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Analyse des bestehenden Steuersystems

 

 

 

Gliederung:

 

1. Ziele und Mittel

2. Verbrauchs- und Umsatzsteuern

3. Einkommenssteuer

4. Vermögens- und Erbschaftssteuer

5. Kraftfahrzeug- und Mineralsteuer

6. Sozialabgaben

7. Gewinnsteuern

8. Zölle und Subventionen

                9. sonstige Steuern (Grund-, Gewerbe-, Energiesteuern)

 

 

20.01.2015

Kapitel 6: Sozialabgaben Teil I

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung

2. Zum Begriff: ‚soziales Risiko’

3. Schutz gegenüber Risiken u. Absicherung gegenüber materielle Risikofolgen

4. Einkommensersatzfunktion versus Ausgabenausgleichsfunktion

5. Allokation versus Distribution

6. Individuelle versus kollektive Vorsorge

7. Versorgung versus Versicherung

8. Das Problem der Dynamisierung

 

 

 

1. Einführung

 

Wir wollen uns im folgenden Kapitel mit den Sozialabgaben näher befassen. Streng genommen spricht man hier im Allgemeinen nicht von Steuern im üblichen Sinne des Wortes, sondern von Beiträgen zu den Einrichtungen der Sozialen Sicherheit. Der Grund liegt darin, dass Steuern in aller Regel nicht als Gegenleistung für ganz bestimmte Leistungen des Staates angesehen werden, dass Steuern vielmehr als einseitige Zahlungen der Bürger an den Staat aufgefasst werden, denen keine konkrete Gegenleistung des Staates entspricht.

 

Für Steuern gilt nämlich in aller Regel das Nonaffektationsprinzip, wonach die Steuereinnahmen nicht von vornherein für ganz bestimmte Zwecke reserviert sein sollten. Ganz gleichgültig nämlich, an welche Verwendungszwecke bei der Erhebung einer Steuer gedacht wurde, es muss stets damit gerechnet werden, dass sich in der Zwischenzeit die wirtschaftlichen Daten verändert haben und dass aufgrund dieser Änderungen andere Verwendungsarten dieser Steuereinnahmen eine höhere Wohlfahrt versprechen. Es müsse aber sichergestellt werden, dass die Steuereinnahmen jeweils denjenigen Verwendungen zugeführt werden, welche im Zeitpunkt der Verausgabung der Steuern der Volksgemeinschaft den größtmöglichen Nutzen versprechen.

 

Wir hatten allerdings bereits an anderer Stelle gesehen, dass es unter besonderen Bedingungen auch Zwecksteuern gibt, die von vornherein entgegen dem Nonaffektationsprinzip für einen ganz bestimmten Zweck erhoben und auch dieser angestrebten Verwendung zugeführt werden. Wenn man will kann man deshalb die Beiträge zur Sozialen Sicherheit auch als eine Art Zwecksteuer ansehen. Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang nochmals daran zu erinnern, dass Knut Wicksell – einer der maßgebenden Vertreter der neoklassischen Finanztheorie – die Steuersätze ganz allgemein als Preis für das Zurverfügungstellen der Kollektivgüter angesehen hat. In diesem Sinne sind die Sozialabgaben der Preis dafür, dass im Rahmen der Einrichtungen der sozialen Sicherung den Versicherungsnehmern Schutz bei Eintreten der sogenannten sozialen Risiken gewährt wird.

 

 

2. Zum Begriff: ‚soziales Risiko’

 

Zu den sozialen Risikotatbeständen zählen im allgemeinen Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Alter und Frühinvalidität, Unfälle am Arbeitsplatz und schließlich Arbeitslosigkeit. Bisweilen werden jedoch auch die Probleme des Familienlastenausgleichs und vor allem die Einrichtungen der Sozialhilfe unter den Begriff der sozialen Sicherheit subsumiert.

 

Es gibt zahlreiche Risiken im Leben, nicht alle – auch nicht alle schwerwiegenden Risiken – werden üblicherweise den sozialen Risiken zugerechnet. Was verbindet nun alle diese Risikotatbestände, was haben diese Risiken also gemeinsam? Als erstes könnte man darauf hinweisen, dass jedes dieser Risiken die wirtschaftliche Existenz der hiervon Betroffenen bedrohen kann. Eine Krankheit kann zumindest vorübergehend zu Erwerbslosigkeit führen, aufgrund eines Unfalls kann die Erwerbsfähigkeit teilweise oder ganz verloren gehen, von einem bestimmten Alter an kann ein Arbeitnehmer keiner geregelten Erwerbstätigkeit mehr nachgehen, vor allem ein arbeitsloser Arbeitnehmer verliert mit seinem Arbeitsplatz in der Regel auch fast seine gesamten Erwerbseinkünfte, da die Masse der Arbeitnehmer auch heute noch – wenn überhaupt – über nicht soviel sonstige Erwerbsquellen verfügt, dass ein Arbeitsloser sein Leben mit diesen sonstigen Erwerbsquellen fristen kann.

 

Obwohl also alle sogenannten sozialen Risikotatbestände die wirtschaftliche Existenz der hiervon Betroffenen gefährden können, ist eine Begriffsbestimmung, welche allein auf den Tatbestand einer existenziellen Bedrohung abhebt, unbefriedigend.

 

Erstens ist es zwar richtig, dass jedes der aufgezählten sozialen Risiken die wirtschaftliche Existenz bedrohen kann, diese wirtschaftliche Existenzbedrohung tritt jedoch nicht immer auf, wenn ein Individuum von diesen Risiken betroffen wird. Viele Krankheiten haben keinen Verlust der Erwerbsfähigkeit zur Folge, wer z. B. zuckerkrank ist, kann in der Regel seiner normalen Arbeit nachgehen.

