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Analyse des bestehenden Steuersystems

 

 

 

Gliederung:

 

1. Ziele und Mittel

2. Verbrauchs- und Umsatzsteuern

3. Einkommensteuer

4. Vermögen- und Erbschaftsteuer

5. Kraftfahrzeug- und Mineralölsteuer

6. Sozialabgaben

7. Gewinnsteuern und Kopfsteuern

8. Zölle und Subventionen

9. sonstige Steuern (Körperschaftsteuer, Grundsteuern, Gewerbesteuern)

 

 

 

 

Kapitel 3: Einkommensteuer Teil I

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung

2. Der progressive Einkommensteuersatz

3. nominelle versus reale Bezugsgröße

4. Stufentarif statt Formeltarif

5. Einheitlicher Steuersatz und die Problematik der Abgeltungssteuer

6. Ehegattensplitting

7. Reduzierung versus Erhöhung der Steuersätze

8. Der Wegfall von Steuervergünstigungen

9. Der Begriff der Werbekosten

                10. Der Vorschlag einer negativen Einkommensteuer

 

 

 

1. Einführung

 

Im Zusammenhang mit der Reform der Einkommensbesteuerung wurden lange Zeit in der politischen Diskussion vor allem drei Forderungen erhoben. Man forderte erstens, die Steuererklärung zu vereinfachen, zweitens die Steuersätze zu verändern und drittens etwaige Steuersenkungen gegenzufinanzieren.

 

Das Thema einer Vereinfachung der Besteuerung ist allerdings nicht neu. Zur Vereinfachung der Besteuerung wurde vor allem vorgeschlagen, den Steuertarif durch Reduzierung der Steuerstufen zu vereinfachen, einen großen Teil der Steuerbefreiungen zu streichen und nur jedes zweite Jahr eine Steuererklärung abzuverlangen.

 

Bereits Friedrich Merz hatte dieses Thema in den Mittelpunkt seiner Reformbestrebungen gestellt. Für Aufsehen sorgte ein im Jahr 2003 unter seiner Leitung ausgearbeitetes Steuerkonzept, das drei Steuerstufen von 12, 24 und 36 Prozent und somit deutlich geringere Steuerstufen als im heutigen Steuerrecht vorsah. In den Medien machte damals der Vorschlag von Merz die Runde, jeder Bürger sollte seine Einkommensteuer auf einem Bierdeckel ausrechnen können. Das Konzept beruhte in wesentlichen Zügen auf dem von Kirchhof entwickelten Modell.

 

Paul Kirchhof ist ein deutscher Verfassungs- und Steuerrechtler. Er war Professor an der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Langfristig strebte er anstelle der in Deutschland geltenden progressiven Einkommensteuer einen einheitlichen Grenzsteuersatz von 25% für alle Einkommensgruppen an. Freibeträge und Sozialausgleich sollten aber auch im Steuermodell von Kirchhof für eine indirekte Progression des Durchschnittssteuersatzes sorgen.

 

Bisweilen wurde auch von Seiten einiger führender CDU-Politiker der Vorschlag diskutiert, die Steuererklärung nicht jedes Jahr, sondern nur jedes zweite Jahr abzugeben. Das Abfassen einer Einkommensteuererklärung sei für den nicht vorgebildeten Bürger so komplex und schwierig, dass man ihn nicht jedes Jahr zu einer solchen Abgabe einer Steuererklärung zwingen sollte.

 

In diesem Artikel wollen wir uns nur am Rande mit dem Problem einer Vereinfachung des Einkommensteuergesetzes befassen. Es soll lediglich gezeigt werden, dass die Problematik einer Steuervereinfachung nicht so einfach ist, wie sie in den öffentlichen Medien bisweilen diskutiert wurde und dass es sich hierbei stets vor allem um einen Konflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit handelt.

 

Natürlich kann man davon ausgehen, dass das Ausfüllen der immer komplizierter werdenden Steuerformulare für fast jeden Steuerzahler ausgesprochen lästig ist, sodass sicherlich diese Art von Reform von sehr vielen Steuerzahlern begrüßt werden würde. Ob auf diese Weise eine faire Regelung gefunden wird, hängt allerdings von der Art ab, wie diese Vereinfachung durchgeführt wird.

 

Ich möchte anhand dreier Möglichkeiten aufzeigen, dass nicht jede Form solcher Vorschläge weder für den Bürger noch für den Staat vorteilhaft ist. Nehmen wir den Vorschlag, nur alle zwei Jahre eine Steuererklärung abzugeben.

 

Dieser Reformvorschlag könnte erstens so ausgestaltet sein, dass in dem Jahr, in welchem keine Steuererklärung notwendig ist, einfach die für das vorhergehende Jahr berechnete Steuerschuld auch in jeweils dem zweiten Jahr, in dem keine Steuererklärung notwendig ist, zu bezahlen ist und dass in dem folgenden Jahr die dann anfällige Steuerschuld wiederum lediglich auf der Grundlage der Gegebenheiten dieses Jahres berechnet wird, unabhängig davon, wie viel Steuern im vorhergehenden Jahr bezahlt wurden.

 

Es ist klar, dass eine solche Regelung zu unerwünschten Ergebnissen vor allem im Hinblick auf das Ziel der Steuergerechtigkeit führen würde. Ein Steuerzahler, welcher im zweiten Jahr, in dem keine Steuererklärung fällig wird, wesentlich mehr Einkommen als im Vorjahr erreicht hatte, wird begünstigt, obwohl es für die Begünstigung keinerlei Rechtfertigungsgründe gibt.

 

Umgekehrt wird derjenige, welcher im zweiten Jahr gegenüber dem Vorjahr einen wesentlichen Einkommensverlust erleidet, mehr Steuern zu zahlen haben als eigentlich gerecht wäre, er wird also benachteiligt. Und diese Benachteiligung wiegt umso schwerer, als sie gerade zu einer Zeit eintritt, in dem der wirtschaftliche Erfolg für diesen Steuerzahler geringer wird und er gerade deshalb darauf angewiesen ist, über ausreichend finanzielle Mittel zu verfügen, um durch Rationalisierungsinvestitionen die vorübergehende Flaute zu überwinden.

