mit einem Rückgang der Opportunitätskosten bei Einhaltung einer Norm.

 

Wenn auch im allgemeinen davon auszugehen ist, dass mit einer Zunahme des angedrohten Strafausmaßes die Bereitschaft zur Befolgung von Normen ansteigen dürfte, so sind auch hier die Zusammenhänge zwischen Umfang der Strafe  und daraus resultierendem Verhalten sehr viel komplexer.

 

Wir können nicht davon ausgehen, dass jede Übertretung einer Norm auch tatsächlich automatisch zu der Ausführung der angedrohten Strafe führt. Wir müssen erstens damit rechnen, dass die Staatsgemeinschaft bestimmte Strafen nicht verfolgt, entweder deshalb, weil ihr die Mittel für eine konsequente Strafverfolgung fehlen – auch die Strafverfolgung kann ohne Einsatz materieller Ressourcen nicht durchgeführt werden – oder weil aus grundsätzlichen Überlegungen heraus eine Regierung und ihre Strafbehörde eine konsequente Strafverfolgung für nicht angebracht hält. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass Exekutive und Legislative auseinanderfallen und dass im Einzelfall Vertreter einer exekutiven Behörde aufgrund parteipolitischer Unterschiede gegenüber bestimmten durch die Legislative erlassenen Normen kritisch eingestellt sein können.

 

Auch dann, wenn die Nichtbeachtung von Normen grundsätzlich verfolgt wird, kann zweitens trotzdem die Quote der Aufklärung gering sein und aus diesem Grunde die Wirkung einer angedrohten Strafe geringer ausfallen. Der Straftäter (also derjenige, der die Norm nicht beachtet) wird alles tun, um zu verhindern, dass die Übertretung nicht öffentlich bekannt und damit verfolgt wird. Umgekehrt wird die strafverfolgende Behörde im Allgemeinen alles tun, um Straftaten aufzuklären und zu verfolgen. Aber beide Seiten (der Straftäter sowie die Behörden) bestehen aus Menschen, die in unterschiedlichem Maße geeignet sind, die von ihnen verfolgten Ziele zu realisieren. Es ist nicht damit zu rechnen, dass in jedem Falle die Behörden über die fähigeren Individuen verfügen. Der Staat hat kein Monopol auf Intelligenz.

 

Neben den unterschiedlichen Fähigkeiten der Strafverfolgung bzw. der Strafvereitelung spielen bei der Frage, inwieweit bestimmte Straftaten auch tatsächlich verfolgt werden darüber hinaus drittens auch die moralischen Grundhaltungen von Straftätern und Strafverfolgern eine entscheidende Rolle. Es muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass bestimmte Straftaten einfach deshalb nicht verfolgt werden, weil die Straftäter den Versuch machen, die Beamten der Strafverfolgung zu bestechen und diese sich auch bestechen lassen.

 

Wir können also mit anderen Worten nicht davon ausgehen, dass eine Strafe stets vollzogen wird, dass somit jede Übertretung einer Norm entsprechend den aufgestellten Normen verfolgt wird. Aus der Sicht des potentiellen Straftäters kommt es also nicht auf den Umfang der angedrohten, sondern der wahrscheinlich zu erwartenden Strafe an, ob sich ein Individuum an eine Norm hält.  Hierbei ist zwischen objektiver und subjektiver Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden. Für das Verhalten des einzelnen Individuums kommt es weniger auf die objektiv vorgegebene, sondern vielmehr  auf die  subjektiv erwartete Wahrscheinlichkeit an. Die subjektive Wahrscheinlichkeit hängt zwar von der objektiven Wahrscheinlichkeit ab, kann jedoch durchaus von dieser abweichen, vor allem dann, wenn das einzelne Individuum über unzureichende Kenntnis der Begleitumstände verfügt.