 

Auch nicht jeder Unfall führt automatisch dazu, dass ein Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz aufgeben muss; es gibt sogar schwerwiegende Unfälle mit erheblichen Behinderungen wie z. B. Verlust eines Beines, welche zumindest bei einer großen Zahl von Beschäftigungen eine regelmäßige Arbeit möglich machen. Ein Großteil der Rentner könnte immer noch – allein von ihrem Gesundheitszustand her betrachtet – erwerbstätig bleiben, er wurde Rentner, nicht deshalb, weil er unfähig geworden ist, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, sondern allein deshalb, weil ein Arbeitnehmer nach Erreichen eines bestimmten Alters, mehr oder weniger automatisch aus dem Erwerbsleben ausscheidet.

 

Selbst ein Arbeitnehmer, der arbeitslos geworden ist, könnte z. B. deshalb, weil er über ein größeres Vermögen verfügt, die Zeit der Arbeitslosigkeit überbrücken, ohne dass seine wirtschaftliche Existenz ernsthaft bedroht ist. Halten wir also fest: Die sogenannten sozialen Risiken können zwar in Extremsituationen die wirtschaftliche Existenz gefährden, sie müssen es aber nicht. Hier entsteht bereits die Frage, warum wir alle die aufgezählten Risikotatbestände als ‚sozial‘ einstufen und warum wir nicht nur dann von einem sozialen Risiko sprechen, wenn die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen gefährdet erscheint.

 

Man könnte ja z. B. festlegen, dass ein Arbeitnehmer im Rahmen einer gesetzlichen Krankenversicherung erst dann einen Versicherungsschutz erhält, wenn die Krankheit längere Zeit andauert und so ernst ist, dass der hiervon Betroffene während dieser Zeit keiner geregelten Erwerbstätigkeit nachgegangen kann oder man könnte auch erst dann von einem sozialen Risiko sprechen, wenn die krankheitsbedingten Mehrausgaben eine bestimmte Höhe überschreiten.

 

Zweitens gibt es weitere Risikotatbestände, die im Allgemeinen nicht zu den sozialen Risiken gezählt werden, die aber eindeutig die wirtschaftliche Existenz der hiervon Betroffenen ruinieren können. So besteht das unternehmerische Risiko eines selbstständigen Unternehmers immer darin, dass er eines Tages zahlungsunfähig werden kann und Konkurs anmelden muss und somit unter Umständen seines gesamten Vermögens verlustig geht. Im Gegensatz zu Selbstständigen können Unternehmer, welche einer Kapitalgesellschaft vorstehen und auch Kapitalgeber, welche ihr Vermögen in Wertpapieren einer Unternehmung angelegt haben, ihr unternehmerisches Risiko begrenzen und können also dafür Sorge tragen, dass auch bei Konkurs der jeweiligen Unternehmung noch soviel Vermögen übrig bleibt, dass die wirtschaftliche Existenz nicht gefährdet ist.

 

Selbstständige haften hingegen mit ihrem gesamten Vermögen; und auch dann, wenn nicht ihr gesamtes Konsumvermögen gepfändet werden kann, verlieren Selbstständige mit dem Konkurs ihrer eigenen Unternehmung oftmals jegliche Erwerbsfähigkeit, da der Konkurs unter Umständen gerade deshalb eingetreten ist, weil die von dieser Firma angebotenen Güter nicht mehr nachgefragt werden  oder auch aus anderen Gründen gar nicht mehr abgesetzt werden können und deshalb die hiervon betroffenen Unternehmer sowohl ihr Sachkapital als auch ihre produktiven Fähigkeiten zusammen mit der eigenen bisherigen Unternehmung verlieren.

 

Das allgemeine Unternehmerrisiko ist nicht das einzige Risiko, welches die wirtschaftliche Existenz eines Individuums ernsthaft gefährden kann und trotzdem im Allgemeinen nicht den sozialen Risikotatbeständen zugerechnet wird. Nehmen wir als zweites Beispiel die Haftpflichtversicherung. Ein normaler Bürger kann durch einen Autounfall so große Schäden bei den in den Unfall verwickelten Personen verursachen, dass gerichtlich einklagbare Forderungen in einem Ausmaß auf ihn zukommen können, die ihn wirtschaftlich ruinieren würden, müsste er für diese Schäden mit seinem Vermögen bezahlen. Aus diesem Grunde muss bekanntlich jeder Halter eines Kraftfahrzeuges eine Haftpflichtversicherung abschließen. Obwohl diese Risiken also die wirtschaftliche Existenz gefährden können, werden sie trotzdem nicht – zumindest nicht nach allgemeinem Verständnis – dem Bereich der sozialen Risiken zugerechnet.

 

Drittens schließlich werden oftmals die Einrichtungen der sozialen Sicherung auf unselbstständige Erwerbspersonen beschränkt, nur ein Arbeitnehmer genießt oftmals den Schutz dieser sozialen Einrichtungen, während Selbstständige darauf verwiesen werden, dass sie selbst dafür verantwortlich sind, innerhalb der privaten Versicherungen für einen ausreichenden Schutz bei Krankheit, Unfällen und im Alter zu sorgen.

 

Historisch betrachtet war es die verheerende Armut der Arbeiter zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, welche die sogenannte soziale Frage ausgelöst hat und die politisch dazu geführt hat, dass – in Deutschland im Rahmen der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung – zunächst nur für Industriearbeiter im engeren Sinne vom Staat politische Einrichtungen geschaffen wurden, welche dieser Arbeitnehmergruppe einen Minimalschutz bei Krankheit, Unfällen und im Alter gewähren sollten. Diese materielle Not war zunächst nur für die Industriearbeiter festgestellt worden, die soziale Frage bezog sich somit zunächst nur auf die Industriearbeiter und infolgedessen hatte man lange Zeit auch nur bei den Industriearbeitern von der Notwendigkeit gesprochen, Einrichtungen zum Schutz gegenüber diesen Risiken zu schaffen, die in diesen Einrichtungen berücksichtigten Risikotatbestände wurden so zu ‚sozialen Risiken‘.