 

Handelt es sich weiterhin nicht um eine individuelle, auf einige wenige Steuerzahler beschränkte Einkommensminderung, sondern hat ein allgemeiner konjunktureller Rückgang diesen Einkommensverlust verursacht und ist somit die Mehrheit der Steuerzahler von diesen Rückschlägen betroffen, besteht die Gefahr, dass den Unternehmungen gerade auf diese Weise die finanziellen Mittel entzogen werden, welche sie benötigen, um die Konjunkturkrise zu überwinden. Letzten Endes wird dann auch der Abbau der konjunkturellen Arbeitslosigkeit verzögert.

 

Nun ist es natürlich unwahrscheinlich, dass die Politiker diese erste Variante einer Steuervereinfachung durch eine bloße Verlängerung der Zeiten wählen, in denen eine Einkommensteuererklärung abgegeben werden muss. Auch das jetzige Steuerrecht kennt ja die Möglichkeit des Verlustvortrages, dass also Verluste vom Vorjahr bei der Steuererklärung auf das neue Jahr unter gewissen Voraussetzungen übertragen werden können. Auch wird die durch Vorauszahlungen der Steuerpflicht zu viel gezahlte Steuersumme ja wieder zurückgezahlt.

 

Also wird eine zweite Variante der Steuervereinfachung wahrscheinlicher: In der jeweils nachfolgenden Steuererklärung können die zu viel gezahlten Steuern bei der Berechnung der neuen Steuerschuld in Rechnung gestellt werden. Es verbleibt aber trotzdem ein schwer wiegender Mangel. Der Steuerzahler, dessen Einkommen zurückgegangen ist und dessen Steuerschuld deshalb zu hoch war, muss für zwei Jahre dem Staat einen zinslosen Kredit gewähren, genauso wie derjenige Steuerzahler begünstigt wird, dessen Einkommen gegenüber dem Vorjahr angestiegen ist, dem also sozusagen vom Staat ein zinsloses Darlehen gewährt wurde.

 

Auch hier entsteht also eine Nichtgleichbehandlung. Für denjenigen, der dem Staat einen zinslosen Kredit gewähren musste, kommt noch hinzu, dass ihm gerade in einer Zeit, in der er zum Abbau seiner Verluste über Geldmittel verfügen muss, um durch Rationalisierungsinvestitionen die Absatzmöglichkeiten wiederum zu verbessern, diese benötigten Geldmittel entzogen werden. Er muss entweder für hohe Zinsen zusätzliche Kredite bei den Banken aufnehmen oder was noch schlimmer wäre, er hat vielleicht gerade wegen seiner augenblicklich schlechten Ertragslage Schwierigkeiten, von den Banken Kredite zu erhalten und kann deshalb die für einen Aufschwung notwendigen Investitionen nicht durchführen.

 

Da also auch diese zweite, wahrscheinliche Variante einer zweijährigen Steuererklärungspflicht mit erheblichen Nachteilen verbunden ist, könnte man an eine dritte Variante denken. Man könnte formal daran festhalten, dass Steuererklärungen jedes Jahr fällig werden, dem einzelnen Steuerzahler aber dann freistellen, ob er eine vollständig neue Steuererklärung abgibt oder sich darauf beschränkt, in einer einfachen Mitteilung eidesstaatlich zu versichern, dass sich seine Einkommensverhältnisse nicht wesentlich verändert haben und dass der Staat deshalb auf die Abgabe einer vollständig neuen Steuererklärung verzichtet.

 

Der Staat hätte in diesem Falle festzulegen, ab wann denn davon gesprochen werden muss, dass sich die Einkommensverhältnisse wesentlich verbessert haben, so könnte verordnet werden, dass Steigerungen des – der Steuerpflicht unterlegenen – Einkommen erst dann als wesentlich angesehen werden, wenn dieses Einkommen um mehr als 3 oder auch 5% angestiegen ist.

 

Es liegt dann an dem einzelnen Steuerzahler, wie oft er eine vollständige Steuererklärung neu abgeben muss, es sind sicherlich viele Fälle denkbar, bei denen nur in ganz seltenen Fällen eine neue Steuererklärung fällig wird. Sofern sich die Einkünfte wesentlich verschlechtert haben, liegt es dann im eigenen Interesse im nächsten Jahr eine vollständige Steuererklärung abzugeben.

 

Natürlich muss man immer damit rechnen, dass es einen hoffentlich kleinen Prozentsatz von Steuerzahlern gibt, die den Staat dadurch zu betrügen versuchen, dass sie eine falsche Aussage machen. Diese Gefahr dürfte jedoch nicht wesentlich größer sein als auch im heutigen Steuerrecht, wo ja auch damit gerechnet werden muss, dass zahlreiche Bürger eine falsche Steuererklärung abgeben. Immerhin müsste der einzelne Steuerzahler seine Angaben an Eidesstatt abgeben und er würde bei Betrugsabsichten Gefahr laufen, mit hohen Strafen vom Staat verfolgt zu werden.

 

Es spricht auch vieles dafür, dass im Zuge dieser grundlegenden Vereinfachungen bei der Abgabe der Steuererklärung gleichzeitig vorgesehen wird, dass die gesetzlichen Rentenversicherungen verpflichtet werden, die anfällige Steuerschuld unmittelbar an die Finanzämter zu überweisen und den Rentner nur das Nettoeinkommen auszuzahlen. Es leuchtet beim besten Willen nicht ein, weshalb Arbeitnehmer, bei denen in der Regel (wenn sie lediglich ein Arbeitsverhältnis eingegangen sind) die fällige Steuerschuld unmittelbar vom Arbeitgeber an das Finanzamt gezahlt wird und diese Arbeitnehmer deshalb zeit ihres Erwerbslebens keine Einkommensteuererklärung abzugeben hatten, in dem Augenblick, in dem  sie aus dem Erwerbsleben ausscheiden, bei der Steuerpflicht wie Selbstständige behandelt werden. Für einen recht großen Teil der Rentner gilt ja ohnehin, dass ihre gesetzliche Rente so gering ist, dass sie unter der Einkommensgrenze liegt, von der ab überhaupt erst eine Steuerpflicht beginnt.

