In meinem Artikel ‚schwarze Null auf dem Prüfstand‘ hatte ich dargelegt, dass nur dann, wenn dem Wähler offen gelegt wird, in welchem Umfang die Staatsausgaben die privaten Ausgaben einschränken, der Wähler auch in der Lage ist, zwischen den Programmen der einzelnen Parteien sachgerecht zu entscheiden. Dies setzt aber voraus, dass alle Ausgaben des Staates mit Steuern finanziert werden.
Wird nämlich ein Teil der Staatsausgaben mit Krediten finanziert und weist deshalb das Staatsbudget ein Defizit aus, so wird diesem Erfordernis (dass der Wähler darüber informiert wird, inwieweit ein Regierungsprogramm die privaten Ausgaben einschränkt) nicht entsprochen.
Zwar bleibt das privat verfügbare nominelle Einkommen der privaten Haushalte unberührt, wenn der Staat Ausgabensteigerungen defizitär finanziert. Da aber nun einmal knappe Ressourcen nicht mehrfach verwendet werden können und deshalb ein Mehr an Kollektivgütern notwendiger Weise ein gleichgroßes Weniger an Privatgütern zur Folge hat, geht der private Konsum oder gehen die privaten Investitionsausgaben nur scheinbar aufgrund des vermehrten Kollektivgüteranteils nicht zurück.
De facto steigt mit der Mehrnachfrage des Staates das allgemeine Preisniveau und damit sinkt das reale privat verfügbare Einkommen. De facto haben also die privaten Haushalte bei einer defizitären Finanzierung der Staatsausgaben sehr wohl Einschränkungen im Konsum hinzunehmen, ohne dass aber den Wählern diese Einschränkungen bewusst werden.
Und dies bedeutet, dass eine demokratische Kontrolle der Politiker durch die Wähler nur dann stattfindet, wenn alle Staatsausgaben über Steuern finanziert werden. Die Steuern sind dann der Preis, den die Bürger für eine Ausweitung des Kollektivgüteranteils zu zahlen haben.
Diesen Forderungen scheint zu widersprechen, dass ganz allgemein, nicht nur von Keynesianern, sondern auch von Neoliberalen, eine prozyklische Finanzpolitik abgelehnt wird.
Von prozyklischer Finanzpolitik wird gesprochen, wenn der Staat einen konjunkturbedingten Rückgang in den Steuereinnahmen mit einem (möglichst gleichhohen) Rückgang in den Staatsausgaben beantwortet und wenn er bei einem konjunkturbedingten Anstieg der Einnahmen seine Ausgaben dementsprechend erhöht.
Eine solche prozyklische Finanzpolitik wird allgemein deshalb abgelehnt, weil in diesem Falle die Konjunkturausschläge noch verschärft werden. Rezessionen werden verschärft, weil der konjunkturbedingte Rückgang in der privaten Nachfrage noch dadurch vergrößert wird, dass auch die staatlichen Ausgaben reduziert werden. Und Konjunkturüberhitzungen werden verschärft, weil die ohnehin zu große private Nachfrage von einem Zuwachs der staatlichen Ausgaben begleitet wird.
Nach allgemeiner Auffassung hat der Staat im Hinblick auf die Konjunktur die Verpflichtung, alles zu vermeiden, was zu einer Verschärfung der Konjunkturausschläge beiträgt. Diese Forderung gilt sowohl für die Keynesianer als auch für die Neoliberalen.
Im Gegensatz zu den Neoliberalen fordern Keynesianer darüber hinaus, dass der Staat zusätzlich die Verpflichtung hat, aktiv die Konjunktur in dem Sinne zu beeinflussen, dass auf der einen Seite durch Defizite im Staatsbudget (also durch eine defizitäre Finanzierung der Staatsausgaben) Rezessionen bekämpft werden sollen und dass auf der anderen Seite inflationäre Tendenzen dadurch unterbunden werden sollen, dass der Staat Budgetüberschüsse erzielt.
Die Neoliberalen lehnen eine aktive antizyklische Politik ab, weil sie befürchten, dass auf diesem Wege die von einem freien Markt ausgehenden Anreize zu einem rationalen Handeln geschwächt werden.
Wenn z. B. der Staat in Zeiten der Rezession Unternehmungen, welche ohne staatliche Unterstützung nicht mehr konkurrenzfähig wären, Subventionen gewährt, besteht die Gefahr, dass diese Unternehmungen dann, wenn im Zuge des Konjunkturaufschwungs die Konkurrenz ansteige, nicht mehr mithalten können, dass diese Pleite gehen und dass sich damit die Investitionen in diese Unternehmungen als Fehlinvestitionen erweisen, welche nicht nur Wohlfahrtsverluste bedeuten, sondern auch den nächsten Abschwung beschleunigen.
