Startseite

 

Theorie des sozialen Risikos Teil V

 

 

 

Gliederung:

 

 1. Vorbemerkungen

 2. Zum Begriff: ‚soziales Risiko’

 3. Schutz gegenüber Risiken u. Absicherung gegenüber materielle Risikofolgen

 4. Einkommensersatzfunktion versus Ausgabenausgleichsfunktion

 5. Allokation versus Distribution

 6. Soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung, Inflation und Wachstum

 7. Individuelle versus kollektive Vorsorge

 8. Versorgung versus Versicherung

 9. Umlageverfahren versus Kapitaldeckungsverfahren

10. Das Problem der Dynamisierung

11. Moral Hazard

12. Bilanzausgleich versus Bilanzdefizit

13. Das Problem der Versicherungsfähigkeit

14. Risikoausgleich und Rückversicherung

15. Selbstbeteiligung versus Wahltarife

 

 

 

 

 

    11. Moral Hazard

 

Unter dem Begriff des ‚Moral Hazard’ werden in der Literatur zwei grundverschiedene Sachverhalte diskutiert. Von ‚Moral Hazard‘ wird einmal gesprochen, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass die Inanspruchnahme der Leistungen der sozialen Sicherheit in viel stärkerem Maße erfolgt, als dies eigentlich sowohl im Interesse der Volksgemeinschaft, aber auch jedes einzelnen liegt. Der Begriff ‚Moral Hazard’ wird darüber hinaus für ein missbräuchliches Verhalten im Bereich der sozialen Sicherheit verwendet. Der Name ‚Moral Hazard’ ist eigentlich nur für diese zweite Variante berechtigt, denn das in der erstgenannten Variante erwähnte Verhalten hat mit Missbrauch oder amoralischem Verhalten nichts zu tun, wir werden sehen, dass sich dieses Verhalten aus einem ganz normalen zweckgerichteten Verhalten ergibt.

 

Moral Hazard wird in der Literatur vor allem im Rahmen der Krankensicherungseinrichtungen diskutiert. Es stellt jedoch ein ganz allgemeines Problem dar, das damit zusammenhängt, dass sich die einzelnen Individuen im Rahmen kollektiver Sicherungsgemeinschaften versichern und dass in diesen Einrichtungen die in einer Marktwirtschaft normalerweise wirkenden Anreize zu einem effizienten und fairen Verhalten nicht oder nur zum Teil wirksam sind.

 

Wenden wir uns zunächst der erstgenannten Variante eines ‚Moral Hazard’ zu. Es ist zweckmäßig, wenn wir diese Diskussion damit beginnen, dass wir uns fragen, wie denn auf einem allgemeinen Gütermarkt unter Konkurrenzbedingungen der Umfang der zu erstellenden Leistung bestimmt wird.

 

Betrachten wir hierzu zunächst ein einfaches Diagramm, auf dessen Abszisse die Menge an angebotenen Gütern einschließlich Dienstleistungen, auf dessen Ordinate hingegen die Preishöhe, bzw. der Grenznutzen und die Grenzkosten der entsprechenden Mengen abgetragen werden.

 

 

Beschreibung: Beschreibung: risiko1

 

 

Bekanntlich führt ein freier Konkurrenzmarkt dazu, dass Preise und Mengen auf den Schnittpunkt der Angebots- mit der Nachfragekurve hin tendieren; der Schnittpunkt dieser beiden Kurven markiert den Gleichgewichtspreis, bei dem Angebot und Nachfrage sich entsprechen. Unter normalen Voraussetzungen kann auch davon ausgegangen werden, dass der Markt von sich aus eine Tendenz aufweist, diesen Gleichgewichtspreis von selbst – ohne staatlichen Eingriff – zu erreichen.        

 

Die Angebotskurve, welche angibt, mit welchem Güterangebot bei alternativen Preisen gerechnet werden kann, lässt sich unter Konkurrenzbedingungen aus dem Verlauf der Grenzkostenkurve ableiten, wobei die Grenzkostenkurve jeder möglichen angebotenen Gütermenge die entsprechende Höhe der Grenzkosten zuordnet. Wir unterstellen im Allgemeinen, dass die Grenzkosten – zumindest ab einer bestimmten Angebotsmenge an – mit wachsender Menge ansteigen. Wenn sich nun die Anbieter wie Mengenanpasser verhalten, also keinen monopolistischen Einfluss auf den Güterpreis nehmen, so wird ein Anbieter bei jedem alternativen Preis genau die Gütermenge nachfragen, bei der er ein Gewinnmaximum erzielt.

 

Gehen wir von einer bestimmten angebotenen Gütermenge aus und fragen wir uns, ob der Betreffende Anbieter seinen Gewinn dadurch vergrößern könnte, dass er eine Einheit mehr (oder weniger) anbieten würde. Bei Mehrangebot (Minderangebot) einer zusätzlichen Gütereinheit entstehen ihm ex definitione Kostenzuwächse (Kostenminderungen) in Höhe der Grenzkosten, einen zusätzlichen (verminderten) Erlös erzielt er in Höhe des geltenden Marktpreises.

 

Solange nun die Grenzkosten niedriger sind als der Güterpreis, erzielt der Unternehmer bei Ausweitung des Angebotes einen Gewinnzuwachs, es lohnt sich also das Angebot auszuweiten. Umgekehrt gilt, wenn die Grenzkosten den Güterpreis übersteigen, erzielt der Anbieter eine Verringerung seines Gewinnes, es lohnt sich also, das Angebot zu reduzieren. Offensichtlich erreicht der Anbieter genau dort sein Gewinnmaximum, wo Grenzkosten und Preis zusammenfallen. Folglich entspricht das (gewinnmaximale) Angebot jeweils der Gütermenge, bei der Grenzkosten und Preis zusammenfallen, also fällt auch die Angebotskurve mit der Grenzkostenkurve zusammen.