 

Es liegt deshalb nahe, den Begriff eines ‚sozialen‘ Risikos auch auf die Fälle und Einrichtungen zu beschränken, welche zur Lösung der sozialen Frage eigens geschaffen wurden. Entsprechend dieser Begriffsbestimmung würden dann auch nur die Sozialversicherungen und Versorgungseinrichtungen, nicht aber die Privatversicherungen dem Bereich der sozialen Sicherheit zugerechnet werden.

 

Danach liegt also ein soziales Risiko nur dann vor, wenn einerseits äußerstenfalls die wirtschaftliche Existenz bedroht sein kann und wenn es andererseits um die wirtschaftliche Existenz von Arbeitern im engeren Sinne geht. Man geht davon aus, dass die sonstigen Erwerbspersonen, vor allem die Selbstständigen im allgemeinen über so viel Vermögen und über ein so hohes Einkommen verfügen, dass sie selbst in der Lage sind, sich erfolgreich gegen die Wechselfälle des Lebens, also vor allem gegen Krankheit, Unfälle und gegen Erwerbslosigkeit im Alter zu versichern.

 

Aber auch diese Begriffsbestimmung stößt auf Schwierigkeiten. Historisch gesehen lässt sich nämlich feststellen, dass die Einrichtungen der sozialen Sicherheit, welche zu Beginn der Industrialisierung in der Tat auf die Industriearbeiter beschränkt waren, mit der Zeit auf immer weitere Personengruppen ausgedehnt wurden. Es wurden zunächst die Angestellten in die Einrichtungen der sozialen Sicherheit einbezogen, später wurde der Versicherungsschutz auch auf Handwerker, auf Ärzte, Rechtsanwälte und Studenten sowie auf Landarbeiter ausgeweitet, sodass heutzutage nahezu alle Berufsgruppen und damit mehr als 90% der Bevölkerung innerhalb öffentlicher Sicherungseinrichtungen einen Schutz gegenüber diesen Risiken erhalten. Die einzelnen Angehörigen dieser Berufsgruppen sind in diesem Falle automatisch Mitglieder dieser öffentlichen Einrichtungen, sodass es auch keinen Grund gibt, hier nicht ebenfalls von ‚sozialen’ Risiken zu sprechen.

 

Natürlich gibt es immer noch einige Selbstständigengruppen, mittelständische Unternehmer sowie Vorstandsmitglieder großer Unternehmungen etwa, welche nicht unter diesen sozialen Schutz fallen. Aber auch hier gibt es Vorstellungen, restlos alle Individuen bis zum Millionär einer Volkswirtschaft in den Versorgungsschutz einzubeziehen, alle Individuen gehören dann einfach in ihrer Eigenschaft als Bürger einer Sicherungsgemeinschaft automatisch an.

 

Diese Vorstellungen werden zumeist damit gerechtfertigt, dass alle Bürger, vor allem aber auch gerade die Reichen zur Finanzierung dieser Systeme beitragen sollten, dass aber in diesem Falle auch den Reichen das Recht eingeräumt werden müsse, gegebenenfalls, gegen diese Risiken geschützt zu werden. Auch bestehe ja durchaus die Gefahr, dass auch ein Superreicher aufgrund der Wechselfälle des Lebens sein gesamtes Vermögen verliert und gerade deshalb einen Anspruch auf einen existenziellen materiellen Schutz haben sollte. In diesem Falle gibt es natürlich nur noch öffentliche Sicherungseinrichtungen; da in diesem Falle alle Bürger durch diese öffentlichen Einrichtungen geschützt werden würden, fragen sie auch vermutlich keine zusätzlichen Leistungen von privaten Versicherungen nach, diese privaten Einrichtungen werden sich dann auch mangels ausreichender Nachfrage unter Umständen nicht mehr halten können.

 

Gegner dieser Vorstellungen wenden ein, dass es einer enormen Vergeudung materieller Mittel gleichkomme, wenn man den Superreichen auch noch Zuwendungen aus diesen Einrichtungen der sozialen Sicherheit zukommen lasse. Die Superreichen hätten diese Zuwendungen nicht notwendig, deshalb sollte man diese Zuwendungen auch auf die Bedürftigen beschränken.

 

Es ist uns also bisher nicht richtig gelungen, aufzuzeigen, worin sich denn soziale Risiken von anderen Risikotatbeständen unterscheiden. Man könnte sich deshalb darauf beschränken, den sozialen Charakter eines Risikos allein durch eine vollständige Aufzählung der Fälle zu bestimmen, die kraft Gesetzes den Einrichtungen der Sozialen Sicherheit zugerechnet werden. Es gibt auch andere Beispiele von Definitionen, bei denen der Begriff bestimmt wird, dass alle Objekte, die unter diesen Begriff fallen, eigens aufgezählt werden und bei denen auch nicht exakt angegeben werden kann, durch welches gemeinsame Merkmal sich diese Objekte von anderen unterscheiden. Der Begriff ‚Skandinavien’ zählt z. B. zu dieser Art Definition, man kann nicht angeben, warum z. B. Finnland, aber nicht auch Lettland zu dieser Ländergruppe zählt. Trotzdem ist eindeutig bestimmt, welche Landflächen zu dem Oberbegriff Skandinavien gehören und insofern ist der Begriff ‚Skandinavien‘ eindeutig.

 

Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit, festzulegen, welche Risikotatbestände unter den Begriff ‚soziales Risiko’ subsumiert werden sollen. Zweckmäßiger Weise fasst man alle Objekte unter einen Oberbegriff, die gleichen oder ähnlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die also gleichen Zielen dienen und sich auch in der Mittelwahl gleichen. In diesem Sinne lassen sich alle Einrichtungen zusammenfassen, welche einerseits einen materiellen Schutz gegenüber Risiken anstreben, andererseits diesen Schutz dadurch erreichen, dass ganz bestimmte, noch näher zu bestimmende Methoden Anwendung finden.