 

Nun ist es natürlich richtig, dass in der Zwischenzeit ein relativ großer Teil der Arbeitnehmer zwei Renten bezieht, die gesetzliche Altersrente und eine zusätzliche, vom bisherigen Arbeitgeber gewährte Betriebsrente. Auch diese Betriebsrenten werden ja oftmals wie Einkommen behandelt, sodass von diesen zusätzlichen Einkünften die Arbeitgeber bereits die Steuerschuld vorweg abziehen. Und dort, wo dieser Abzug bisher nicht erfolgte, müsste eben die auszuzahlende Stelle (der Arbeitgeber oder die betreffende Versicherung) zu diesem Abzug ebenfalls verpflichtet werden.

 

Nun könnte man einwenden, dass auf diese Weise die Steuerprogression umgangen wird, da ja die Institutionen, welche die verschiedenen Renten auszahlen, immer nur die jeweilige einzelne Rente der Berechnung der Steuerschuld zugrunde legen. Bei der Addition beider Renten ergibt sich jedoch ein höherer Steuerprozentsatz, dies ist ja der Sinn einer Steuerprogression.

 

Trotzdem halte ich diesen Einwand – obwohl er natürlich formal richtig ist – nicht für überzeugend und dies aus zweierlei Gründen. Erstens gilt es zu berücksichtigen, dass die Renten auch in ihrer Summe im Vergleich zum bisherigen Einkommen kaum mehr als 60%, oftmals viel weniger ausmachen, sodass ohnehin der durch Zusammenlegung beider Renten höhere Steuerprozentsatz in den meisten Fällen nicht wesentlich höher ausfallen dürfte als der Durchschnitt des Steuerprozentsatzes bei Ausrechnung der anfälligen Steuer für jede einzelne Rente getrennt. Vor allem aber muss daran erinnert werden, dass der Staat bei der Besteuerung von Kapitalerträgen seit Einführung der Abgeltungssteuer ebenfalls bereits nur einen einfachen Steuersatz festlegt, unabhängig davon, wie groß das Gesamteinkommen der Steuerpflichtigen ist.

 

In diesen Fällen hat der Staat bewusst vor allem aus wettbewerblichen Gründen gegenüber anderen Ländern darauf verzichtet, auf die Kapitalerträge ebenfalls die Progression anzuwenden. Warum sollte es nicht möglich sein, bei der Berechnung der Steuerschuld im Zusammenhang mit den Renten in gleicher Weise vorzugehen. Bei den Kapitalerträgen standen doch wesentlich höhere Gesamteinkommen zur Diskussion, so dass in diesen Fällen der Staat auf sehr viel mehr Einnahmen durch Einführung einer Abgeltungssteuer verzichtet hat.

 

Vor allem aber spricht gegen eine grundsätzliche Vereinfachung der Einkommensbesteuerung die Tatsache, dass ja der wohl größte Teil der Arbeitnehmer während ihrer Erwerbstätigkeit nur einen Arbeitsplatz einnimmt und darüber hinaus keine so hohen Zinserträge erhält, dass eine Besteuerung auch dieses Kapitaleinkommens anfällt. Die für das Lohneinkommen anfallenden Einkommensteuern werden jedoch vom Arbeitgeber unmittelbar an das Finanzamt abgeführt, sodass also die Masse der Arbeitnehmer weder heutzutage komplizierte Steuererklärung abzugeben hat noch durch eine solche Reform wesentlich entlastet würde. Für den größten Teil der Rentner gilt ebenso, dass nur die gesetzliche Rente eine solche Höhe erreicht, welche eine Steuerpflicht auslöst, hier würde wie bereits erwähnt eine Regelung, die Einkommensteuer von den Rentenversicherungsanstalten ähnlich wie die Lohnsteuer unmittelbar an das Finanzamt abzuführen, den Rentnern eine gewisse Entlastung bringen.

 

Wenden wir uns kurz der Forderung nach einer Veränderung der Steuersätze zu. In dieser Frage bestehen in der öffentlichen Diskussion weit größere Unterschiede, so fordern die einen eine Reduzierung der Steuerlast, während andere ganz im Gegensatz hierzu eine Erhöhung der Steuertarife fordern. Hierbei gilt für beide Gruppen, dass diese Veränderung in den Steuersätzen vorwiegend nur bei den Empfängern höherer Einkommen vorgenommen werden sollten. Die Anhänger einer Steuererhöhung wollen bewusst nur die höheren Einkommensklassen zusätzlich belasten, um auf diese Weise den Differenzierungsgrad der Bruttoeinkommen zu reduzieren. Bisweilen wird sogar diese Forderung damit verbunden, dass für Empfänger geringerer Einkommen die bisherige Steuerlast reduziert wird. Auf jeden Fall sind es also verteilungspolitische Zielsetzungen, welche diese Gruppe in den Mittelpunkt ihrer Reformpläne stellen.

 

Unabhängig von diesen Tendenzen hat das bestehende Steuersystem in der BRD auch schon bisher der Forderung nach einer gerechten Besteuerung im Sinne eines gleichen Opfers nicht voll entsprochen. Die Inflationierung und der damit zusammenhängende Tatbestand, dass immer mehr Arbeitnehmer in die Progressionszone der Einkommensteuer gerieten, hat dazu geführt, dass eine Differenzierung in den Steuersätzen kaum mehr ohne wiederholte Senkungen in den Steuersätzen möglich wird.

 

Darüber hinaus wies das bisherige Steuersystem zwei weitere gravierende Mängel auf: Auf der einen Seite wird bei Zinseinkommen die Inflationierung nicht berücksichtigt, obwohl ein Teil der Zinsen lediglich ein Pendant dafür darstellt, dass der Realwert des Kapitals im Umfang der Inflationierung zurückgeht. Also verlangt die Forderung nach Steuergerechtigkeit eigentlich, dass nur die Teile des Zinseinkommens besteuert werden, bei denen der Zins die Inflationsrate übersteigt. Diese Ungerechtigkeit hätte natürlich auch bei Aufrechterhaltung des bisherigen Steuersystems leicht behoben werden können.

 

Etwas weniger korrekturfähig und wie wir gleich sehen werden auch korrekturbedürftig ist ein zweiter Mangel des bestehenden Systems. Während Zinseinkommen voll der Einkommensteuer unterliegen, werden Kursgewinne im Prinzip und in langfristiger Sicht nicht versteuert, obwohl sie – allerdings nur auf den ersten Blick – genauso wie die Zinserträge die Wohlfahrt der Kapitalbesitzer vermehren.