 

In analoger Weise können wir die Nachfragekurve ableiten. Die Nachfragekurve gibt an, welche Gütermengen von den Nachfragern bei alternativen Güterpreisen nachgefragt werden. Diese Nachfragekurve lässt sich aus dem Verlauf der Grenznutzenkurve ableiten, wobei die Grenznutzenkurve angibt, welche Nutzenzuwächse bei alternativen Gütermengen zu erwarten sind. Traditionell gehen wir vom Gesetz des abnehmenden Grenznutzens aus, jede zusätzlich nachgefragte Gütermenge wird zwar in der Regel einen Nutzenzuwachs (Grenznutzen) bringen, dieser Zuwachs wird jedoch bei jeder zusätzlichen Gütermenge geringer, bis schließlich der Grenznutzen auf null sinkt, also eine Sättigung eintritt.

 

Wir unterstellen nun, dass jeder Haushalt, der bestimmte Güter nachfragt, bemüht ist, diejenige Gütermenge nachzufragen, welche ihm ein Maximum an Nutzen bringt. Auch für die Haushalte unterstellen wir, dass sie keinen Einfluss auf den Güterpreis nehmen können, diesen also als Datum nehmen. Um die für den einzelnen Nachfrager optimale Nachfragemenge zu bestimmen, gehen wir wiederum von einer gegebenen Menge aus und fragen uns, ob durch Veränderung dieser Menge ein Nutzenzuwachs erzielt werden kann. Eine Mehrnachfrage von einer Gütereinheit verursacht dem Haushalt auf der einen Seite einen Nutzenzuwachs entsprechend dem Verlauf der Grenznutzenkurve.

 

Auf der anderen Seite hat der Nachfrager den Preis zu entrichten, was ihm einen Nutzenverlust bringt, da er ja diese Geldmenge nicht für andere Verwendungsarten einsetzen kann. Wiederum gilt, dass eine Ausweitung der Nachfrage solange nutzensteigernd wirkt, als der Nutzenzuwachs größer ist als der Preis; umgekehrt gilt auch, dass dann, wenn der Preis den Grenznutzen übersteigt, eine Verringerung der Nachfragemenge per Saldo nutzensteigernd wirkt. Damit ist aufgezeigt, dass die Nachfragekurve aus der Grenznutzenkurve abgeleitet werden kann.

 

Unsere Ausführungen haben gezeigt, dass es unter normalen Bedingungen sowohl aus der Sicht der Anbieter als auch der Nachfrager eine optimale Gütermenge gibt, bei der Nutzen und Gewinn maximiert werden. Es ist also keinesfalls so, dass jede Ausweitung des Güterangebotes Wohlfahrtszuwächse bringt; zwar steigt – zumindest bis zur Sättigungsmenge – der partielle Nutzen an; da aber mit der Ausweitung der Güterproduktion gleichzeitig immer auch Nutzenverluste insofern entstehen, als knappe Ressourcen von anderen Verwendungen abgezogen werden, gibt es stets eine kritische Gütermenge, von der ab eine weitere Ausweitung des Angebotes per Saldo zu einer Minderung der Wohlfahrt führen müsste. Ein normaler Markt sorgt über Preisvariationen dafür, dass dieser optimale Preis – der Gleichgewichtspreis – von selbst angesteuert wird.

 

Wir sind nun in der Lage, uns mit dem erstgenannten Vorwurf eines ‚Moral Hazard’ im Bereich der sozialen Sicherheit zu befassen. Überall dort, wo die Vorsorge gegenüber den sozialen Risiken im Rahmen kollektiver Sicherungseinrichtungen erfolgt, haben wir von einem etwas anderen Marktmodell auszugehen. Der wichtigste Unterschied zu normalen Gütermärkten besteht darin, dass der Preis für die Leistung (der Beitragssatz) bei kollektiven Sicherungseinrichtungen nicht bei der Inanspruchnahme dieser Einrichtung, sondern unabhängig davon periodisch zu entrichten ist und dass auch die Höhe des Beitrages nicht vom Ausmaß der Inanspruchnahme abhängt.

 

Diese Abweichung vom normalen Gütermarkt gilt gleichermaßen für eine Privatversicherung, für Sozialversicherungen wie auch für Versorgungseinrichtungen. Zwar unterscheiden sich diese drei Formen der sozialen Sicherung in der Frage, von welchen Faktoren die Höhe des Preises abhängig gemacht wird; die Privatversicherung bemisst den Beitragssatz nach der Höhe des Risikoumfanges bei Abschluss des Versicherungsvertrages, während Sozialversicherungen und Versorgungen die Beitrags- oder Steuerhöhe allein an sozialen Risiken ausrichten. Aber auch in der Privatversicherung steht die Summe der ex post gewährten Leistungen in keinem Verhältnis zu der Beitragshöhe. Der Beitragssatz errechnet sich nur ex ante aus dem Risikoumfang, die im Nachhinein (also ex post) tatsächlich eingetretenen Risikotatbestände weichen entscheidend vom Umfang des Risikos ex ante ab.

 

Dieser Tatbestand (das zeitliche wie quantitative Auseinanderfallen von Inanspruchnahme und Zahlung des Preises) hat nun maßgeblichen Einfluss auf das Verhalten der Nachfrager. Während wir gesehen haben, dass auf normalen Gütermärkten der einzelne Nachfragende im eigenen Interesse seine Nachfrage begrenzt und die Ausweitung der Nachfrage weit vor Erreichen der Sättigungsmenge (dem Schnittpunkt der Nachfragekurve mit der Abszissenachse) beendet, hat ein Nachfragender auf einem Sicherungsmarkt ein Interesse daran, die Nachfrage bis hin zur Sättigungsmenge auszuweiten.