 

Zu diesen gemeinsamen Methoden zählt z. B. der Umstand, dass der Preis für die Leistung unabhängig davon gezahlt wird, wann und in welchem Umfang die Gegenleistung der Sicherungseinrichtung anfällt. Diese Eigenart gilt sowohl für öffentliche Versorgungseinrichtungen wie für private Versicherungen; und gerade wegen dieser gemeinsamen Problemlage ist es zweckmäßig, auch beide Einrichtungen gemeinsam zu behandeln.

 

Allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, ob nicht andere Risiken, z. B. diejenigen, welche im Rahmen von Haftpflichtversicherungen übernommen werden, eigentlich nicht auch zweckmäßigerweise den sozialen Risiken zugerechnet werden sollten.

 

Wie bereits angedeutet, werden bisweilen auch die Einrichtungen des Familienlastenausgleichs zu den Institutionen der sozialen Sicherheit hinzugerechnet. Manchen Betrachtern mag diese Hinzurechnung als völlig unberechtigt erscheinen, handelt es sich doch bei der Geburt und der Familiengründung um ganz andere Tatbestände, wenn man will sogar um das Gegenteil der sonstigen Risikotatbestände.

 

Die Geburt und die Familiengründung werden trotz der damit verbundenen Wehen und Beeinträchtigungen im allgemeinen als ein erfreuliches Ereignis angesehen, das man bewusst anstrebt und auf das man sich freut, während Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit als in hohem Maße unerwünscht zu gelten haben. Auch tragen die zukünftigen Eltern durch aktives Handeln selbst dazu bei, dass Kinder geboren werden, während im normalen Fall der einzelne eher alles tut, um nicht von den sozialen Risiken der Krankheit, des Unfalls oder der Arbeitslosigkeit befallen zu werden.

 

Gewisse sekundäre Unsicherheiten sind allerdings mit der Geburt und Familienplanung verbunden. So können bei der Geburt Komplikationen entstehen, es kann zu Fehlgeburten kommen, die neu Geborenen können Missbildungen aufweisen. Weiterhin muss bisweilen damit gerechnet werden, dass entweder der Mann erbbedingt oder aufgrund Folgeerscheinungen früherer Krankheiten nicht zeugungsfähig ist oder dass die Frau aus gleichen Gründen nicht gebärfähig ist. Auch führt nicht jeder Beischlaf zur Geburt, auf der anderen Seite kann eine Frau trotz Verhütung unter Umständen schwanger werden.

 

Mit dem Krankheitsrisiko gemeinsam ist weiterhin der Umstand, dass vor und bei Geburten auf dem Wege von Geburtshilfen Ärzte, Hebammen oder Krankenhauspersonal in Anspruch genommen werden. Auch dann, wenn Komplikationen entstehen oder wenn bereits vor der Geburt geklärt werden soll, welches Geschlecht das zu gebärende Kind aufweist oder schließlich, ob mit erbbedingten Missbildungen zu rechnen ist, müssen Ärzte hinzugezogen werden.

 

Der eigentliche Grund, weshalb einige den Familienlastenausgleich den Einrichtungen der sozialen Sicherheit zurechnen, liegt jedoch darin, dass eindeutige Parallelen zum Altersrisiko bestehen. Der einzelne Mensch ist erst ab einem bestimmten Alter erwerbsfähig und die Erwerbstätigkeit endet beim normalen Lebensverlauf lang vor dem Tod des Einzelnen. Für die Zeiten der Erwerbslosigkeit müssen also reguläre Einkommensquellen geschaffen werden. Dies gilt gleichermaßen für die Zeit nach dem Austritt aus dem Erwerbsleben wie für die Zeit vor Eintritt ins Berufsleben. In dieser Hinsicht ist ein Familienlastenausgleich einfach das Gegenstück zur Altersversorgung und es liegt nahe, beide Einrichtungen wegen ähnlicher Problematik (vor allem wegen der Einkommensersatzfunktion beider Institutionen) gemeinsam zu behandeln.

 

Wenn man will, kann man diese Parallelen noch weiterziehen. So fallen bei Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit zusätzliche Leistungen zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit an (Krankheitskosten, Rehabilitation und Umschulung), welche im Rahmen der sonstigen Einrichtungen als Ausgabenausgleichsfunktion bezeichnet werden. Auch während der Kindheit entstehen im Zusammenhang der Erziehung und Ausbildung zusätzliche Kosten, welche in ähnlicher Weise von einer Institution des Familienlastenausgleichs zu übernehmen sind oder zumindest übernommen werden könnten. Allerdings brachten es die Veränderungen im technischen Fortschritt mit sich, dass die Ausbildungsphase keinesfalls mit dem Eintritt ins Berufsleben endet. Der technische Fortschritt ist so rasant, dass fast jeder Arbeitnehmer während seines Berufslebens einer Weiterbildung bedarf, da das auf der Schule gelernte Wissen in der Zwischenzeit veraltet ist. Also werden diese zusätzlichen Bildungsleistungen auch nicht ausschließlich im Zusammenhang mit dem Familienlastenausgleich erbracht werden können.

 

Vordergründig wird sowohl bei der Altersvorsorge wie auch beim Familienlastenausgleich das Ziel verfolgt, eine Teilgruppe der Bevölkerung zu Lasten einer anderen zu begünstigen, also eine interpersonelle Einkommensumverteilung durchzuführen. Im Rahmen der gesetzlichen Altersversicherung sollen die Einkommen zugunsten der älteren nicht mehr erwerbstätigen Personen und zu Lasten der erwerbstätigen Bevölkerung umverteilt werden. Im Rahmen des Familienlastenausgleichs geht es hingegen darum, diejenigen Erwerbstätigen, welche verheiratet sind und ein oder mehrere Kinder mit ernähren und aufziehen, zu begünstigen zu Lasten der ledigen Erwerbstätigen ohne Kinder.