 

Nun werden zwar seit einiger Zeit Kursgewinne als Spekulationsgewinne besteuert, wenn diese Gewinne nicht langfristig angelegt werden, sondern innerhalb Jahresfrist eingelöst werden. Diese Besteuerung erfolgt jedoch nicht aus verteilungspolitischen, sondern aus allokationspolitischen Gründen.

 

Spekulation gilt danach volkswirtschaftlich als unerwünscht, die mit dieser Spekulationssteuer bekämpft werden soll. Dahinter steht die falsche Ansicht, dass Spekulation als solche volkswirtschaftlich unerwünscht sei, da sie die Lage auf den Kapitalmärkten destabilisiere. In Wirklichkeit unterscheiden wir jedoch zwischen stabilisierender und destabilisierender Spekulation, die stabilisierende Spekulation ist volkswirtschaftlich erwünscht und sollte deshalb gerade nicht bekämpft werden.

 

Achtet man allein auf den Aspekt einer gerechten Besteuerung, so müssten alle Kursgewinne unabhängig davon, ob sie sehr schnell oder überhaupt nicht eingelöst werden, genauso wie die Zinseinkommen besteuert werden. Natürlich müssten in diesem Falle auch die Kursverluste als Einkommensverluste vom sonst erzielten Einkommen abgezogen werden.

 

Hier beginnen jedoch die praktischen Schwierigkeiten. In normalen Zeiten wird man davon ausgehen müssen, dass das durchschnittliche Kursniveau konstant bleibt, den Kursgewinnen einzelner Besitzer von Wertpapieren entsprechen Verluste anderer Wertpapierbesitzer.

 

Bei Berücksichtigung der Kursveränderungen bei der Einkommensteuer würde also der Fiskus in normalen Zeiten keinen wesentlichen Mehrertrag aus den Kursveränderungen erzielen, da aber die Erhebung von Kursveränderungen relativ hohe Kosten verursacht, wäre die Besteuerung von  Kursgewinnen für den Staat per saldo ein Verlustgeschäft. Der Staat würde nur in den Zeiten durch Kursgewinnbesteuerung zusätzliche Erträge erwirtschaften, in denen die Kurse generell steigen. In den vergangenen Jahren zu Beginn dieses Jahrhunderts, in denen die Kurse auf mehr als die Hälfte gesunken waren, hätte sich bei einer Kursgewinnbesteuerung die katastrophale Finanzlage der öffentlichen Hand um ein Weiteres vergrößert.

 

Natürlich hätte eine Verwirklichung dieser Steuerpläne, aber auch schon der Umstand, dass diese Forderung erhoben wird, katastrophale Auswirkungen. Was man mit der einen Hand durch Reduzierung der allgemeinen Einkommensteuersätze gewonnen hätte, würde in diesem Fall mit der anderen Hand wieder genommen. Eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen ist nur dann zu erwarten, wenn die Nettogewinne insgesamt ansteigen, eine Verlagerung der Kosten bringt in dieser Frage überhaupt keinen Erfolg. Bereits die Diskussion über diese Fragen verschlechtert die Investitionsbereitschaft.

 

Solange die Unternehmer nicht klar sehen, wie hoch die Steuerbelastung insgesamt in Zukunft ausfallen wird, ist die für einen anhaltenden Aufschwung notwendige Zunahme in der Investitionsbereitschaft  nicht zu erwarten.

 

Der Versuch, alle Kursgewinne von Wertpapieren sofort und nicht erst beim Verkauf dieser Wertpapiere zu versteuern, begegnet unabhängig von diesen mehr praktischen Vorschlägen aber auch einer grundsätzlichen Kritik. Wir können nämlich nicht davon ausgehen, dass Veränderungen in den Wertpapierkursen tatsächlich auch eine dementsprechende Veränderung in der realen Vermögensposition widerspiegeln.

 

In Wirklichkeit sagen nämlich Kursveränderungen sehr wenig über die Veränderung in den realen Vermögensverhältnissen aus, sie spiegeln lediglich die veränderten Erwartungen derjenigen wider, welche an den Börsen Wertpapiere kaufen oder verkaufen. Die Zerstörung des Welt Trade Zentrums im Jahre 2001 hat vorübergehend zu einem Kursverlust von fast 40% des gesamten Wertpapierwertes geführt, obwohl die eigentlichen materiellen Ressourcen der Weltwirtschaft durch diese tragischen Ereignisse kaum nennenswert reduziert wurden.

 

Es waren nur die fatalen Erwartungen über einen möglichen Zusammenbruch des gesamten Finanzmarktes, welche zu diesem enormen Kursverfall geführt haben, die dann panikartige Verkäufe und nur deshalb enorme Kurssenkungen ausgelöst haben. Das reale Vermögen hat sich jedoch aufgrund dieser Veränderungen in den Wertpapierkursen überhaupt nicht verändert. Aus der Sicht des einzelnen Besitzers von Wertpapieren tritt überhaupt erst dann eine reale Veränderung seiner Vermögensverhältnisse ein, wenn er sich gezwungen sieht, seine Wertpapiere zu verkaufen, obwohl es ratsam wäre, diesen Verkauf auf die Zeit zu verschieben, in der die Kurse wiederum stabil sind.

 

Aus der Sicht der gesamten Volkswirtschaft führen aber diese übereilten Verkäufe von Wertpapieren immer noch nicht zu einem realen Verlust des Volksvermögens, da dem Verlust des Verkäufers ein gleich großer Gewinn des Käufers entspricht. Erst dann, wenn aufgrund zahlreicher Verkäufe von Wertpapieren die einzelnen hiervon betroffenen Unternehmungen nicht mehr in der Lage sind, durch Neuauflage von Wertpapieren oder durch Kreditnahme bei den Banken neue Mittel zur Finanzierung der notwendig gewordenen Investitionen aufzunehmen, ergeben sich Verluste, welche auch das reale Vermögen dieser Unternehmungen und damit auch der gesamten Volkswirtschaft verringern.