 

 

Beschreibung: Beschreibung: risiko2

 

 

Der Grund für dieses andere Verhalten liegt darin, dass bei der Inanspruchnahme der Sicherungsleistung kein Beitrag geleistet werden muss, dass auch die Höhe des Beitragsatzes vom Umfang der Inanspruchnahme unabhängig ist. Die Inanspruchnahme erfolgt also hier quasi zum Nulltarif; natürlich haben die Sicherungsnehmer in ihrer Gesamtheit letztendlich für die Inanspruchnahme aufzukommen. Trotzdem stellt sich der einzelne Sicherungsnehmer keinesfalls finanziell besser, wenn er eine optimale Nachfrage ausüben würde. Da bei der Inanspruchnahme kein Preis zu entrichten ist, lohnt sich auch eine Ausweitung der Nachfrage bis hin zur Sättigung; denn bis zu dieser Nachfragemenge steigt der Grenznutzen, ohne dass jedoch diese Inanspruchnahme unmittelbar zu einem Nutzenverlust führt, in dem durch Entrichtung eines Preises bei anderen Verwendungsarten Nutzeneinbußen eintreten.

 

Natürlich ist es richtig, dass sich alle Sicherungsnehmer besser stellen würden, wenn jeder wie auf normalen Gütermärkten seine Nachfrage auf die Menge beschränken würde, bei der seine Grenznutzenkurve die Grenzkostenkurve schneiden würde. Da aber der einzelne nur dann damit rechnen könnte, dass ein solches Verhalten ihm Nutzenzuwächse bringen würde, wenn sich alle oder fast alle Sicherungsnehmer in diesem Sinne verhalten würden und da aber wegen fehlender Anreize nicht damit gerechnet werden kann, dass sich die jeweils anderen tatsächlich wohlfahrtskonform verhalten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Masse der Sicherungsnehmer in diesem Sinne zurückhält.

 

Im Verhältnis der Sozialversicherungen zu den Versorgungseinrichtungen gilt in dieser Frage insoweit eine etwas unterschiedliche Feststellung, als bei Sozialversicherungen insoweit noch ein gewisser Zusammenhang zwischen Beitragshöhe und Inanspruchnahme gilt, als eine Beitragserhöhung infolge starker Inanspruchnahme sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch im Zusammenhang mit der offiziellen Rechtfertigung evident wird und doch den einen oder anderen veranlassen wird, aufgrund eines schlechten Gewissens die Kassen nicht zu stark in Anspruch zu nehmen. Bei Versorgungseinrichtungen erfolgt die Finanzierung aus allgemeinen Steuermitteln, hier ist der Zusammenhang zwischen Steuererhöhung und Inanspruchnahme der Einrichtungen der sozialen Sicherheit sehr viel loser und nicht unmittelbar einzusehen. Hier bestehen also sicherlich weniger Anlässe zu einer Reduzierung in der Inanspruchnahme der Kassen, wenn die Steuern allgemein angehoben werden.

 

Wenden wir uns nun dem zweiten Bereich des ‚Moral Hazard’, dem eigentlichen missbräuchlichen Verhalten zu. Als erstes gilt es natürlich darauf hinzuweisen, dass missbräuchliches Verhalten in allen öffentlichen Einrichtungen, sowohl bei erwerbswirtschaftlichen wie bürokratischen Einrichtungen, bei wirtschaftlichen wie politischen und kulturellen Veranstaltungen auftreten kann. Ein Gesellschaftssystem ohne Missbrauch ist gar nicht denkbar. Es kommt nur darauf an, den Umfang des Missbrauches auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Offensichtlich ist gesellschaftliches Leben durchaus auch bei geringfügigem Missbrauch durchaus möglich und nutzenbringend, erst wenn eine kritische Grenze eines missbräuchlichen Verhaltens überschritten wird, sind die gesellschaftlichen Organisationen in ihrer Existenz ernsthaft bedroht.

 

Wenn also auch bei allen gesellschaftlichen Erscheinungen mit einem gewissen Umfang an Missbrauch gerechnet werden muss, ist die Gefahr eines Moral Hazard – Verhaltens im Bereich der sozialen Sicherheit insgesamt größer. Der Grund hierfür liegt darin, dass die in Verträgen oder Gesetzen festgelegten Leistungen nicht so exakt definiert werden können, dass bei jeder beabsichtigten Inanspruchnahme der Kassen eindeutig geklärt werden kann, ob ein Anspruch auf Leistung überhaupt besteht und in welchem Umfang Zahlungen zu erfolgen haben.

 

Nehmen wir das Beispiel einer Krankenkasse. Man kann in einem Versicherungsvertrag oder in einer Verordnung festlegen, bei welchen Krankheiten eine Leistung gewährt wird, bis zu welchem Betrag gegebenenfalls Zahlungen erfolgen, inwieweit sich der Sicherungsnehmer an den Kosten beteiligen muss und welches Verhalten vom Sicherungsnehmer als Voraussetzung dafür erwartet wird, dass ein Anspruch auf Leistung besteht. Ob aber im konkreten Einzelfall diese in einer Ordnung festgelegten Kriterien vorliegen oder nicht, lässt sich keinesfalls immer eindeutig feststellen.

 

Ob z. B. eine Grippe nach 13 oder 15 Tagen in dem Sinne zu Ende ist, dass der Betroffene wiederum arbeitsfähig ist, kann wohl kaum mit Sicherheit festgestellt werden. Auch dort, wo es objektive Verfahren zur Feststellung von Krankheiten gibt, weicht das subjektive Krankheitsbild oft vom objektiven Tatbestand ab. Es ist schon lange wissenschaftlich anerkannt, dass Krankheiten bisweilen sehr wohl auch dann gegeben sind, wenn die bekannten Messverfahren keine Indikation bringen, dass nicht jedes Fehlen objektiver Krankheitsmerkmale in jedem Falle ein Simulieren und damit einen Missbrauch bedeuten.

 

Aber gerade diese Unbestimmtheit eröffnet die Möglichkeit zum Missbrauch. Der einzelne kann sehr wohl ein Vorliegen einer Krankheit vortäuschen, in dem er sich so verhält, wie eine Person sich üblicherweise bei dieser Krankheit verhält.