 

Vor allem Wilfried Schreiber und andere haben aber darauf aufmerksam gemacht, dass bei einer solchen Betrachtung das eigentliche Problem der Altersvorsorge sowie des Familienlastenausgleichs verdeckt wird. In Wirklichkeit gehe es bei beiden Einrichtungen in erster Linie nicht um ein Problem der interpersonellen Einkommensumverteilung, sondern der intertemporären, also zeitlichen Einkommensumschichtung des Lebenseinkommens. Es gehe nicht primär darum, einzelne, besonders hart vom sozialen Risiko Betroffene auf Kosten anderer, nicht so stark Betroffenen zu entlasten, sondern das Lebenseinkommen eines jeden so umzuschichten, dass es über das gesamte Leben eines Menschen den höchstmöglichen Nutzen stiften kann.

 

Sowohl während der Jugend- wie auch Rentnerzeit verfügt der einzelne über keine regulären Arbeitseinkommen. Es ist deshalb notwendig, das Einkommen während der Erwerbszeit so umzuschichten, dass der einzelne auch während seiner Jugend- und auch während seiner Rentnerzeit über reguläre Einkünfte verfügt. Über Kredite oder auf anderem Wege muss deshalb ein Teil des späteren Erwerbseinkommens bereits für die Jugendzeit zur Verfügung gestellt werden. Umgekehrt ist es notwendig, Teile des Erwerbseinkommens zu sparen, um dann im Alter über diese Ersparnisse verfügen zu können. Dieser Zusammenhang gilt auch dann, wenn gesamtwirtschaftlich gesehen dieser Einkommenstransfer auf anderem Wege als über Kreditgewährungen und Spar- bzw. Entsparprozesse erfolgt.

 

Diese Überlegungen lassen sich im Rahmen der Haushaltstheorie vertiefen. Es gilt das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen des Einkommens, nach dem der Nutzenzuwachs bei wachsendem Einkommen zurückgeht. Ist nun das gesamte Lebenseinkommen auf die einzelnen Lebensphasen unterschiedlich aufgeteilt, kann durch Umschichtung von den Phasen eines überdurchschnittlich hohen Einkommens auf die Phasen mit unterdurchschnittlichem Einkommen der Gesamtnutzen des Lebenseinkommens erhöht werden. Aufgrund des Gesetzes vom abnehmenden Grenznutzen des Einkommens ist nämlich der Nutzenentgang in Zeiten hoher Einkommensbezüge mit dem Zurücklegen von Einkommensteilen geringer als der Nutzenzuwachs in Zeiten geringer Einkommensbezüge, der dadurch erreicht wird, dass auf diese Ersparnisse zurückgegriffen wird. 

 

Da während der Kindheit überhaupt kein Erwerbseinkommen erworben wird, ist es notwendig und Nutzen mehrend, wenn für die Kinder und Jugendlichen ein Kredit auf das spätere Erwerbseinkommen aufgenommen wird. In gleicher Weise gilt, dass auch ab einem bestimmten Alter der Einzelne aus dem Erwerbsleben austritt, deshalb ab dieser Zeit zumindest kein Erwerbseinkommen aus Arbeit mehr beziehen kann. Werden also während der Erwerbszeit für den einzelnen Erwerbstätigen Einkommensteile gespart, um dann im Alter von diesen Ersparnissen zu leben, so gilt auch hier wiederum, dass die Nutzenentgänge durch das Sparen geringer sind als die Nutzenzuwächse beim Entsparen im Alter.

 

Stillschweigend wurde hierbei unterstellt, dass der Verlauf der Grenznutzenkurve nicht selbst vom Lebensalter abhängt. Diese Annahme entspricht natürlich nicht der Wirklichkeit. Berücksichtigt man die Abhängigkeit des Verlaufs der Grenznutzenkurve vom Lebensalter, werden die zugrunde liegenden Prozesse zwar etwas komplizierter, ohne dass jedoch der eigentliche hier geschilderte Zusammenhang verloren geht. Nach wie vor gilt, dass der durch Sparen verursachte Nutzenverlust in der Gegenwart dann geringer ist, wenn die Ersparnisse in zukünftigen Zeiten mit geringerem Einkommen verbraucht werden.

 

Wenn also auch das eigentliche Hauptproblem bei der Altersvorsorge und beim Familienlastenausgleich nicht in der interpersonellen Einkommensumverteilung, sondern in der intertemporären Einkommensumschichtung des Lebenseinkommens besteht, sind trotzdem im Rahmen dieser Einrichtungen sekundär gewisse Formen auch der interpersonellen Einkommensumverteilung angesprochen.

 

Für die Altersversicherung gilt, dass sich der Beitragssatz an der durchschnittlichen Lebenserwartung der Rentner ausrichtet. Da jedoch die tatsächliche Lebensdauer der einzelnen Individuen sehr unterschiedlich ist, wird es immer Personen geben, welche wegen eines besonders langen Lebens mehr an Rente erhalten als dass sie in Form von Beiträgen eingezahlt haben. Dies gilt übrigens auch für erwerbswirtschaftlich orientierte Versicherungen, da die tatsächliche Lebensdauer des Versicherten bei Eintritt in die Versicherung nicht bekannt ist. Auch gibt es vereinzelt Individuen, welche bereits während ihrer Erwerbszeit versterben und deshalb überhaupt nicht in den Genuss einer Altersrente gelangen.

 

Ähnliches gilt für den Familienlastenausgleich. Auch hier muss davon ausgegangen werden, dass einzelne Jugendliche gar nicht das Erwerbsalter erreichen oder wegen lang anhaltender Arbeitslosigkeit kein ausreichendes Erwerbseinkommen beziehen und aus diesen Gründen die während der Kindheit erhaltenen Kredite später nicht zurückzahlen können. Auch unterscheidet sich das Eintrittsalter ins Erwerbsleben der einzelnen Jugendlichen, sodass für Kinder und Jugendliche in einem unterschiedlich langen Zeitraum Zuwendungen gezahlt werden müssen.