 

Es ist deshalb grundsätzlich auch falsch, in den Steigerungen der Wertpapierkurse bereits realisierte Gewinne zu sehen, die der Staat eigentlich zu versteuern hat. Ein Kursgewinn in den Wertpapieren bringt nur zum Ausdruck, dass die Gesamtheit der an der Börse agierenden Personen von der Erwartung ausgeht, dass sich die wirtschaftliche Lage der betroffenen Unternehmungen in naher Zukunft verbessern wird. Ein realer Vermögenszuwachs tritt aber immer erst dann ein, wenn diese Erwartungen tatsächlich eintreten oder für den Einzelnen auch dann, wenn die Wertpapiere verkauft werden und damit der Kursgewinn zu einem tatsächlichen Zuwachs des realen Vermögens der Verkäufer führt.

 

Ganz im Gegensatz zu diesen Reformplänen wird  bisweilen eine Reduzierung der Steuerlast und hier vorwiegend aus allokativen Gründen gefordert. Der wichtigste Grund für eine Reform des überlieferten Steuersystems wurde in der Zeit der rot grünen Regierung unter Schröder z. B. in der Tatsache gesehen, dass die deutschen Unternehmungen wegen zu hoher Belastungen aufgrund der Steuern und der Arbeitgeberbeiträge im internationalen Handel nicht mehr wettbewerbsfähig seien.

 

Die Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit hatte früher eine geringere Rolle gespielt, da die nationalen Staaten zunächst durch zahlreiche Beschränkungen des internationalen Wettbewerbs vor ausländischer Konkurrenz weitgehend geschützt waren. Dieser Schutz entfiel durch die immer stärker wirkende Liberalisierung des zunächst europäischen, aber danach auch weltweiten Handels und - damit zusammenhängend - der Zunahme der Mobilität von Kapital. In einer liberalisierten Welt ohne Schutzzölle und Zuwanderungsbeschränkungen entscheidet allein oder zumindest vorwiegend die Kostenhöhe, welche Unternehmungen im internationalen Handel konkurrenzfähig bleiben.

 

Es ist auf diese Weise weltweit ein Wettkampf um niedrige Steuer- und Arbeitskosten entstanden und letztlich richten sich die Maßstäbe an dem Staat aus, der die geringsten Steuersätze erhebt. Man sprach in diesem Zusammenhang von einem „race to bottom“ (Hans Werner Sinn), wonach derjenige Staat die Höhe der Belastung bestimmt, der zu den niedrigsten Steuersätzen und Arbeitgeberbeiträgen bereit ist. Diese beiden Fragenkreise stehen auch im Mittelpunkt der Analyse dieses Kapitels.

 

Schließlich muss auch ein kritisches Wort zu der allgemein erhobenen Forderung gesagt werden, dass jede Reduzierung der Steuersätze gegenfinanziert werden müsse. Natürlich ist diese Forderung insoweit berechtigt, als eine Verringerung der Steuereinnahmen nicht dadurch ausgeglichen werden sollte und innerhalb der Europäischen Union auch nicht mehr kann, dass das Budgetdefizit langfristig erhöht wird.

 

Die Forderung einer Gegenfinanzierung wird jedoch fragwürdig, wenn berücksichtigt wird, dass eine Steuersenkung nicht mit einer Verringerung der Steuereinnahmen gleichgesetzt werden kann.

 

Gerade das Beispiel der Finanzpolitik Reagans in den USA hatte gezeigt, dass eine Verringerung der Steuersätze zu einer Ausweitung der Steuereinnahmen führen kann, dies ist immer in dem Ausmaße der Fall, in dem aufgrund der Verringerung der Steuersätze das wirtschaftliche Wachstum ansteigt und sich Steuerhinterziehung und Steuerumgehung nicht mehr in gleichem Maße wie bisher lohnen.

 

Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass das vergangene Tief der deutschen und europäischen Wirtschaft nicht nur einen konjunkturellen Abschwung im üblichen Sinne dargestellt hat, dass vielmehr strukturelle Gründe die augenblickliche wirtschaftliche Notlage begründen und dass ein lang anhaltender Aufschwung nur zu erwarten ist, wenn die Struktur unserer Volkswirtschaft verbessert wird. Eine strukturelle Verbesserung wird nur dann eintreten, wenn auf der einen Seite das Gewicht von staatlichen wie privaten Investitionen auf Kosten konsumtiver Verwendungen des Sozialproduktes erhöht wird und wenn auf der anderen Seite gleichzeitig die Anreize zu unproduktivem Verhalten, wie sie z. B. in der Sozialhilfe oder in den anderen Sozialsystemen zu finden sind, reduziert werden.

 

Es wäre somit überhaupt nichts gewonnen, wenn die Gegenfinanzierung in den Staatsbudgets so erfolgen würde, dass die partiellen Steuerausfälle dadurch kompensiert würden, dass an anderer Stelle Steuererhöhungen oder auch zwangsweise Erhöhungen in den Kosten der Privaten stattfinden oder aber, dass Investitionen – private oder staatliche – reduziert werden. Eine gesamtwirtschaftliche Gegenfinanzierung kann nur darin bestehen, dass konsumtive Ausgaben der öffentlichen Hand zugunsten investiver Ausgaben reduziert werden.

 

Ganz davon abgesehen muss man sich darüber klar werden, dass die Forderung nach einer Gegenfinanzierung stillschweigend voraussetzt, dass der Anteil der Kollektivgüter am Inlandsprodukt unverändert bleiben soll. Aber gerade diese Forderung wird von Anhängern einer Reduzierung der Steuerlast nicht akzeptiert. Die Forderung, die Steuerlast zu reduzieren, ergibt sich zumeist aus der Überzeugung, dass der Anteil der Kollektivgüter prinzipiell zu hoch ist. Die Forderung, die Steuersätze zu reduzieren ergibt sich zwangsweise aus der übergeordneten Forderung, den Anteil der Kollektivgüter selbst zu verringern. In diesem Falle bedarf es jedoch keiner Gegenfinanzierung, eine Gegenfinanzierung würde gerade das Ziel, den Anteil der Kollektivgüter zu reduzieren, vereiteln.