Der Unterschied zwischen keynesianischer und neoliberaler Konjunkturpolitik besteht somit darin, dass beide Richtungen zwar eine prozyklische Finanzpolitik ablehnen, dass aber der Keynesianismus eine aktive antizyklische Finanzpolitik fordert, während der Neoliberalismus eine antizyklische Finanzpolitik ablehnt.
Aber widerspricht somit die Ablehnung einer prozyklischen Finanzpolitik nicht der Forderung nach einem ausgeglichenen Staatsbudget? Nur auf den ersten Blick. Die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatsbudget bezieht sich auf das gesamte Regierungsprogramm und eine Regierung ist für mehrere Jahre (vier bis fünf Jahre) im Amt, nur für die gesamte Regierungszeit bedarf es eines ausgeglichenen Staatsbudgets, nicht für jedes Jahr oder jeden Monat.
Für die Forderung nach einem ausgeglichenen Budget kommt es nur darauf an, dass den Wählern offengelegt wird, welchen Anteil am Inlandsprodukt der Staat für seine Ausgaben beansprucht und wieviel Ausgaben deshalb den Privaten verbleiben.
Dieses Erfordernis wird aber auch dann noch erfüllt, wenn der Staat die Verteilung seiner Ausgaben an konjunkturellen Erfordernissen ausrichtet. Es stört dann nicht, wenn der Staat in Zeiten des Konjunkturabschwungs nicht alle Staatsausgaben durch Steuern abdecken kann und somit in diesen Zeiten ein Budgetdefizit erzielt, er muss nur in gleichem Umfang in Zeiten des Konjunkturaufschwungs einen Budgetüberschuss ausweisen, nur so kann der Forderung entsprochen werden, für die gesamte Regierungszeit ein ausgeglichenes Budget auszuweisen.
Diese Forderung lässt sich in praxi allerdings nur sehr schwer hundertprozentig realisieren. Der Grund dafür liegt darin, dass die Regierungsperioden nicht mit den Konjunkturzyklen übereinstimmen. Aber nur bei einer Übereinstimmung beider Perioden würde eine solche Politik (Verzicht auf prozyklische Maßnahmen) zu einem hundertprozentig ausgeglichen Staatsbudget führen.
Die Regierungsperioden betragen im Allgemeinen 4 oder 5 Jahre, ein Konjunkturzyklus (ein Juglarzyklus) jedoch zwar etwa 8 Jahre, also etwa zwei Regierungsperioden, wobei allerdings die Dauer eines Juglarzyklus von Periode zu Periode schwankt. Wollte man trotzdem eine hundertprozentige Einhaltung der Forderung nach einem ausgeglichenen Budget erzwingen, müsste man die nächsten Regierungen verpflichten, dieser Forderung bis zum Abschluss des nächsten Konjunkturzyklus zu entsprechen.
Dieser Forderung wird wohl kaum eine Regierung entsprechen, wenn sie aus grundsätzlichen Überlegungen diese Forderung ablehnt. Aber auch mit einem solchen unvollkommenen Ergebnis wird man leben können, es ist lediglich ein Ausdruck dafür, dass in der Realität niemals hundertprozentige Lösungen erreicht werden können.
Langfristiger Ausgleich des Staatsbudgets bedeutet jedoch keineswegs Verzicht auf staatliche Infrastrukturinvestitionen. Steuereinnahmen können nicht nur zur Finanzierung konsumtiver Zwecke eingesetzt werden.
Genauso wie das privat verfügbare Einkommen sowohl für den Konsum als auch über Ersparnisse für Investitionen eingesetzt werden kann, dienen die Steuereinnahmen, quasi das Einkommen des Staates, dazu, sowohl Konsum- wie auch Infrastrukturinvestitionen zu finanzieren. Die Forderung nach einem langfristigen Budgetausgleich kann deshalb keineswegs mit dem Verzicht auf staatliche Infrastrukturinvestitionen gleichgesetzt werden.
Keynes hatte die Befürchtung geäußert, der Kapitalmarkt funktioniere nicht wie vorgesehen und ein Zuwachs der Ersparnis führe nicht stets zu einem Zuwachs in der Investition. Diese Befürchtung gilt nicht für die Frage, ob die Steuereinnahmen, welche nicht für konsumtive Zwecke eingesetzt werden sollen, für Infrastrukturen ausgegeben werden. Der Staat hat immer die Möglichkeit, über die Verwendung von Steuergeldern zu entscheiden, sodass es an fehlerhaftem Verhalten des Staates liegt, wenn Steuergelder nicht den erwünschten Infrastrukturinvestitionen zugeführt werden.