 

Nun kann natürlich bereits dadurch die Missbrauchsmöglichkeit reduziert werden, dass die Feststellung, ob eine Krankheit vorliegt, nicht vom Patienten selbst, sondern von einem Arzt zu erfolgen hat. Der Arzt besitzt einerseits das Fachwissen, um diese Frage sachgerecht zu entscheiden und ist andererseits auch nicht persönlich involviert. Trotzdem treten hierbei durchaus Interessenkonflikte auf, die dazu führen können, dass im Einzelfall Missbrauch stattfindet, obwohl auch der Arzt und damit eine unabhängige Person an der Feststellung der Krankheit beteiligt wird.

 

Auf der einen Seite besteht eine Konkurrenz zwischen den Ärzten und ein Arzt kann sich aufgrund dieser Konkurrenzsituation durchaus veranlasst sehen, diese Frage stärker zugunsten des Patienten zu entscheiden als dies objektiv geboten ist. Es braucht auch keinesfalls eine missbräuchliche ‚Absicht‘ zum Zuge kommen. Es besteht oftmals die Vorstellung, für die Gesundheit sei das beste gerade gut genug, aus medizinischer Sicht sei es besser, eine Untersuchung zu viel als eine zu wenig durchzuführen, man meint, sich durchaus moralisch im Sinne der Volksgesundheit zu verhalten. Trotzdem fällt eine solche Verhaltensweise unter ‚Moral Hazard‘.

 

Es geht hier nämlich um den Einsatz knapper Mittel. Auch dann, wenn es im Hinblick auf ein konkretes Krankheitsbild als vorteilhaft angesehen wird, eher zu viel als zu wenig diagnostische und therapeutische Maßnahmen vorzunehmen, jeder Einsatz knapper Mittel bedeutet, dass diese bei anderen Verwendungsarten abgezogen werden müssen und dass der hierbei auftretende Schaden höher ausfallen kann als der Zusatznutzen aufgrund des Mitteleinsatzes im Sicherungsbereich.

 

Das zuletzt genannte Beispiel zeigt, dass eine Missbrauchsgefahr nicht allein von den Sicherungsnehmern ausgeht, sondern auch bisweilen von anderen Personengruppen wie z. B. Ärzten. Gerade aus diesem Grunde schalten Krankenkassen aber auch Unternehmungen bei Arbeitsunfähigkeit einen Vertrauensarzt ein, um einen Missbrauch so weit wie möglich zu unterbinden. Ein Vertrauensarzt hat keine Konkurrenz zu fürchten und ist gerade deshalb eher in der Lage, die Arbeitsfähigkeit eines Kranken objektiv zu beurteilen.

 

Missbrauch kann in der Tat von allen bei der Erbringung der Sicherungsleistungen beteiligten Gruppen auftreten. Auch die Sicherungsgeber können missbräuchlich handeln, so etwa wenn sie bewusst die Voraussetzungen für eine Berechtigung einer Inanspruchnahme der Kassen so kompliziert formulieren, dass die Sicherungsnehmer beim Auftreten eines Sicherungsfalles über ihre Rechte gar nicht richtig Bescheid wissen und deshalb die Sicherungseinrichtungen in zu geringem Maße in Anspruch nehmen.

 

Es ist ja geradezu sprichwörtlich – wenn auch sicherlich nicht generell üblich –, dass Versicherungen bei der Anwerbung neuer Kunden eine sehr großzügige kulante Handhabung der Bestimmungen in Aussicht stellen, sich aber bei Eintritt eines Versicherungsfalles darum bemühen, nicht zahlen zu müssen und bewusst eine gerichtliche Auseinandersetzung ansteuern, in der Erwartung, dass viele Versicherten den Weg vor das Gericht scheuen und auf die Durchsetzung ihrer Ansprüche verzichten. Auch hier gilt natürlich, dass Missbrauch in der Regel immer nur von einzelnen Außenseitern begangen wird.

 

Halten wir also fest: Missbrauch wird es immer geben und die Vorteile einer kollektiven Lösung eines Schutzes vor den sozialen Risiken sind so groß, dass ein gewisses missbräuchliches Verhalten durchaus verkraftet werden kann, vorausgesetzt dass sich der Missbrauch auf wenige Prozent des gesamten Leistungsumfanges beschränkt. Es besteht aber durchaus die Gefahr, dass in bestimmten Zeiten der Missbrauch so überhand nimmt, dass die Vorteile einer kollektiven Lösung verloren gehen.

 

Fragen wir uns deshalb, von welchen Faktoren es denn abhängt, ob sich der Missbrauch auf wenige Prozent der Beteiligten beschränkt oder einen solchen Umfang erreicht, dass er die Aufgabe der Sicherungseinrichtungen ernsthaft gefährdet. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass die Gefahr eines Missbrauches von der Art der Sicherungseinrichtung abhängt, bei bürokratischen Lösungen ist die Missbrauchsgefahr größer als bei marktwirtschaftlichen Systemen, bei unspezifischen Einrichtungen größer als bei spezifischen Versorgungseinrichtungen, bei einem Versorgungsprinzip generell größer als bei einer Sozialversicherung und dort hinwiederum größer als in einer Privatversicherung.

 

Die Ursache für diese Unterschiede liegt vor allem darin, dass die erwerbswirtschaftlich orientierten Systeme im allgemeinen sehr viel gezielter finanzielle Anreize einsetzen können, welche einem Missbrauch entgegensteuern, als dies für bürokratische Einrichtungen gilt. Auch ist der Zusammenhang zwischen missbräuchlicher Inanspruchnahme und dadurch ausgelöster Erhöhung der Beiträge sehr viel größer bei privaten als bei öffentlichen Kassen, bei der Sozialversicherung größer als bei Versorgungseinrichtungen.

 

Auch das Meinungsbild, das in den öffentlichen Medien entwickelt wird, dürfte dafür verantwortlich sein, ob sich der Missbrauch auf wenige Prozent der Beteiligten beschränkt oder überhand nimmt. Erfährt die Bevölkerung immer wieder in den Medien von missbräuchlichem Verhalten vor allem auch der Führungskräfte, so fühlen sich immer mehr Sicherungsnehmer berechtigt, sich ebenfalls missbräuchlich zu verhalten.