 

Neben der subjektiven Wahrscheinlichkeit wird das Verhalten des Einzelnen im Hinblick auf das Einhalten von Normen auch von der individuellen Risikobereitschaft bestimmt. Die einzelnen  Menschen unterscheiden sich darin, inwieweit sie bereit sind, Risiken einzugehen. Ein besonders risikofreudiger Mensch wird unter sonst gleichbleibenden Bedingungen auch dort noch zu Straftaten bereit sein, wo wegen der Höhe der angedrohten Strafe andere Individuen davor zurückschrecken, die Straftat zu begehen.

 

Man kann auch davon sprechen, dass ein risikofreudiger Mensch das subjektive Risiko geringer als ein risikoscheues Individuum einschätzt, weil er einfach eher an die Möglichkeit glaubt, dass er straffrei ausgeht oder weil er sogar in dem Eingehen eines Risikos selbst etwas Begehrenswertes (einen erwünschten Nervenkitzel) sieht.

 

 

9. Die Rolle informeller Gruppierungen

 

Bei der Frage, unter welchen Bedingungen vom Staat angedrohte Strafen dazu führen, dass die einzelnen Individuen darauf verzichten, eine bestimmte Norm zu übertreten, spielt auch eine entscheidende Rolle, dass fast jedes Individuum gleichzeitig mehreren Gruppierungen angehört, dass jede Gruppierung ihre eigenen Normen kennt und dass die Normen der unterschiedlichen Gruppierungen in einen Konflikt zueinander geraten können. Hierbei wollen wir bei den vom Staat aufgestellten Normen von formellen Normen sprechen, während die Normen der anderen Gruppierungen als informell bezeichnet werden sollen.

 

Es entsteht nun die Frage, welche Norm beachtet wird, wenn die formellen und informellen Normen in Konflikt zueinander geraten. Natürlich wird jede Gruppierung bemüht sein, zu betonen, dass die von ihr aufgestellten Normen Vorrang besitzen. De facto lässt sich jedoch beobachten, dass informelle Normen sehr oft den formellen Normen vorgezogen werden. Dies gilt fast immer dann, wenn es sich um Normen  handelt, die von einer Religionsgemeinschaft aufgestellt werden, vorausgesetzt das einzelne Mitglied einer Religionsgemeinschaft nimmt aktiv am religiösen Leben teil. Dies gilt aber auch für zahlreiche andere informelle Gruppierungen, wie etwa für Mitglieder einer Straßengang oder eines Internats oder schließlich eines Gefängnisses.

 

Der Grund dafür, dass hier die informellen Normen den Vorrang besitzen, liegt sicherlich vor allem daran, dass informelle Gruppierungen weit härtere Strafen bei Normenübertretungen vorsehen als die Staatengemeinschaft. Bei religiösen Gruppierungen geht es schließlich um Strafen, die im Jenseits verhängt werden, die für einen gläubigen Menschen absolut sicher sind – schließlich gilt Gott für einen Gläubigen als allwissend und allgerecht.  Bei den übrigen informellen Gruppen ist davon auszugehen, dass der Ausleseprozess der informellen Führungskräfte oftmals durch brutale Macht erfolgt und dass deshalb die Aufstellung und Verfolgung von Normen auch sehr viel konsequenter und brutaler verfolgt wird als im Rahmen der formellen Einrichtungen, die nach den gesitteten Regeln eines Rechtsstaats erfolgen.

 

        

10. Die Bedeutung des Wettbewerbes

 

Bei der Frage nach der Problematik des Prinzips der Grenzmoral sowie der These vom ‚race to bottom’ hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass ein Fehlverhalten der Marktpartner entscheidend dem Wettbewerb der Unternehmungen untereinander zu verdanken ist. Fragen wir uns deshalb, welche Rolle dem Wettbewerb bei der Beantwortung der Frage nach der moralischen Qualität einer Marktwirtschaft zukommt und wie sich der Wettbewerb in  unser oben entwickeltes Beziehungsschema einordnen lässt.