 

In einer Hinsicht unterscheidet sich allerdings das Problem des Familienlastenausgleichs von dem der Altersvorsorge. Die Altersvorsorge lässt sich grundsätzlich erwerbswirtschaftlich organisieren. Im Zeitpunkt der ersten Rentenzahlung sind die Beitragszahlungen abgeschlossen und es ist bekannt, welche Ansprüche der einzelne Rentner haben wird. Im Gegensatz hierzu ist unbekannt, welches Einkommen ein Jugendlicher in seinem späteren Erwerbsleben erreichen wird. Deshalb fehlen einer privatwirtschaftlichen Kreditinstitution auch die Sicherheiten für die Gewährung eines Kredites, der dann im Erwerbsleben zurückgezahlt werden wird. Vor allem kann aus diesen Gründen die Höhe des Kindergeldes nicht danach gestaffelt werden, welches Einkommen der einzelne in seinem späteren Erwerbsleben erreichen wird und in welchem Umfang somit der Betreffende in der Lage sein wird, diese Kredite zurückzuzahlen.

 

Unabhängig hiervon wäre es auch in hohem Maße unerwünscht, wenn sich die Höhe des Kindergeldes nicht am Einkommen der Eltern, sondern am erwarteten zukünftigen Einkommen des Jugendlichen ausrichten würde. Es lässt sich sicherlich weder realisieren noch vertreten, dass den Kindern ein höherer (oder auch niedrigerer) Lebensstandard eingeräumt wird als den Eltern, was nicht unbedingt bedeutet, dass die Höhe eines vom Staat gewährten Kindergeldes an die Einkommenshöhe der jeweiligen Eltern angepasst werden sollte. Ein Familienlastenausgleich wird sich deshalb immer nur im Rahmen einer bürokratischen Lösung einrichten lassen, zumindest muss der Staat durch Gewährung von Bürgschaften die fehlende Kreditwürdigkeit der Jugendlichen ersetzen.

 

 

3. Schutz gegenüber Risiken u. Absicherung gegenüber materielle Risikofolgen

 

Im Hinblick auf die verschiedenen Risikotatbestände haben wir zwischen der Bekämpfung der Risiken als solchen und dem Schutz gegenüber den materiellen Risikenfolgen zu unterscheiden. Da die Risiken im Allgemeinen als etwas Negatives angesehen werden, kommt es natürlich in erster Linie darauf an, dafür Sorge zu tragen, dass das Ausmaß der Risiken soweit wie immer möglich reduziert wird. Es gilt also in erster Linie das Auftreten dieser Risiken als solches zu bekämpfen.

 

Primäres Ziel der Einrichtungen der sozialen Sicherheit war jedoch – zumindest in der Vergangenheit – keineswegs die Bekämpfung der sozialen Risiken. Man ging in diesen Einrichtungen vielmehr davon aus, dass die Risiken als solche weitgehend gegeben seien und dass die Versuche, den Umfang der Risiken selbst zu reduzieren, immer nur zu Teilerfolgen führen, sodass wir stets mit dem Auftreten dieser Risiken rechnen müssten und dass es deshalb darauf ankomme, dem einzelnen Betroffenen einen Schutz vor den materiellen Folgen der einzelnen Risikotatbeständen zu gewähren.

 

Im Rahmen der Einrichtungen der sozialen Sicherheit werden also zunächst nicht die Risiken als solche bekämpft, ihr Auftreten wird als gegeben und in gewissem Maße als unbeeinflussbar angesehen. Wenn man schon nicht in der Lage ist, die Risiken als solche zu beseitigen, so komme es darauf an, zumindest die materiellen Schäden, welche im Allgemeinen mit dem Auftreten der sozialen Risiken verbunden sind, für den einzelnen so gering zu halten wie nur möglich.

 

Das Auftreten sozialer Risiken kann den hiervon Betroffenen hohen materiellen Schaden verursachen. Nehmen wir den Fall des Krankheitsrisikos. Auf der einen Seite kann der Schwerkranke unter Umständen längere Zeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, er verliert also während dieser Zeit seine Erwerbseinkünfte. Auf der anderen Seite entstehen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Krankheit zahlreiche Kosten der Aufklärung der eigentlichen Ursachen sowie der Heilung der Krankheit. Ärzte müssen konsultiert werden, unter Umständen ist ein Krankenhausaufenthalt notwendig, um die Art der Krankheit festzustellen sowie Operationen durchzuführen. Weiterhin müssen Medikamente und andere Arzneimittel eingenommen werden.

 

Bringen wir als zweites Beispiel das Risiko der Arbeitslosigkeit. Auch hier besteht die wichtigste materielle Folge darin, dass der Arbeitslose während seiner Beschäftigungslosigkeit über kein reguläres Lohneinkommen verfügt und deshalb auf andere Einkünfte (z. B. auf ein Arbeitslosengeld) angewiesen ist. Gleichzeitig sind oftmals darüber hinaus Umschulungsmaßnahmen notwendig, um die Chance zu erhöhen, einen neuen Arbeitsplatz zu erhalten.

 

Oder aber der Arbeitslose kann wegen seines verminderten Einkommens nicht mehr allen finanziellen Verpflichtungen wie z. B. Zahlung der Miete oder Tilgung gewisser fällig gewordener Ratenzahlungen nachkommen und ist gezwungen, einen Konsumkredit in Anspruch zu nehmen, für den dann zusätzliche Zinsausgaben notwendig werden. Also entstehen auch im Zusammenhang mit dem Risiko der Arbeitslosigkeit ebenfalls zusätzliche Ausgaben, welche die materielle Lage des Arbeitslosen um ein weiteres verschlechtern.

 

Nehmen wir schließlich das Beispiel des Alterns. Auch dann, wenn wir durch bewusstes gesundheitsförderndes Verhalten in begrenztem Maße in der Lage sind, die Arbeitsfähigkeit zu verlängern, wird trotzdem immer davon auszugehen sein, dass die Arbeitsfähigkeit eines Tages – wenn auch etwas später als heutzutage – zu Ende geht.