 

Hier kann sich nun ein verhängnisvoller Teufelskreis entwickeln. Aus irgendwelchen zufälligen Gründen und aus hieraus erwachsenden finanziellen Schwierigkeiten sähen sich die Sicherungseinrichtungen gezwungen, die Leistungen zu kürzen oder die Beitragssätze zu erhöhen. Diese Änderungen veranlassen nun immer mehr Versicherte, die Versicherung stärker als bisher auszunutzen, vielleicht in dem Glauben, dass sie berechtigt seien, bei höheren Beiträgen auch höhere Leistungen zu erwarten. Man will dann das, was man in die Versicherung eingezahlt hat, auch wiederum in Form von vermehrten Leistungen zurückbekommen.

 

Mag dieses Verhalten noch so sehr verständlich erscheinen, hier beginnt bereits der Missbrauch, da eine Sicherungseinrichtung überhaupt nur ihre Aufgaben erfüllen kann, wenn diejenigen, welche in unterproportionaler Weise von den sozialen Risiken betroffen sind, auch mehr in die Versicherungen einzahlen, als selbst wiederum Zahlungen von den Kassen erhalten. Hier beginnt nun der Teufelskreis.

 

Weil der Missbrauch ansteigt, geraten die Sicherungseinrichtungen in finanzielle Schwierigkeiten und sehen sich gezwungen, erneut die Beitragssätze anzuheben. Gerade der Umstand, dass aber dann das Verhältnis von Beitrag zu Leistung immer ungünstiger wird, wird immer mehr Sicherungsnehmer veranlassen, nun selbst die Kassen missbräuchlich in Anspruch zu nehmen. Dies verschlechtert jedoch erneut die Finanzsituation, sodass weitere Beitragserhöhungen notwendig werden. Irgendwann einmal gerät das Sicherungssystem in eine Krise, da eben Missbrauch nicht allein dadurch bekämpft werden kann, dass man die Beiträge erhöht oder die Leistungen kürzt.

 

Eine solche Maßnahme mag zwar unerlässlich sein, schließlich kann eine Kasse immer nur das ausgeben, was sie eingenommen hat. Solange es jedoch bei dieser Maßnahme des Kürzens der Leistungen und der Erhöhung der Beiträge allein bleibt, findet nur ein Kurieren am Symptom statt und es ist keine Besserung in Sicht. Wir werden weiter unten sehen, dass die Einführung von Wahltarifen, bei denen bestimmte Leistungsgruppen von den Versicherten abgewählt werden können, neben verstärkter Aufklärung über die Funktionsweise der Sicherungseinrichtungen ein effizientes Mittel zur Reduzierung des Missbrauchs darstellen kann.

 

 

        12. Bilanzausgleich versus Bilanzdefizit

 

Weitere Unterschiede ergeben sich zwischen den Formen der sozialen Sicherung in der Frage, ob ein Bilanzausgleich zwingend notwendig erscheint oder aber ob auch ein Bilanzdefizit erlaubt ist. Innerhalb von Privatversicherungen sind sämtliche Ausgaben langfristig aus den regulären Einnahmen zu bestreiten, die im Wesentlichen aus Beiträgen und Zinserträgen bestehen. Natürlich besteht die Möglichkeit, kurzfristige Defizite über Kredite zu überbrücken. Kredite dienen jedoch nur der kurzfristigen Überbrückung, sodass langfristig nur reguläre Einnahmen zur Finanzierung der Ausgaben eingesetzt werden können. Auch können die Beiträge dazu verwandt werden, Rücklagen zu bilden, aus denen dann die Ausgaben teilweise finanziert werden, wenn diese kurzfristig die regulären Beitragseinnahmen übersteigen.

 

Auch die Sozialversicherungen finanzieren sich in der Regel aus Beiträgen. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass diese Einrichtungen Zuschüsse vom Staat aus Steuermitteln erhalten und in der Tat wurde von diesen Möglichkeiten sehr oft in größerem Maße Gebrauch gemacht. So war bei der Einführung der Rentenreform von 1957 in der BRD immerhin vorgesehen, dass etwa 1/3 der Renten aus Staatszuschüssen finanziert wurden. Im Laufe der Zeit wurde zwar der Staatszuschuss auf etwa 1/5 der Ausgaben reduziert, um dann wiederum im Zusammenhang mit den Finanzkrisen in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auf ein Drittel angehoben zu werden.

 

Begründet wurde dieser beachtliche Staatszuschuss zunächst damit, dass im Zusammenhang mit den Kriegsfolgen die gesetzliche Rentenversicherung mit Ausgaben belastet wurde, welche sich nicht aus den allgemeinen Aufgaben einer Rentenversicherung ergaben. In den 90er Jahren hingegen führte die deutsche Wiedervereinigung zu zahlreichen Rentenverpflichtungen gegenüber Personen, welche keine Beiträge in die Sozialversicherung entrichtet hatten.

 

Staatszuschüsse in größerem Umfang wurden auch in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung gewährt. Hier wurde vor Einführung der Harzreform auf der einen Seite die Arbeitslosenhilfe aus Steuermitteln finanziert, nur das reguläre Arbeitslosengeld war aus Beiträgen zu finanzieren. Auf der anderen Seite bestand auch die Verpflichtung des Staates, ein Überschuss der Ausgaben über die Beitragseinnahmen durch Staatszuschüsse abzudecken.

 

In den spezifischen wie auch unspezifischen Versorgungseinrichtungen werden die Ausgaben ohnehin nur vom Staat bestritten und somit ausschließlich aus Steuermitteln finanziert.