 

 

2. Der progressive Einkommensteuersatz

 

Beginnen wir zunächst mit der Problematik einer progressiven Besteuerung der Einkommen. Diese Art Besteuerung wurde erstmals in Deutschland im Jahre 1871 eingeführt. Wenn wir einmal von dem fiskalischen Standpunkt absehen, wonach sich der Staat dort die Einnahmen besorgen soll, wo am meisten zu holen ist – und dies ist nun einmal bei den Reichen eher der Fall als bei den ärmeren Bevölkerungsschichten – gab es vor allem zwei Argumente, welche für eine stärkere Besteuerung der Reichen sprachen.

 

Auf der einen Seite wurde vor allem von den Sozialisten vorgebracht, dass den Reicheren eine höhere Steuer abverlangt werden müsse, da diese auch wesentlich höhere Leistungen vom Staat erhalten würden. Wenn man einmal von den Ausgaben zur Landesverteidigung absieht, die natürlich irgendwie der gesamten Bevölkerung zugutekommen, beschränkte sich der Staat zu Beginn der Neuzeit vor allem auf den Schutz des Eigentums und dieser Schutz kam natürlicher Weise nur denjenigen zugute, welche auch über Vermögen verfügten. Die Masse der Bevölkerung, vor allem die Arbeitnehmer, verfügten damals über kein Vermögen, sie waren vermögenslos, also Proletarier und hatten deshalb auch nicht viel aufgrund der wirtschaftlichen Aktivität des Staates zu gewinnen.

 

Dieses Argument gilt natürlich für die heutige Zeit nicht mehr, da etwa fast 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes Ausgaben des Staates im weiteren Sinne des Wortes darstellen, wobei der größere Teil hiervon, nämlich 30% für soziale Zwecke ausgegeben wird, hierunter fallen vor allem die Ausgaben für die Sozialversicherung, für den Familienlastenausgleich, für Wohnungssubventionen, aber auch für die Sozialhilfe. Es sind heute nicht mehr vorwiegend die Reichen, welche von den Ausgaben des Staates profitieren, sondern gerade die Ärmeren. Auch verfügen immer mehr Arbeitnehmer über ein gewisses Vermögen, das es durch den Staat zu schützen gilt.

 

Auf der anderen Seite wurde in der Wissenschaft vor allem von den Vertretern der Wiener Schule Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine progressive Besteuerung vor allem deshalb für angebracht gehalten, da von allen Bürgern bei der Besteuerung ein gleichhohes Opfer abverlangt werden sollte und da die Belastung ein und desselben Geldbetrages den einzelnen Bürger umso weniger treffe, je reicher er sei.

 

Bereits Hermann Heinrich Gossen hatte in dem nach ihm benannten ersten Gossen’schen Gesetz die These aufgestellt, dass der Nutzenzuwachs (der sogenannte Grenznutzen) der zuletzt konsumierten Gütereinheit mit wachsender Konsummenge zurückgehe. Für einen Verdurstenden bringt das erste Glas Wasser eine Lebensrettung, hat also einen unendlich hohen Nutzen, die Nutzensteigerung fällt jedoch mit jedem weiteren Glas Wasser immer mehr ab, bis dann schließlich beim 4., 5. oder 6. Glas Wasser eine vollkommene Sättigung eintritt und der Versuch, weiteres Wasser zu trinken, sogar Ekel (Missnutzen) hervorruft.

 

Dieses Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen der Konsumgüter wurde dann sehr bald auch auf das gesamte Einkommen übertragen, in dem Sinne, dass bei einem geringen Einkommen jeder Einkommenszuwachs zunächst einen hohen Nutzenzuwachs verursache, dass aber mit wachsendem Einkommen jede neu hinzugefügte Einkommenseinheit zwar immer noch eine Nutzensteigerung verursache, dass aber der Nutzenzuwachs mit jeder zusätzlichen Einkommenseinheit zurückgehe. Man sprach hier vom Gesetz des abnehmenden Grenznutzens der Einkommen.

 

Wenn aber der durch Erhebung einer Einkommensteuer hervorgerufene Nutzenentgang beim Reicheren wesentlich geringer ist als beim Ärmeren, kann die Forderung, jeder solle mit seiner Steuerabgabe ein gleichhohes Opfer bringen, nur dann realisiert werden, wenn die in Geldeinheiten berechnete Steuersumme mit dem Einkommen ansteigt. Gibt ein Reicher 100 € im Jahr als Steuer hin, so spürt er diese Last überhaupt nicht mehr, während die gleiche Steuersumme einem Armen einen spürbar hohen Nutzenverlust hervorruft. Hieraus ergibt sich unmittelbar die Forderung nach einer Progression der Steuer.

 

Nun war die Forderung nach einer progressiven Einkommensbesteuerung und die theoretischen Überlegungen der Opfertheorie keinesfalls unbestritten. Es wurde wiederholt bezweifelt, ob das erste Gossen‘sche Gesetz, welches ja – wie bereits erwähnt – zunächst nur für den Konsum einzelner Güter formuliert wurde, auch tatsächlich auch auf das gesamte Einkommen angewandt werden kann. Im Rahmen der neueren Haushaltstheorie (der Theorie vom Verhalten der Konsumenten) wurde oftmals unterstellt, dass der Nutzen der letzten Einkommenseinheit bei wachsendem Einkommen konstant bleibe. Man wählte hierbei eine Analogie zur Unternehmungstheorie.

 

Bekanntlich entspricht dem ersten Gossen’schen Gesetz in der Ertragstheorie (Unternehmungstheorie) das bereits von David Ricardo formulierte Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag eines Produktionsfaktors. Dieses Gesetz besagt, dass bei wachsendem Einsatz eines einzelnen Produktionsfaktors der Ertrag zwar ansteigt, aber – zumindest ab einer bestimmten Produktionsmenge an – der Ertragszuwachs (der sogenannte Grenzertrag eines Produktionsfaktors) zurückgeht.

 

Erklärt wird diese Gesetzmäßigkeit damit, dass es immer Engpassfaktoren gibt, welche verhindern, dass die Ertragszuwächse bei Vermehrung eines Faktors konstant bleiben. Dieses Gesetz ist in Wirklichkeit also nur ein Gesetz vom partiellen Grenzertrag eines Produktionsfaktors bei Konstanz aller übrigen Faktoren. Folgerichtig schließt man in der Unternehmungstheorie auch, dass bei gleichmäßiger Ausweitung aller Produktionsfaktoren (einschließlich der Unternehmerleistung) der Grenzertrag konstant bleibt. Verdoppelt man z. B. alle Produktionsfaktoren um den gleichen Prozentsatz, so werden immer gleichhohe Grenzerträge erzielt. Man spricht hierbei von der Annahme eines konstanten Grenzniveauproduktes.