 

Allerdings unterscheidet sich das Risiko des Alterns von allen anderen sozialen Risikotatbeständen. Während Krankheiten, Pflegebedürftigkeit, Unfälle am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit und Frühinvalidität als ein ausgesprochen negatives und unerwünschtes Ereignis angesehen werden, muss festgestellt werden, dass das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Alter nicht nur als etwas Negatives angesehen wird, dass sich der Einzelne unter Umständen auf einen erwerbsfreien Lebensabend freut und ihn herbeisehnt. Nur der Umstand, dass der Eintritt ins Rentnerdasein gleichzeitig damit verbunden ist, dass keine regulären Arbeitseinkommen mehr bezogen werden, wird negativ eingestuft.

 

Die Rechtfertigung dafür, dass man im Rahmen der Einrichtungen der sozialen Sicherheit zunächst darauf verzichtete, das Risiko als solches zu bekämpfen und das Hauptaugenmerk allein auf die Bekämpfung der materiellen Risikofolgen richtete, mag zwei Gründe haben. Zunächst einmal ging man oftmals davon aus, dass das Risiko als solches nicht ernsthaft bekämpft werden kann, dass es also vorgegeben ist und den einzelnen als Schicksalsschlag trifft, den er nicht wesentlich abwenden kann.

 

Dies war sicherlich die vorwiegende Auffassung der Politiker bei der Einführung dieser Einrichtung Ende des 19. Jahrhunderts. Wir werden sofort sehen, dass diese Auffassung heute sicherlich in dieser Rigorosität nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, weshalb lange Zeit die Bekämpfung der Risikoursachen im Rahmen der Einrichtungen der sozialen Sicherheit vernachlässigt wurde.

 

Auch dann, wenn man nämlich der Überzeugung ist, dass der Staat mit politischen Maßnahmen sehr wohl in der Lage ist, den Umfang der sozialen Risikotatbestände zu verringern, kann man der Auffassung sein, dass es sich bei der Bekämpfung der Risiken als solche und bei der Verminderung der materiellen Folgekosten der Risiken um zwei verschiedene Ziele handelt, die mit unterschiedlichen Mitteln und in unterschiedlichen Einrichtungen angegangen werden sollten. Andere Ursachen verlangen auch andere Methoden zur Verminderung des Schadens.

 

So ist es z. B. Aufgabe der medizinischen Wissenschaften, die Ursachen einer Krankheit zu erforschen und Möglichkeiten der Bekämpfung der Krankheiten wie z. B. die Entwicklung von Arzneimitteln sowie operativer Methoden zu eruieren. Die Aufgabe des Staates in diesem Zusammenhange besteht vor allem darin, Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um Hochschulen zu errichten, in denen angehende Ärzte ausgebildet werden und Forschungsstätten aufzubauen, in denen die Ursachen der verschiedenen Krankheiten untersucht werden können. Schließlich bedarf es zahlreicher Kontrolleinrichtungen, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung möglichst wenig Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt ist.

 

Trotz dieser Unterschiede in den Ursachen der Risiken als solche und der Bekämpfung der materiellen Folgen der einzelnen Risikotatbeständen, gibt es doch gute Gründe dafür, dass auch in den Einrichtungen der sozialen Sicherheit die hier entstehenden Ausgaben in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Bekämpfung der Ursachen stehen und dass es deshalb zweckmäßig und notwendig sein kann, die Ausgaben der Einrichtungen der sozialen Sicherheit auch dadurch in den Griff zu bekommen und zu vermindern, dass man die sozialen Risiken als solche auch in diesen Einrichtungen bekämpft.

 

Nehmen wir das Beispiel des Krankheitsrisikos. Die Häufigkeit und Schwere bei einem Krankheitsausbruch hängt entscheidend vom Verhalten der einzelnen Versicherten ab. So kann z. B. durch Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen oftmals der Ausbruch einer Krankheit entweder verhindert werden oder aber es kann doch zumindest dazu beigetragen werden, dass der Verlauf der Krankheit schneller und mit wesentlich geringeren materiellen Kosten erfolgt und bekämpft werden kann.

 

Weiterhin hängen die Erfolgsaussichten bei der Bekämpfung bereits ausgebrochener Krankheiten wesentlich davon ab, wie schnell der Patient nach Ausbruch der Krankheit einen Arzt aufsucht, inwieweit er den Verhaltensvorschriften des Arztes Folge leistet und z. B. die Medikamente in richtiger Dosierung und Zeitabfolge einnimmt oder alle Verhaltensweisen, welche den Behandlungserfolg in Frage stellen, möglichst vermeidet.

 

Wie hoch die Ausgaben einer Krankenversicherung oder eines Versorgungswerkes im Einzelnen sind, hängt also ganz entscheidend vom Verhalten der Versicherten ab. Nun wird man zwar davon ausgehen können, dass es im wohl verstandenen Interesse des jeweiligen Kranken liegt, sich so zu verhalten, dass der Gesundungsprozess unterstützt wird. Trotzdem müssen wir davon ausgehen, dass das Einhalten der ärztlichen Vorschriften (Empfehlungen) oftmals kurzfristig sehr lästig und auch bisweilen schmerzhaft sein kann und dass darüber hinaus aufgrund einer gewissen Sorglosigkeit und Ahnungslosigkeit sehr oft gegen diese ärztlichen Empfehlungen verstoßen wird, also ein Verhalten praktiziert wird, das den Gesundungsprozess hinauszögert und gerade auf diese Weise auch dazu beiträgt, die mit der Bekämpfung der Krankheit verbundenen Kosten zu erhöhen.

 

Es ist deshalb durchaus notwendig und erwünscht, dass durch die Einrichtungen der Sozialen Sicherheit zusätzliche, vor allem finanzielle, Anreize gesetzt werden, um sicherzustellen, dass sich der Kranke stets so verhält, dass der Gesundungsprozess unterstützt wird. So könnte eine Krankenversicherung durch Gewährung von Prämien oder Beitragsreduzierung Wohlverhalten materiell belohnen. So haben z. B. in der Vergangenheit einige private Krankenversicherungen Beitragsreduzierungen für den Fall gewährt, dass Versicherte auf das Rauchen verzichten.