 

Staatszuschüsse werden hierbei zumeist mit verteilungspolitischen Zielen begründet. Man geht davon aus, dass nur die Ausgabenarten, die auch bei einer privaten Versicherung im Zusammenhang mit den einzelnen Risikotatbeständen entstehen, durch Beiträge finanziert werden sollten. Überall dort, wo aus verteilungspolitischen Gründen Verteilungsziele angestrebt werden, welche nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit den sozialen Risiken stehen, sollte soweit wie möglich der Versuch unternommen werden, die hieraus entstehenden zusätzlichen Ausgaben aus Steuermitteln zu finanzieren.

 

So hatten wir bereits weiter oben gesehen, dass in den bürokratischen Systemen in der Regel eine Begünstigung der einkommensschwachen Arbeitnehmer angestrebt wird, dass auch im Allgemeinen eine Begünstigung kinderreicher Familien in diesen Einrichtungen vorgesehen ist. Schließlich wird angestrebt, erbbedingte Belastungen, die im Rahmen erwerbsorientierter Einrichtungen nicht abgedeckt werden können, in den bürokratischen Systemen ebenfalls zu übernehmen.

 

Zum Problem wird die Frage eines möglichen Budgetdefizits jedoch vor allem im Zusammenhang mit möglichen Sekundärwirkungen auf die gesamtwirtschaftlichen Ziele der Vollbeschäftigung und der Geldwertstabilität. Hierbei werden im Hinblick auf diese gesamtwirtschaftlichen Problemgrößen recht unterschiedliche Ziele verfolgt. Von liberaler Seite wird zumeist die Forderung erhoben, die Einrichtungen der sozialen Sicherheit sollten möglichst konjunkturneu­tral agieren, sodass also von diesen Einrichtungen keine die Konjunktur beeinflussenden Wirkungen ausgehen. Keynesianisch orientierte Wissenschaftler hingegen haben diesen Einrichtungen bewusst die Aufgabe übertragen, aktiv zur Konjunkturstabilisierung beizutragen, in dem das Ausgaben- und Einnahmenverhalten dieser Einrichtungen antizyklisch zu gestalten sei.

 

Hierbei wurden auch sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber entwickelt, unter welchen Voraussetzungen das Budget des Staates als konjunkturneutral anzusehen ist. Neoklassiker gingen lange Zeit von der Vorstellung aus, dass ein ausgeglichenes Budget konjunkturneutral sei. Die Staatsausgaben hätten eine konjunkturbelebende Wirkung, während von den regulären Einnahmen (von Steuern bzw. Beiträgen) eine konjunkturdämpfende Wirkung ausging. Seien – wie dies bei einem ausgeglichenen Budget der Fall sei – Ausgaben und Einnahmen gleich groß, würden sich auch die konjunkturbelebenden und konjunkturdämpfenden Effekte gerade aufheben, also sei es einfach zur Erreichung der Konjunkturneutralität notwendig, das Budget des Staates stets auszugleichen.

 

Haavelmo hat jedoch darauf hingewiesen, dass im Allgemeinen auch von einem ausgeglichenen Budget Wirkungen auf die Konjunktur ausgehen. Eine Verlängerung eines ausgeglichenen Budgets führe zu einer Steigerung, eine Kürzung eines solchen Budgets hingegen zu einer Reduzierung des Inlandsproduktes, wobei allerdings der quantitative Effekt eines ausgeglichenen Budgets sehr viel geringer sei als der eines unausgeglichenen Budgets. Während eine mit Defiziten finanzierte Steigerung der Staatsausgaben das Inlandsprodukt um ein Vielfaches der Ausgabensteigerung erhöhe (je nach Sparneigung das Drei- bis Fünffache) führe ein ausgeglichenes Budget lediglich zu einer multiplikativen Steigerung des Inlandsproduktes von eins, dies entspricht gerade der Höhe der Ausgabensteigerung.

 

Ob diese konjunkturellen Auswirkungen eintreten, hängt nun weniger davon ab, ob ein Teil der Ausgaben der sozialen Sicherungseinrichtungen über Staatszuschüsse oder über Beiträge finanziert werden, vielmehr ist entscheidend, wie diese Staatszuschüsse selbst wiederum finanziert werden. Staatszuschüsse, welche aus Steuermitteln finanziert werden, haben auch keinen wesentlich anderen Effekt als beitragsfinanzierte Ausgaben, in beiden Fällen (Beitrags- oder Steuererhöhungen) wird das für Konsumzwecke zur Verfügung stehende Einkommen reduziert. Geringfügige Unterschiede ergeben sich allerdings daraus, dass Steuern nach anderen Kriterien als Beiträge erhoben werden. So gilt für die Einkommenssteuer, dass sie mit wachsendem Einkommen progressiv ansteigt, während die Beiträge zur Sozialversicherung in der Regel einkommensproportional anfallen, de facto sogar regressiv sind, da aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen der effektive Beitragssatz nach Überschreiten der Bemessungsgrenze sogar sinkt.

 

Konjunkturelle Wirkungen sind somit vor allem nur dann zu erwarten, wenn die Staatszuschüsse zugunsten der Einrichtungen der sozialen Sicherheit defizitär finanziert werden. Zwei Arten der defizitären Finanzierung sind hierbei zu unterscheiden. Der Staat kann durch Ausgabe von festverzinslichen Schuldverschreibungen auf dem Kapitalmarkt Kapital aufnehmen oder aber er kann die überschüssigen Ausgaben über Kredite der Notenbank, also praktisch durch Geldschöpfung finanzieren.

 

Die Verfassungen engen allerdings in der Regel die Möglichkeiten einer defizitären Finanzierung der Ausgaben des Staates ein. So sieht z. B. das Grundgesetz der BRD eine Beschränkung des Defizits auf das Volumen der Infrastrukturinvestitionen vor. Auch dürfen Staatsausgaben lediglich zur Überbrückung kurzfristiger Engpässe mit Notenbankkrediten finanziert werden. Die neuerdings im Grundgesetz eingeführte Schuldenbremse sieht sogar vor, dass der Staat nur in Ausnahmefällen und in sehr geringem Maße Budgetdefizite ausweisen darf.