 

In Analogie hierzu werden diese Gesetzmäßigkeiten bisweilen auch auf die Haushaltstheorie übertragen, den beiden Ertragsgesetzen (partieller Grenzertrag und Niveaugrenzertrag) entsprechen dann auch die beiden Grenznutzengesetze der Haushalte (Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen beim Mehrkonsum eines einzelnen Konsumgutes und Gesetz vom konstant bleibendem Grenznutzen des Gesamteinkommens eines Haushaltes (Gesetz vom konstanten Grenzniveauprodukt).

 

Unabhängig hiervon wird in der modernen paretianischen Wohlfahrtstheorie überhaupt bezweifelt, dass es möglich sei, die Nutzenzuwächse und damit auch die Nutzenentgänge bei einer Besteuerung der Einkommen interpersonell miteinander zu vergleichen. Vilfredo Pareto hatte bekanntlich die These vertreten, dass Nutzeneinheiten weder kardinal gemessen noch interpersonell miteinander verglichen werden können. Es gäbe keine Möglichkeit, anzugeben, um wie viel konkret der Nutzen einer Person ansteigt, wenn sein Einkommen um eine Einheit vergrößert wird. Wird z. B. das Einkommen eines Haushaltes um 10% erhöht, so kann der einzelne Haushalt zwar angeben, ob sein Gesamtnutzen dadurch angestiegen ist, er besitzt jedoch keine Möglichkeit zu bestimmen, um wie viel Prozent hierdurch sein Gesamtnutzen gestiegen ist. (Man spricht hier von der mangelnden Kardinalität des Nutzens. Nach Pareto gibt es nur einen ordinalen Nutzenmaßstab). Ordinalität der Nutzeneinheit bedeutet, dass der Einzelne nur angeben kann, ob bei einer Veränderung der Einkommenshöhe sein Gesamtnutzen konstant geblieben sei oder ob dieser sich vermehrt oder vermindert habe.

 

Gleichzeitig wird von Pareto bestritten, dass es einen exakten wissenschaftlichen Maßstab dafür gebe, um die Nutzenzuwächse zweier oder mehrerer Personen miteinander zu vergleichen, welche diese bei Zunahme ihres Einkommens erfahren. (= These von der Unmöglichkeit, Nutzen interpersonell zu vergleichen). Gilt diese Aussage, so ist es natürlich auch unmöglich anzugeben, ob und wie viel Nutzenminderungen einzelne Personen bei Einführung oder Erhöhung einer Einkommensteuer erhalten. Die Aussage, der Grenznutzen eines Reichen sei wesentlich geringer als der Grenznutzen eines Armen, könne also wissenschaftlich weder bestätigt, aber – so möchte ich hinzufügen – natürlich auch nicht widerlegt werden.

 

Gerade am zweiten Teil dieser Feststellung (diese Aussage kann nur nicht mit wissenschaftlich exakten Mitteln widerlegt werden) liegt es dann auch, dass einige führende Wohlfahrtstheoretiker auch nach Pareto an der Aussage festhielten, dass man die Nutzenzuwächse interpersonell miteinander vergleichen könne.

 

Fragt man nach der Meinung der Bevölkerung, so ist wohl eine breite Mehrheit der festen Überzeugung, dass das Ziel der Steuergerechtigkeit nur verwirklicht werden kann, wenn die Reichen stärker zur Kasse gebeten werden als die ärmeren Bevölkerungskreise. Aus der Aussage, dass es mit wissenschaftlichen Mitteln nicht möglich ist, eindeutig die Nutzenveränderungen verschiedener Individuen mit einander zu vergleichen, folgt keineswegs der Schluss, dass der Nutzenverlust, den die Zahlung einer bestimmten Steuersumme vom Milliardär verursacht, tatsächlich nicht kleiner ist als der Verlust eines Bürgers, der nur über ein geringes Einkommen verfügt.

 

Man kann durchaus davon überzeugt sein, dass die gleiche Steuersumme beim Reichen tatsächlich einen wesentlich geringeren Nutzenverlust hervorruft als beim Armen, auch dann, wenn diese Überzeugung nicht mit exakten wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden kann. Die Feststellung, dass eine bestimmte Aussage nicht bewiesen werden kann, gestattet nämlich keineswegs den Schluss, dass diese Aussage deshalb eindeutig falsch ist, sie ist nicht beweisbar, aber nicht unbedingt falsch, wir wissen es einfach nicht. Wir wollen uns deshalb hier diesen Standpunkt der Opfertheorie zu eigen machen und also davon ausgehen, dass bei der Besteuerung ein gleiches Opfer für alle Bürger nur erreicht werden kann, wenn der Steuersatz mit dem Einkommen ansteigt.

 

 

3. nominelle versus reale Bezugsgröße

 

Nun haben wir uns allerdings auch zu fragen, auf welche Bezugsgröße denn sinnvoller Weise der steigende Steuersatz bezogen werden soll. De facto sieht das in Deutschland, aber wohl auch in den meisten Industrienationen geltende Steuersystem vor, dass der zu erhebende Steuersatz mit dem nominellen Einkommen jedes Einzelnen ansteigt. Von einer echten Reform des Steuersystems könnte man in diesem Zusammenhang aber nur dann sprechen, wenn man die Steuerbelastung nicht von der nominellen, sondern von der realen Einkommenshöhe abhängig machen würde.

 

Der Sinn der Steuerprogression besteht nämlich einmal darin, dass der einzelne Bürger dann, wenn er eine reale Einkommenssteigerung erfährt, auch einen höheren Prozentsatz seines Einkommens an Einkommensteuer abführen sollte, zum andern darin, dass die Reichen einen höheren Steuerprozentsatz entrichten sollten als die weniger Reichen.