 

Es ist schon oft betont worden, dass dem Wettbewerb in einer Marktwirtschaft eine Schlüsselrolle zukommt. So ging der Ordo-Liberalismus davon aus, dass nur bei intensivem Wettbewerb mit einer funktionierenden Marktwirtschaft gerechnet werden kann. Auch im Rahmen der traditionellen paretianischen Wohlfahrtstheorie wird festgestellt, dass nur bei atomistischer Konkurrenz (und bei vollständiger Internalisierung der externen Kosten) mit einem Wohlfahrtsoptimum (also der Verwirklichung des Gemeinwohls) gerechnet werden kann.

 

Dem Wettbewerb kommt hierbei nicht nur bei der Frage nach der Effizienz eines Wirtschaftssystems, sondern ebenso bei der Frage nach der moralischen Qualität einer Marktwirtschaft eine entscheidende Bedeutung zu. Schließlich ist es dem Wettbewerb zu verdanken, dass das Sozialprodukt vielleicht nicht gerecht, aber doch zumindest fair auf die Marktteilnehmer aufgeteilt wird. Dem Wettbewerb ist es zu verdanken, dass die Entlohnung der Produktionsfaktoren dem Grenzprodukt des jeweiligen Faktors entspricht, also erhält auch der einzelne bei Wettbewerb im Faktorpreis genau das zurück, was er zur Entstehung des Sozialproduktes beiträgt. Auch wird der Umstand, dass ein Wohlfahrtsoptimum nur unter den Bedingungen des Wettbewerbs realisiert werden kann, selbst als moralische Qualität eingestuft werden können, da das Wohlfahrtsoptimum nichts anderes als einen Indikator für die Realisierung des Gemeinwohles darstellt.

 

Nun sollte man diese Feststellungen nicht dahingehend deuten, dass sich der Liberalismus zu einer Verherrlichung des Wettbewerbes hinreißen lässt. Der Wettbewerb stellt im Rahmen der liberalen Wirtschaftslehre eher eine Art Kompromiss dar. Der Wettbewerb als solcher ist zunächst im moralischen Sinne neutral, er ist weder gut noch böse. Er wird von den im Marktgeschehen beteiligten Personen fast immer als sehr lästig empfunden und führt im allgemeinen zu einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens der im Wettbewerb stehenden Marktpartner, die sich in Stress bis hin zu schweren Gesundheitsstörungen (wie etwa Herzinfarkt) äußern kann.

 

Allerdings geht der Liberalismus von der Vorstellung aus, dass allein durch den Wettbewerb Machtmissbrauch effektiv unterbunden werden kann. Die Führungskräfte in Politik wie Wirtschaft erlangen immer wieder Machtpositionen und die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass Menschen wiederholt die ihnen zufallende Macht dazu benutzt haben, sie zu missbrauchen und die Untergebenen für ihre eigenen Ziele zu unterwerfen.

 

Dies gilt genauso für die Führung von Unternehmungen wie von Staatengemeinschaften. Es ist die entscheidende These des Liberalismus, dass dieser Machtmissbrauch nur durch Garantieren eines intensiven Wettbewerbs der Führungskräfte untereinander vermieden werden kann. Natürlich ist rein theoretisch auch eine Gesellschaftsform denkbar, in dem keinem Individuum größere Macht zufällt und in dem deshalb auch kein Machtmissbrauch befürchtet werden muss.

 

Zwei Gründe sprechen jedoch dafür, dass eine solche gesellschaftliche Ordnung nicht auf Dauer erreichbar ist: Auf der einen Seite könnte die Entstehung von Macht in einer wettbewerbslosen Gesellschaft eben nur dadurch verhindert werden, dass eine kontrollierende Macht geschaffen wird, die das Entstehen weiterer Macht verhindert. Aber auch diese Macht kann missbräuchlich ausgenutzt werden. Auf der anderen Seite setzt das Erreichen des heute in den höchstentwickelten Volkswirtschaften realisierten Wohlstandes die Zulassung von Großunternehmungen und damit Machtpositionen voraus. Hätten wir nur Kleinstunternehmungen zugelassen, stünden wir noch heute allgemein auf dem Wohlfahrtsniveau des Altertums.