 

Wenn Keynesianer die Vorstellung propagieren, dass die Einrichtungen der sozialen Sicherheit über Staatszuschüsse, welche defizitär finanziert werden, ganz gezielt die Konjunkturpolitik unterstützen sollten, so geht es ihnen in erster Linie darum, auf diese Weise das Ziel der Vollbeschäftigung zu realisieren.

 

Wenn sich jedoch die Neoklassiker und Neoliberalen dagegen aussprechen, dass die Einrichtungen der sozialen Sicherheit über defizitär finanzierte Staatszuschüsse aktive Konjunkturpolitik betreiben, so erfolgt diese Kritik vor allem aus folgenden drei Gründen. Als erstes wird bezweifelt, dass man über Defizite im Staatshaushalt den Beschäftigungsgrad steigern kann. Nach angebotstheoretischer Vorstellung kann Arbeitslosigkeit auch auf überhöhte Kosten zurückgeführt werden, wobei die Arbeitslosigkeit seit den 90er Jahren vorwiegend auf solche angebotstheoretischen Ursachen zurückzuführen sei.

 

Zweitens wird befürchtet, dass Budgetdefizite längerfristig zu Preissteigerungen führen. So weist z. B. Milton Friedman im Zusammenhang mit der Diskussion um die Phillipskurve darauf hin, dass staatlich initiierte Ausgabensteigerungen nur kurzfristig zu Gewinnsteigerungen und auf diesem Wege zu einer Ausweitung der Produktion und Beschäftigung führten. Langfristig sinke der Gewinn und damit der Anreiz zur Mehrproduktion wieder, spätestens dann, wenn die Gewerkschaften eine Lohnanpassung an die gestiegenen Güterpreise durchsetzten.

 

Drittens schließlich sei ein ausgeglichenes Budget auch zur demokratischen Kontrolle der Regierung notwendig. Ausgabensteigerungen führten zu Zuwächsen in den Wählerstimmen, Steuererhöhungen hingegen zu Abwanderungen der Wähler zur Opposition. Hätten die Politiker die Möglichkeit, wählerwirksame Ausgabensteigerungen durchzuführen, ohne diese Ausgabenzuwächse mit zusätzlichen Steuern zu finanzieren, bestünde die Gefahr, dass die Staatsausgaben über das von den Wählern akzeptierte Ausmaß angehoben würden. Entscheidend ist hierbei, dass auch defizitär finanzierte Staatsausgaben letztlich über Preissteigerungen von den Wählern getragen werden müssen, aber von diesen nicht in ihrem vollen Ausmaße erkannt werden.

 

Bei unseren bisherigen Überlegungen gingen die konjunkturellen Auswirkungen der Einrichtungen der sozialen Sicherheit vor allem unter dem Gesichtspunkt gewollter oder ungewollter Sekundärwirkungen in die Betrachtung ein. Nun müssen wir berücksichtigen, dass im Hinblick auf die Arbeitslosenversicherung die Beschäftigungswirkungen noch in anderer Hinsicht von Bedeutung sind, da ja die Arbeitslosenversicherung den Risikotatbestand der Arbeitslosigkeit zum Inhalt hat. Hier geht es also nicht nur darum, Sekundärwirkungen zu vermeiden oder auch zu begünstigen, eine Arbeitslosenversicherung hat vielmehr daraufhin zu wirken, dass von dieser Einrichtung positive, aber auf keinen Fall negative Wirkungen auf den Beschäftigungsgrad ausgehen.

 

Vor allem im Rahmen der keynesianischen Theorie wurde nun in diesem Zusammenhang die Frage diskutiert, ob der Staat durch autonom festgesetzte und defizitär finanzierte Staatszuschüsse an die Arbeitslosenversicherung eine Minderung der Arbeitslosigkeit und damit Vollbeschäftigung ansteuern solle, oder aber ob die Arbeitslosenversicherung mit Einrichtungen, sogenannten eingebauten Stabilisatoren versehen werden soll, aufgrund derer die Aktivität der Arbeitslosenversicherung automatisch, also von selbst auf eine Stabilisierung der Konjunktur und des Beschäftigungsgrades abziele.

 

Wenn ein Konjunkturabschwung beginne und also Arbeitslosigkeit drohe, gingen mit dem Beschäftigungsgrad auf der einen Seite die Beitragseinnahmen automatisch zurück. Auf der anderen Seite stiegen jedoch die Ausgaben auch automatisch an, da ja die Arbeitslosen Arbeitslosengeld erhielten. Mit zunehmendem Abschwung bilde sich also ein Defizit im Budget der Arbeitslosenversicherung, das auch umso größer werde, je größer der Konjunkturabschwung ausfalle. Entsprechend keynesianischer Vorstellung ist jedoch gerade dieses Defizit in der Lage, die Arbeitslosigkeit zu vermindern und führt deshalb ohne zusätzliches aktives Eingreifen des Staates zu einer Erhöhung des Beschäftigungsgrades.

 

Allerdings müssen einige Voraussetzungen gegeben sein, damit von den Einrichtungen der Arbeitslosenversicherung diese erwünschten Effekte ausgehen. Erstens müssen die Beitragssätze konjunkturunabhängig über den Konjunkturzyklus hinweg konstant bleiben. Politiker neigen dazu, in Zeiten des Konjunkturaufschwungs aufgrund der anfallenden Überschüsse bei der Arbeitslosenversicherung die Beiträge herabzusetzen, während umgekehrt in Zeiten der Rezession aufgrund der Defizite die Beitragssätze heraufgesetzt werden. Es ist klar, dass ein solches Verhalten der Politiker den erwünschten stabilisierenden Effekt zunichte macht. Voraussetzung dafür dass eine Arbeitslosenversicherung von selbst dazu beiträgt, die Arbeitslosenzahl zu reduzieren, ist gerade, dass die Arbeitslosenversicherung in Zeiten des Konjunkturabschwungs Defizite aufweist, in Zeiten der Konjunkturüberhitzung hingegen Überschüsse.