 

Beide Zielsetzungen könnten nun durch eine Reform des Steuersystems ohne weiteres realisiert werden, die erstgenannte Zielvorstellung dadurch, dass man den Steuersatz von der Höhe des Realeinkommens abhängig sein lässt, die zweitgenannte Zielvorstellung dadurch, dass man die Steuerhöhe davon abhängig macht, an welcher Einkommensposition der einzelne innerhalb der gesamten Bevölkerung steht. Der individuelle Steuersatz würde sich hier auf das Verhältnis des individuellen Einkommens zum durchschnittlichen Einkommen der gesamten Bevölkerung beziehen.

 

Im ersten Falle (Abhängigkeit des Steuersatzes vom individuellen Realeinkommen) würde verhindert, dass eine bloße Inflation ohne reales Einkommenswachstum zu einer Steigerung in der durchschnittlichen Steuerbelastung führen würde. Heutzutage steigt hingegen der Steuersatz auch dann an, wenn die Realeinkommen der Bevölkerung gar nicht zunehmen und zwar einfach deshalb, weil bei steigenden Preisen und Nominaleinkommen jeder einzelne automatisch in eine höhere Besteuerungsstufe aufrückt. Dass heutzutage die durchschnittliche Steuerbelastung allein wegen allgemeiner Preissteigerungen auch realiter ansteigt, ist vor allem deshalb bedenklich, weil der Staat über die Defizite in den öffentlichen Haushalten zu den wichtigsten Institutionen zählt, die für eine Inflation verantwortlich sind.

 

Der Staat hat also sogar ein Interesse daran, an diesem Prinzip der nominellen Bezugsgröße festzuhalten. Da davon ausgegangen werden muss, dass fast jedes Jahr das allgemeine Preisniveau ansteigt, erhält der Staat Jahr für Jahr automatisch höhere Steuereinnahmen, ohne dass er hierfür von der Bevölkerung bei den Wahlen für diesen gestiegenen Anteil des Staates am Inlandsprodukt ein Plazet erhält.

 

Nun wird bisweilen gegen diese Argumentation eingewandt, dass der Anteil des Staates langfristig trotzdem nicht entscheidend gestiegen sei. So fiel die gesamte Abgabenbelastung von 39,5% im Jahre 1980 wiederum auf 37,1% im Jahre 1990 oder – um ein zweites Beispiel zu bringen – von 41% im Jahre 2000 auf 38,1% im Jahre 2004. Auf sehr lange Sicht bliebe die gesamte Abgabenbelastung in etwa konstant, so betrug die Abgabenbelastung im Jahre 1980 39,5% und im Jahre 2012 39,3%.

 

Der Grund für diese Entwicklung liegt jedoch darin, dass die regierenden Politiker sich immer wieder kurz vor Wahlen veranlasst sahen, die Steuersätze zu reduzieren um durch diese Steuergeschenke die Wähler an sich zu binden. Eine solche Vorgehensweise ist jedoch bedenklich. An und für sich stehen ja diese Steuerentlastungen der Bevölkerung ohnehin zu, da vom Sinn einer progressiven Besteuerung aus der individuelle Steuersatz nur in dem Maße ansteigen sollte, in dem auch das reale Einkommen zunimmt.

 

Es gibt also keine Rechtfertigung dafür, dass die wegen der anhaltenden Steigerung des Preisniveaus bei gleichbleibendem Steuertarif angestiegenen Steuermehreinnahmen in Form eines besonderen Wahlgeschenkes den Wählern in Aussicht gestellt werden. Die Bevölkerung hat einen Anspruch auf die Reduzierung der Steuersätze, da diese nur wegen der anhaltenden Inflation angestiegen sind. Eigentlich wären die Politiker verpflichtet gewesen, nicht nur für die Zukunft die Steuersätze an die Inflationsrate anzupassen, sondern die in der Vergangenheit zu viel erhobenen Steuereinnahmen rückwirkend zu erstatten.

 

Im zweiten Falle (Abhängigkeit des individuellen Steuersatzes von der Position des einzelnen innerhalb der Einkommenshierarchie) würde darüber hinaus die durchschnittliche Steuerbelastung auch bei einem realen Einkommenswachstum nicht automatisch ansteigen, sofern das durchschnittliche Einkommen der gesamten Bevölkerung in gleichem Maße angestiegen wäre. Nur in dem Maße, in dem der einzelne Steuerzahler eine höhere Einkommenssteigerung als der Durchschnitt der Bevölkerung erzielt, müsste in diesem Falle der einzelne Steuerzahler auch einen höheren Steuersatz entrichten.

 

Es gibt aber keinen Grund dafür, dass in jedem Falle, in dem die Bevölkerung insgesamt reicher geworden ist, damit auch automatisch der Anteil des Staates am Inlandsprodukt ansteigen sollte. Man könnte sehr wohl auch von der Vorstellung ausgehen, dass sich ein reales Wachstum grundsätzlich in einem überproportionalen Zuwachs der Individualgüter niederschlagen sollte, da nach den Prinzipien einer Marktwirtschaft das einzelne Individuum selbst darüber entscheiden sollte, wie er sein Einkommen verwendet, welcher Anteil des Bruttoeinkommens also für Individualgüter und welcher andere Teil für Kollektivgüter eingesetzt werden sollte.

 

Die Vorstellung, dass die Kollektivgüter in einem reinen Komplementaritätsverhältnis zu den Individualgüter stehen und dass deshalb bei einer Zunahme des Individualgüterkonsums auch das Angebot an Kollektivgüter in gleichem Maße oder sogar noch stärker steigen sollte, stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein. De facto besteht auch zwischen Individual- und Kollektivgüter ein gewisses Substitutionsverhältnis, sodass bei einem Rückgang des Angebotes von Kollektivgüter das Nutzenniveau dadurch erhalten bleiben kann, dass man vermehrt Individualgüter konsumiert.

 

Wenn die Politiker der Meinung wären, dass aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums der Anteil der öffentlichen Hand steigen sollte, so müssten sie eigentlich hierfür (das heißt für die Erhöhung der Steuersätze) zuvor das Plazet der Wähler einholen, da es stets das Recht der Bevölkerung ist, selbst – das heißt unabhängig von der Höhe des realen Gesamteinkommens  – zu bestimmen, wann eine Erhöhung des Kollektivgüteranteils am Inlandsprodukt erwünscht ist und wann nicht.

 

 

Fortsetzung folgt!