 

Churchill soll einmal gesagt haben, er halte die Demokratie für eine schlechte Ordnung, aber für die beste, die in der heutigen Welt möglich ist. In gleicher Weise kann man feststellen, dass der Wettbewerb an und für sich ebenfalls eine schlechte Einrichtung darstellt, aber dennoch die sicherste und damit beste Garantie dafür ist, dass den Gemeinwohlzielen im Allgemeinen entsprochen wird.

 

Gerade weil der Wettbewerb für die unter Konkurrenz stehenden Marktpartner lästig ist und oftmals deren eigenen Interessen widerspricht, müssen wir damit rechnen, dass von den Marktpartnern  immer wieder Anstrengungen unternommen werden, durch Monopolbildung und Absprachen Wettbewerb zu verhindern. Es ist das Verdienst des Ordoliberalismus, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass sich Wettbewerb keinesfalls von selbst erhält, dass es also auch nicht ausreicht, auf politischem Wege Wettbewerb herzustellen; der Staat müsse vielmehr permanent das Wettbewerbsverhalten kontrollieren und jeden Versuch im Keime unterbinden, Monopole herbeizuführen.

 

 

11. Ausblick

 

Wenn es also auch richtig ist, dass dem Wettbewerb im Hinblick auf ein reibungsloses Funktionieren einer Marktwirtschaft eine Schlüsselrolle zufällt, so ist es genauso richtig, dass der Wettbewerb einer vielseitigen Gestaltung bedarf, um die ihm zugedachten Funktionen zu erfüllen.

 

So muss erstens - wie gezeigt – verhindert werden, dass die aus der Wettbewerbsordnung erwachsende Freiheit dazu missbraucht wird, den Wettbewerb zu beschneiden.

 

Zweitens gibt es auch einen ruinösen Wettbewerb, der ebenfalls Schaden anrichtet und deshalb durch die Politik verhindert werden muss. Von ruinösem Wettbewerb sprechen wir immer dann, wenn z. B. ein Unternehmer dadurch seine Konkurrenten auszuschalten versucht, dass er vorübergehend seine Produkte unter Kosten verkauft, natürlich mit der Absicht, später als Monopolist die anfänglichen Verluste durch Heraufsetzen des Preises über dem Konkurrenzpreis zu kompensieren und zu überkompensieren.

 

Drittens ist es selbstverständlich, dass die Freiheit der Marktteilnehmer dort endet, wo allgemeine Straftatbestände vorliegen. Die Freiheit des Unternehmers selbst zu bestimmen, welche Güter er produziert und mit welchen Techniken und zu welchem Preis und zu welchen sonstigen Bedingungen er diese Güter absetzt, bedeutet nicht, dass er alles darf, seine Freiheit endet immer an den allgemeinen Straftatbeständen wie Mord, Totschlag, Diebstahl, Betrug u. s. w. 

 

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass nicht der Staat bestimmt, was und zu welchen Bedingungen produziert wird und dass dem Unternehmer stets Handlungsalternativen für eine eigene Entscheidung verbleiben. Auch dann, wenn nicht alle denkbaren Alternativen als erlaubt gelten, verbleibt stets immer noch eine Vielzahl von Alternativen, unter denen der einzelne Unternehmer frei entscheiden kann.

 

In diesem Zusammenhang wurde von den Vertretern des Neoliberalismus das Kriterium der Marktkonformität entwickelt. Danach wird nicht mehr wie bei den Altliberalen gefordert, der Staat habe sich jedes Einflusses auf die Wirtschaft zu enthalten; vielmehr wird gefordert, dass der Staat nicht durch direkte Eingriffe in den Markt, sondern allein durch marktkonforme Maßnahmen die wirtschaftlichen Ergebnisse beeinflussen darf. Marktkonforme Maßnahmen liegen überall dort vor, wo allein die Anreize zum Marktverhalten verändert werden, aber die wirtschaftlichen Entscheidungen selbst den privaten Marktteilnehmern überlassen bleiben. 