 

Aus gleichen Gründen darf natürlich die defizitäre Lage der Arbeitslosenversicherung nicht in Zeiten des konjunkturellen Abschwungs von den Politikern dazu benutzt werden, die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung zu verringern, vor allem also nicht, das Arbeitslosengeld zu kürzen. Genau so falsch wäre es, die Überschüsse der Arbeitslosenversicherung in Zeiten des Konjunkturaufschwungs dazu zu benutzen, das Arbeitslosengeld zu erhöhen. Wiederum würden auf diese Weise die Defizite und Überschüsse abgebaut und damit die Voraussetzungen zur Wirksamkeit der Stabilisierung vernichtet.

 

Auch dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, reicht der eingebaute Stabilisator auf keinen Fall aus, um auf diesem Wege Vollbeschäftigung zu erreichen. Würde sich der Staat darauf beschränken, sich zum Zwecke der Vollbeschäftigung auf die Einrichtung solcher eingebauter Stabilisatoren zu stützen, könnte zwar u. U. die Arbeitslosigkeit vermindert, aber keinesfalls vollständig abgebaut werden. Machen wir uns diese Zusammenhänge anhand einer Graphik klar.

 

Auf der Abszisse tragen wir das Einkommen der Beschäftigten, auf der Ordinate die Ausgaben und Einnahmen der Arbeitslosenversicherung ab. Sofern der Beitragssatz einen festen Prozentsatz des Einkommens ausmacht, steigen die Beitragseinnahmen mit dem Einkommen stetig (im Sinne einer Geraden mit gleichem Winkel an. Die Beitragskurve beginnt im Nullpunkt, gäbe es kein Einkommen, würden auch keine Beitragseinnahmen erzielt. Die Beitragskurve steigt mit dem Einkommen an, wobei die Steigung von der Höhe des Beitragssatzes abhängt, sie liegt deutlich unter 45%, da ja die 45%-Linie der jeweiligen Höhe des Einkommens entspricht und der Beitragssatz immer nur einen kleinen Prozentsatz des Einkommens ausmacht.

 

 

Beschreibung: Beschreibung: risiko3

 

Die Ausgabenhöhe hängt wiederum bei gleichbleibendem Umfang des Arbeitslosengeldes als Prozentsatz des bisherigen Einkommens von der Zahl der Arbeitslosen ab. Bei einem Einkommen, das bei Vollbeschäftigung erreicht würde, wäre die Arbeitslosengeldsumme ex definitione null, sie stiege mit wachsender Arbeitslosenzahl an, wobei die Steigung dieser Geraden davon abhängt, wie viel Prozent das Arbeitslosengeld im Hinblick auf das bisherige Einkommen ausmacht. Wiederum gilt, dass die Steigung der Ausgabenkurve deutlich unter 45% liegt, da eine 45%-Linie besagen würde, dass das Arbeitslosengeld 100% des bisherigen Einkommens ausmachen würde.  Es würde nicht nur die Möglichkeiten der Arbeitslosenversicherung übersteigen, das Arbeitslosengeld so hoch anzusetzen, es gingen auch in diesem Falle unerwünschte Anreize auf die Beschäftigten aus. Warum sollte man noch arbeiten, wenn man auch ohne zu arbeiten genauso vielen Einkünften erhalten könnte.

 

Da nun die Arbeitslosenzahl in dem gleichen Umfang ansteigt als die Beschäftigtenzahl und damit auch die Einkommenssumme zurückgeht, können wir die Ausgabenkurve als eine negativ geneigte Kurve in unser Diagramm einzeichnen, sie schneidet die Abszisse bei Vollbeschäftigung, da hier ex definitione die Summe der Arbeitslosengelder null wird.

 

Unsere Graphik zeigt, dass der Schnittpunkt beider Kurven die durch die Aktivität der Arbeitslosenversicherung realisierte Einkommenshöhe und damit auch den erreichten Beschäftigungsgrad markiert. Der Schnittpunkt liegt eindeutig diesseits der Vollbeschäftigungslinie, sodass also auf diesem Wege immer ein bestimmter Umfang an Arbeitslosigkeit trotz eingebautem Stabilisator bestehen bleibt.

 

Zugunsten eingebauter Stabilisatoren spricht der Umstand, dass keinerlei Verzögerungen eintreten, ein Konjunkturabschwung führt über eine Reduzierung der Beschäftigung automatisch und sofort zu einer Verringerung der Beitragseinnahmen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung mit dem Beschäftigungsrückgang sofort an.

 

Der Nachteil eines eingebauten Stabilisators liegt darin, dass die Höhe der Ausgaben und Einnahmen und damit auch des eventuellen Budgetdefizits nicht autonom von den Politikern festgesetzt werden kann. Vor allem dann, wenn mehrere politische Ziele in einem Zielkonflikt zueinander stehen, kann es erwünscht sein, je nach Situation das beschäftigungspolitische Ziel und damit auch den Umfang des Budgetdefizits autonom zu bestimmen.

 

Eingebaute Stabilisatoren wurden nicht nur für die Arbeitslosenversicherung diskutiert. Wir haben oben bereits daraufhin gewiesen, dass bei Einführung der dynamischen Rente 1957 die Anpassung der Renten an das Wachstum der Löhne verzögert erfolgte, um auf diese Weise eine antizyklische Rentenanpassung zu erreichen. Man wollte auf diese Weise erreichen, dass auch von der gesetzlichen Altersversicherung automatisch konjunkturstabilisierende Effekte ausgehen. Wir haben allerdings bereits darauf hingewiesen, dass mit dieser Wirkung nicht gerechnet werden konnte, weil wir in der Realität mit unterschiedlich langen Konjunkturzyklen rechnen müssen und wir haben weiterhin aufgezeigt, dass diese Verzögerung aus diesen und anderen Gründen in den 90er Jahren wieder aufgegeben wurde.

 

Fortsetzung folgt!