 

Allerdings ist es umstritten, ob starkes Rauchen einzelner Versicherten die Krankenkasse tatsächlich langfristig zusätzliche Kosten verursacht. Zwar entstehen den Krankenkassen sicherlich in diesem Zusammenhange zunächst zusätzliche Kosten, da die Wahrscheinlichkeit z. B. an Lungenkrebs zu erkranken ansteigt und auf diesem Wege auch kostenintensive Heilungsmethoden notwendig werden. Aufgrund starken Rauchens sinkt jedoch auch die Lebenserwartung. Da die für die einzelnen Mitglieder notwendigen Krankheitsausgaben jedoch mit zunehmendem Alter stark ansteigen, ist es fraglich, ob starkes Rauchen über den gesamten Lebenszyklus eines Rauchers hinweg die Krankenkasse per Saldo belastet. Diese Erkenntnis sagt natürlich nichts darüber aus, wie das Rauchen als solches einzuschätzen ist.

 

Oder aber in zahlreichen – auch gesetzlichen Krankenkassen – werden Beitragskürzungen für den Fall vorgesehen, dass sich der Versicherte regelmäßigen periodischen Untersuchungen beim Zahnarzt unterzieht. Gerade beim Zahnersatz ist der Zusammenhang zwischen Vorsorgeuntersuchungen und Kosten für Zahnersatz evident.

 

Wenn es also erwünscht ist, durch Verhaltensanreize den Verlauf des Krankheitsrisikos zu beeinflussen, ist es auch notwendig, im Rahmen einer Theorie des sozialen Risikos die eigentlichen Ursachen der sozialen Risiken zu erforschen und aufzuzeigen, inwieweit der Umfang der Risiken und damit die Ausgabenhöhe der Sicherungseinrichtungen davon abhängt, wie sich die Versicherten verhalten.

 

Bei unseren bisherigen Überlegungen gingen wir im Allgemeinen stillschweigend davon aus, dass das Entstehen eines sozialen Risikotatbestandes auf jeden Fall als etwas negatives angesehen wird, das auf jeden Fall bekämpft werden sollte und bei dem jede Reduzierung des Risikotatbestandes als etwas positives wohlfahrtssteigerndes angesehen werden kann.

 

Diese Einschätzung gilt sicherlich fast immer im Hinblick auf die Risikotatbestände der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit, des Unfalls, der Frühinvalidität und der Arbeitslosigkeit. Wie steht es aber mit dem Risiko des Alters? Hier hatten wir schon darauf hingewiesen, dass sich das Altersrisiko von den anderen Risikotatbeständen erheblich unterscheidet. Gehen wir auf diese Unterschiede etwas ausführlicher ein. Wir haben hier zwei Aspekte zu unterscheiden.

 

Dass das Altern zu einem Tatbestand eines sozialen Risikos gezählt wird, hängt zunächst damit zusammen, dass mit dem Alter die Erwerbsfähigkeit nachlässt, sodass ein Arbeitnehmer von einem bestimmten Alter ab gar nicht mehr erwerbstätig sein kann und deshalb notwendigerweise sonstiger Einkünfte (einer Rente) bedarf, zumindest dann, wenn wir nicht unterstellen können, dass die Masse der Arbeitnehmer soviel Eigenvermögen besitzt, dass die Arbeitnehmer über Vermögenserträge verfügen, die ausreichen, ein normales Leben auch ohne Erwerbsarbeit zu führen.

 

In diesem Sinne ist es sicherlich auf jeden Fall erwünscht, diesen Alterungsprozess soweit wie möglich in dem Sinne zu verlangsamen, dass der Prozess eines Verlustes der Erwerbsfähigkeit verzögert wird. Damit ist jedoch noch keinesfalls gesagt, dass es auch erwünscht ist, in jedem Falle den Ruhestand soweit wie möglich hinauszuzögern. Einen erwerbsfreien Lebensabend genießen zu können wird in der Regel von den Menschen als etwas Positives angesehen, das durchaus einen Eigenwert besitzt.

 

Die Ausgaben einer Rentenversicherung könnten natürlich dadurch reduziert werden, dass das Alter der Verrentung heraufgesetzt wird, dass also die Arbeitnehmer im Durchschnitt später aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Aus der Sicht des einzelnen Arbeitnehmers mag jedoch eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters unter Umständen einen Wohlfahrtsverlust bedeuten. Es mag zwar immer erwünscht sein, dass die Entscheidung, aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, nicht dadurch erzwungen wird, dass der einzelne ab einem bestimmten Alter gar nicht mehr aus juristischen Gründen erwerbsfähig sein kann. Diese Entscheidung sollte eigentlich – soweit wie immer möglich – freiwillig erfolgen.

 

Dies bedeutet allerdings auch nicht, dass es in jedem Falle erwünscht wäre, dass die Arbeitnehmer so früh wie möglich aus dem Erwerbsleben ausscheiden und dass jede Verlängerung des Rentnerdaseins einen Wohlfahrtsgewinn darstellt. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass diese Frage von den einzelnen Arbeitnehmern unterschiedlich beantwortet wird.

 

Für den einen mag die Erwerbstätigkeit als solche fast nur mit Arbeitsleid verbunden sein, das zwar eine gewisse Zeit in Kauf genommen werden muss, um über ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu verfügen, das aber als solches unerwünscht ist. Für einen anderen mag jedoch in der Ausübung eines Berufes etwas Positives liegen, ja sogar einen Hauptteil seines Lebenszweckes darstellen. Für einen solchen Arbeitnehmer wird dann der Tatbestand, dass er ab einem bestimmten Alter gegen seinen Willen in den Ruhestand treten muss, als etwas Negatives angesehen und nur dann freiwillig akzeptiert, wenn die Erwerbsfähigkeit mit dem Alter nachlässt und ab einem bestimmten Alter gar nicht mehr gegeben ist.

 

Fortsetzung folgt!