 

Viertens ist einzuräumen, dass vom Wettbewerb im Einzelfall durchaus im moralischen Sinne negative Wirkungen ausgehen können und dass in diesen Fällen Lösungen außerhalb des Marktes gesucht werden müssen. Bringen wir nochmals das Beispiel des Prinzips der Grenzmoral. Es ist der Wettbewerb, der die Unternehmungen daran hindert, ihren Arbeitnehmern einen familiengerechten Lohn auszuzahlen. Hätte der Unternehmer eine Monopolstellung inne, bräuchte er also keine Konkurrenz befürchten, so erlitte der Unternehmer auch keine existenziellen finanziellen Einbußen, wenn er sich zur Gewährung von Kinderzuschlägen an seine Arbeitnehmer entschließen würde.

 

Natürlich wird der Gewinn eines Monopolisten, der Kinderzuschläge zum Leistungslohn gewährt, geringer ausfallen als wenn er auf die Gewährung von Kinderzuschlägen verzichtete. Aber wir unterstellen ja, dass der Kinderzuschläge gewährende Monopolist mit diesen Zahlungen das Ziel verfolgt, seinen Arbeitnehmern einen familiengerechten Lohn zu zahlen, er handelt damit seinen moralischen Wertvorstellungen entsprechend und erhält auf diese Weise für die Zahlungen auch einen Gegenwert: die Zufriedenheit, seinem Gewissen entsprechend gehandelt zu haben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allein die Feststellung, dass die Gewährung von Kinderzuschlägen (die Befriedigung seines Gewissen) keine existenzielle Bedrohung nach sich zieht, dass also kein Monopolist befürchten muss, dass er allein deshalb, weil er seinem Gewissen gefolgt ist, aus dem Markt herausgedrängt wird.  

 

Diese Gefahr besteht jedoch umso mehr, je intensiver der Wettbewerb zwischen den Unternehmungen ist und je weniger Unternehmer die Gewährung eines familiengerechten Lohnes als ethische Verpflichtung halten. Man wird in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis kommen, dass das Ziel eines familiengerechten Lohnes eben nicht durch eine reine Marktlösung erreicht werden kann, dass man also dieses Ziel nur dadurch verwirklichen kann, dass der Staat den Familien mit Kindern auf direkte politische Weise Begünstigungen zukommen lässt und zwar so, dass durch die Gewährung der Kinderzuschläge die Allokation des Marktes nicht oder nur minimal gestört wird.

 

Fünftens schließlich hat die These vom ‚race to bottom’ gezeigt, dass der seit der weltweiten Globalisierung entstandene Wettbewerb auch eine gerechte Verteilung der Steuern behindern kann, zumindest dann, wenn man an den bisherigen Instrumenten der Steuerpolitik festhält. Wir haben bei der Diskussion dieser These aber auch gesehen, dass durchaus neue Instrumente der Steuerpolitik entwickelt werden können, mit deren Hilfe auch unter den Bedingungen eines starken internationalen Wettbewerbs eine gerechte Verteilung der Steuerlasten erreicht werden kann, dass also nur bestimmte Instrumente der Politik im Hinblick auf Verwirklichung einer weitgehenden Gerechtigkeit als ineffizient eingestuft werden müssen.

 

Wir kommen somit zu dem Ergebnis, dass Marktordnungen nicht in jedem Falle als moralisch gut oder zumindest neutral eingestuft werden müssen; es gibt sehr wohl zahlreiche Fälle, in denen aufgrund eines intensiven Wettbewerbs der Moral zuwider gehandelt wird.  Diese Feststellung kann jedoch nicht zu dem Ergebnis führen, dass die Einrichtung eines Marktes und einer Wettbewerbsordnung aus moralischen Gründen verworfen werden muss, sondern vielmehr, dass es stets einer Rahmenordnung für die Märkte und für den Wettbewerb bedarf, damit auf der einen Seite der vom Monopol stets ausgehende Machtmissbrauch soweit wie immer möglich unterbunden wird, auf der anderen Seite aber auch die möglichen negativen Auswirkungen eines Wettbewerbes und einer Marktlösung soweit wie möglich vermieden werden. Unsere Ausführungen sollten zeigen, dass dies grundsätzlich möglich ist.